Die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf (kurz WAA oder WAW) in Wackersdorf im bayerischenLandkreis Schwandorf in der Oberpfalz sollte die zentrale Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) für abgebrannte Brennstäbe aus Kernreaktoren in Deutschland werden. Der aus Steuermitteln finanzierte Bau, begonnen 1985, wurde von massiven Protesten von Teilen der Bevölkerung begleitet und 1989 eingestellt. Er gilt als eines der umstrittensten Bauprojekte in der Geschichte der Bundesrepublik. Das WAA-Baugelände wurde danach zum Gewerbegebiet Innovationspark Wackersdorf umgestaltet.
Auf dem Gelände waren neben der eigentlichen Wiederaufarbeitungsanlage große Lagerhallen für den Atommüll sowie eine MOX-Brennelementefabrik geplant.[3][4]
Brennelement-Eingangslager[1] (⊙49.32228312.231343): Baubeginn im März 1987; das Gebäude – es ist eines von zwei Gebäuden, die noch von der WAA Wackersdorf übrig geblieben sind – wird von BMW seit 1990 als „Halle 80.0“ zur Lagerung von Material genutzt.[2] Die 50 Millionen Mark teure[6]Eingangshalle für Brennstäbe bzw. das Brennelemente-Eingangslager ist ein lang gestreckter Bau mit grünem Dach, mit einer eigenen Lüftung und Gleisanschluss – das Gebäude ist gegen Flugzeugabstürze und Erdbeben gesichert. Ursprünglich sollten hier die Brennstäbe in ihren Transportbehältern zwischengelagert werden – ein Teil des Rechtsstreites um die WAA drehte sich um die Frage, ob eine atomrechtliche Genehmigung für das Eingangslager notwendig ist.[7] 2015 wurde vom Landkreis Schwandorf vor dem Gebäude eine Gedenktafel bzw. ein Infostandbild errichtet.[8]
Infrastrukturversorgung einschließlich des Brennelementeingangslagers
Anlagenwache und Anlagenzaun (Fertigstellung an Ostern 1986). Der 4,8 km lange, dunkelgrüne Sicherungszaun aus Stahl war drei Meter hoch und hatte eine Krone aus NATO-Draht. Nach dem Ende der WAA wurde er zerlegt und verkauft.[9] Im Bayerischen Polizeimuseum sind Teile des Zauns ausgestellt.[10] Der Zaun kostete 11 Millionen DM, der Betongraben davor 15 Millionen, weitere Sicherheitsanlagen wie Scheinwerfer und die Straße für den Sicherheitsdienst weitere 4 Millionen Mark.[7]
Haupt- bzw. Zentralwerkstatt, Servicebereich mit „heißer“ und „warmer“ Werkstatt, Zuluftanlage
Nebenprozessgebäude mit den Abfall-Lagern und dem Kamingebäude Bestimmte radioaktive Stoffe (Tritium, Strontium, Caesium, Krypton, Kohlenstoff, Ruthenium u. a.) sollten in begrenzten Mengen über Abwasser und Abluft an die Umwelt abgegeben werden.[11] Ein 200 Meter hoher Abluft-Kamin sollte radioaktiven Feinstaub weitläufig verteilen[12] und das Abwasser über eine 15 km lange Leitung in den Vorfluter Naab entsorgt werden.[13]
Prozessgebäude Uranreinigung
Prozessgebäude LAW (LAW: Low Active Waste; leicht radioaktiv)
Pufferlager MAW-Endabfallgebinde (MAW: Medium Active Waste; mittel radioaktiv)
Pufferlager LAW-Endabfallgebinde
Pufferlager zementierte tritiumhaltige Wässer
Chemikalienlager
Verglasungsanlage Für die Verglasung des hochaktiven flüssigen Abfalls (HAWC, engl. high active waste concentrate) war ein einstufiger Prozess mit einem direktbeheizten und flüssiggespeisten keramischen Schmelzofen vorgesehen.
