Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde er 1914 Militärarzt. In seiner Tätigkeit konnte er Erfahrungen mit Hirnverletzungen sammeln und später die Funktionen in der Großhirnrinde zuordnen (Gehirnpathologie, 1934). Kleist wurde 1916 Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Rostock und wurde dort zum ordentlichen Professor berufen sowie gleichzeitig Direktor der Heil- und Pflegeanstalt in Gehlsdorf (Rostock). 1920 wechselte er als o. Professor an die neue Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo er ebenfalls als Direktor die Nervenklinik der Stadt und Universität leitete. Zu seinen Schülern zählte Alice Rosenstein. Am 21. April 1941 beantragte er die Aufnahme in die NSDAP und wurde rückwirkend zum 1. Juli 1940 aufgenommen (Mitgliedsnummer 8.140.375),[3] 1942 wurde er Mitglied des NS-Ärztebundes. Nach 1933 arbeitete er als Gutachter für Erbgesundheitsgerichte, was für die Begutachteten eine Meldung zur Sterilisierung[4] zur Folge haben konnte. Von 1936 bis 1941 war er Mitglied im Kuratorium der Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung.[5] Im Zweiten Weltkrieg war er Oberstarzt und Beratender Militärpsychiater im Wehrkreis IX in Frankfurt.[6] Kleist wurde 1950 emeritiert, blieb aber bis 1960 Leiter der Frankfurter Forschungsstelle für Gehirnpathologie und Psychopathologie und war weiterhin wissenschaftlich tätig.
Wirken
Kleist stand in der Tradition von Carl Wernicke, dessen neurologische und psychiatrische Schule er gemeinsam mit Karl Leonhard weiter führte. Eingehende Arbeiten zur Klassifikation der psychischen Erkrankungen, Hirnpathologie und endogenen Psychosen. Kleist prägte den Begriff Zykloide Psychosen. Seine Hauptpublikation ist auf dem Gebiet der Neurologie: Lokalisation von Funktion in der Hirnrinde des Menschen inklusive Hirnkarten in seinem klassischen Werk Gehirnpathologie (1934). Seine Lokalisationslehre des Gehirns gründet sich auf die Untersuchung einiger hundert Fälle von Schussverletzungen des Ersten Weltkriegs, deren Funktionsausfälle Kleist während der Lebenszeit der Patienten genauestens untersuchte und analysierte. Nach deren Tod, wenn sie in eine Autopsie eingewilligt hatten, untersuchte er die Gehirne makroskopisch und mikroskopisch (Zytoarchitektonik). Auf diese Weise konnte er einen Zusammenhang zwischen Hirnläsion und Funktionsausfall herstellen. So entstanden Hirnkarten mit detaillierter, wenn auch nicht unbedingt korrekter, Lokalisation der Funktion. Der Begriff der Koinopsyche geht auf Kleist zurück.
Die klinische Stellung der Motilitätspsychosen. (Vortrag auf der Versammlung des Vereins bayrischer Psychiater, München 6.–7. Juni 1911). In: Z Gesamte Neurol Psychiat Referate 1911, 3, S. 914–977
Über zykloide Degenerationspsychosen, besonders Verwirrtheits- und Motilitätspsychosen. In: Arch Psychiat 1926, 78, S. 100–115.
Über zykloide, paranoide und epileptoide Psychosen und über die Frage der Degenerationspsychosen. Schweiz. Arch. Neurol. Psychiat. 23 (1928), S. 3–37.
Gehirnpathologie. Johann Ambrosius Barth-Verlag, Leipzig 1934.
Kriegsverletzungen des Gehirns in ihrer Bedeutung für die Hirnlokalisation und Hirnpathologie. Johann Ambrosius Barth-Verlag, Leipzig 1934.
Die Gliederung der neuropsychischen Erkrankungen. Monatsschr. Psychiat. Neurol. 125 (1925), S. 526–554.
J. Angst, A. Marneros: Bipolarity from ancient to modern times: conception, birth and rebirth. Journal of affective disorders 67 (2001), S. 3–19, ISSN0165-0327. PMID 11869749. (Review).
K. J. Neumärker, A. J. Bartsch: Karl Kleist (1879–1960) – a pioneer of neuropsychiatry. History of Psychiatry 14 (2003), S. 411–458, ISSN0957-154X. PMID 14740633.
H. Steinberg: Karl Kleist and his refusal of an appointment at Leipzig in 1923. History of psychiatry 16 (2005), S. 333–343, ISSN0957-154X. PMID 16193628.
Benjamin Kuntz / Harro Jenss: Karl Kleist. In: dies.: Frankfurter Charakterköpfe. Die Scherenschnitte der Rose Hölscher in 39 Biographien. Hentrich & Hentrich, Berlin 2023, ISBN 978-3-95565-485-6, S. 114–117.
↑Dissertation: Veränderungen der Spinalganglienzellen nach Durchschneidung der peripheren Nerven und der hinteren Wurzeln.
↑Habilitationsschrift: Weitere Untersuchungen an Geisteskranken mit psychomotorischen Störungen. Die hyperkinetischen Erscheinungen; die Denkstörungen, hypochondrischen und affektiven Störungen bei akinetischen und hyperkinetischen Kranken.
↑Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945? Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt/M. 2011, ISBN 978-3-596-16048-8.