Modultransportkanäle
Fernhantierungsgerechte Modultechnik (FEMO-Technik) mit Video-Sichteinrichtungen
Brennelementefabrik mit Fertigungseinrichtungen für Mischoxidbrennlemente (MOX)
Bei der WAA Wackersdorf sollte durch bauliche Maßnahmen das Mehrbarrierenkonzept zum Einschluss radioaktiver Stoffe eingehalten und damit der erforderliche Grundwasserschutz gewährleistet werden. Flüssigkeitsundurchlässige Schichten im Untergrund hätten die Funktion einer zusätzlichen Sicherheitsbarriere gehabt.[14] Die WAA wurde nach den Richtlinien der Reaktor-Sicherheitskommission auf die Belastung durch einen einschlagenden Phantom-Jagdbomber ausgelegt – andere Militärmaschinen blieben unberücksichtigt.[15]
Die Wiederaufarbeitungsanlage wurde mit einem Tagesdurchsatz von 2 t Schwermetall geplant und erstmals wurde in einer kommerziellen WAA beabsichtigt, das in die wässrige Phase verschleppte Tritium auf einen relativ geringen Abwasserstrom zu konzentrieren, der gesondert behandelt werden kann.[16]
In der WAA Wackersdorf sollten jährlich maximal 500 Tonnen[17] abgebrannter Kernbrennstoff nach dem PUREX-Verfahren (vgl. WAA Sellafield) wiederaufbereitet werden. Geplant war die Wiederaufarbeitung und die Herstellung von MOX-Brennelementen (BE).[18] MOX-BE enthalten gegenüber den herkömmlichen Uran-Brennelementen bis zu 3,5 % Plutonium.[19] Prinzipiell hätte daher auch die Möglichkeit bestanden, waffenfähiges Plutonium, welches in entsprechend niedrig abgebrannten Brennstoff produziert werden kann, chemisch abzutrennen und für Bomben zu nutzen, und einige Parteien vermuteten einen „Schleichweg zum Atomwaffenstaat“.[20]
Die WAW Wackersdorf sollte zum einen Plutonium-Brennstoff für den Schnellen Brüter liefern und zum anderen aus den verbrauchten Brennstäben von Leichtwasserreaktoren noch verwendbares Uran und Plutonium mit Hilfe chemischer Prozesse herauslösen.
Dabei werden die abgebrannten Brennstäbe mit ferngelenkten Greifarmen in „Heißen Zellen“ hinter meterdicken Bleiglasscheiben zerkleinert. Die Bruchstücke fallen in einen „Auflöser“ und werden dort von kochender Salpetersäure zersetzt. Danach werden Plutonium und wiederverwendbares Uran aus der Säure herausgelöst (vgl. Flüssig-Flüssig-Extraktion). Übrig bleiben stark radioaktiv strahlende Schlacken, Flüssigkeiten, Metalle und Gase.[21] Es war vorgesehen, innerhalb der gesetzlich erlaubten Grenzwerte einige Substanzen über den Schornstein oder das Abwasser zu entsorgen, der Rest sollte in Glas eingeschlossen und in Endlagerstätten eingelagert werden. Die Abtrennung von minoren Actinoiden, von Spaltprodukten voneinander oder die Nutzung stabiler bzw. medizinisch oder industriell nutzbarer Isotope war nicht vorgesehen und ist auch Stand 2022 beim PUREX-Verfahren nicht Standard. Andere Verfahren der Wiederaufarbeitung wären dazu prinzipiell in der Lage, sind jedoch kaum oder gar nicht großtechnisch erprobt.
Geschichte
Standortentscheidung und Beginn des Widerstands
In den 1980er Jahren waren Atomanlagen einerseits durch die Debatte um Atomrüstung und andererseits durch die Reaktorunglücke von Harrisburg und später Tschernobyl sehr stark umstritten. Seit den frühen 1970ern wuchs die Anti-Atom-Bewegung, durch die auch der Erfolg der Grünen beflügelt wurde.
Die geplanten WAA-Standorte in Rheinland-Pfalz (Hambuch, Illerich), Hessen (Frankenberg-Wangershausen) und Niedersachsen (Gorleben) waren zuvor gescheitert.[22]
Die WAA-Standortentscheidung war u. a. auch die Geschichte eines Kleinkriegs zwischen den unionsregierten Bundesländern Bayern und Niedersachsen und Ministerpräsident Franz Josef Strauß und seinem Rivalen um die Kanzlerkandidatur für die Bundestagswahl 1980, Ernst Albrecht.[23] Nachdem Pläne zur Errichtung einer Wiederaufarbeitungsanlage in Dragahn in Niedersachsen gescheitert waren, erklärte Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß am 3. Dezember 1980 die Bereitschaft der bayerischen Landesregierung (Kabinett Strauß I), im Freistaat nach einem geeigneten Standort zu suchen.[24] Strauß versprach den Anlagebetreibern stabile politische Verhältnisse sowie Akzeptanz für das Projekt auf Seiten einer „industriegewohnten Bevölkerung“. Die Standortentscheidung für das stille Kiefernwäldchen in der Oberpfalz würde eine „rasche und ungestörte Realisierung des Projekts“ garantieren.[25]
Nachdem das oberpfälzische Wackersdorf in die Auswahl gekommen war, gründete sich am 9. Oktober 1981 eine Bürgerinitiative gegen die WAA.[26] Der Landrat Hans Schuierer war strikt gegen das Projekt.[27]
Am 7. Oktober 1981 wurde die „Bürgerinitiative Schwandorf“[28] gegründet und viele weitere folgten kurz darauf, die schließlich unter einem Dachverband geschlossen auftraten.[29] Die erste Anti-WAA-Demonstration fand im Dezember 1981 mit etwa 3000 Personen in der Oberpfalzhalle in Schwandorf statt, wo versammelte CSU-Politiker auf die konsequente Pro-WAA-Linie eingeschworen werden sollten.[30]
Die „Wackersdorf-Koalition“ war ein Protest aus der breiten gesellschaftlichen Mitte. Pfarrer und Mitglieder bürgerlicher Parteien waren vertreten, was den WAA-Befürwortern erschwerte, die Protestler zu diffamieren.[31]
Anders als im britischen Sellafield und im französischen La Hague liegt der Standort Wackersdorf im Binnenland und nicht an einer Küste, sodass insbesondere wegen der geplanten Entsorgung radioaktiver Abwässer in Naab/Donau/Schwarzes Meer, neben möglichen Störfällen, nicht nur die einheimischen Bürger Bedenken hatten.[15] Weitere Kritikpunkte der WAA-Gegner waren unter anderem die hohe Zahl der nach Inbetriebnahme der Anlage anfallenden Atommülltransporte sowie Gesundheitsgefährdungen durch die aus der WAA über einen über 200 m hohen Kamin austretende Abluft. Zudem argumentierten die Gegner, dass mit dem bei der Wiederaufarbeitung gewonnenen Plutonium grundsätzlich die Entwicklung von Atomwaffen ermöglicht werde.
Die WAA entwickelte sich zum dominierenden Thema der 10. Legislaturperiode unter dem Kabinett Strauß II. Erstmals beschäftigte die Thematik den Landtag am 13. Oktober 1983.[32] Da die Arbeitslosenquote in Wackersdorf nach dem Ende des Abbaus im Oberpfälzer Braunkohlerevier 1982 auf über 20 Prozent gestiegen war, hoffte die bayerische Staatsregierung, einen möglichen Widerstand mit dem Arbeitsplatzargument kontern zu können. Zudem befand sich der überwiegende Teil des 130 ha großen Baugeländes bereits im Besitz des Freistaats.
Entscheidung für Wackersdorf (1985)
Nachdem sich die Deutsche Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK) am 4. Februar 1985 definitiv für Wackersdorf als Standort entschieden hatte[33][34], demonstrierten am 16. Februar 1985 rund 35.000 Menschen bei eisigen Temperaturen auf dem Schwandorfer Marktplatz friedlich gegen die WAA.[35]
Am 24. September 1985 erteilte das bayerische Umweltministerium unter Alfred Dick (Kabinett Strauß II) die erste atomrechtliche Teilerrichtungsgenehmigung.[26] Geplant waren neben der eigentlichen Wiederaufarbeitungsanlage die Errichtung einer MOX-Brennelemente-Fabrik und Lagerhallen für den Atommüll. Die wasser- und baurechtliche Genehmigung wurde am 29. Oktober 1985 nicht durch das Landratsamt erteilt, sondern nach Inkrafttreten der Lex Schuierer von der Regierung der Oberpfalz im Wege des Selbsteintritts. Im Oktober 1985 verkaufte der Freistaat Bayern das WAA-Gelände (138 ha) für rund 3 Millionen DM an die DWK.[36] Im Oktober 1985 formierte sich in München ein Protestzug von 50.000 Menschen gegen das WAA-Projekt.[37] Die Bauarbeiten im Taxölderner Forst begannen im Dezember 1985.
Nachdem der Bayerische Verwaltungsgerichtshof am 10. Dezember 1985 die Rodung des Taxölderner Forstes genehmigt hatte, errichteten die Atomkraftgegner dort am 14. Dezember das erste Hüttendorf („Freie Oberpfalz“), in dem etwa 1000 Menschen bei klirrender Kälte übernachteten.[38] Dieses wurde zwei Tage später durch 3700 Polizisten geräumt; 869 Demonstranten wurden festgenommen.[26]
Am 21. Dezember stand das nächste Hüttendorf („Freie Republik Wackerland“ – so benannt in Anlehnung an die „Freie Republik Wendland“)[39] mit 158 Hütten,[40] Zelten und Baumhäusern. Nach dem eingehaltenen Weihnachtsfrieden[41] räumten am 7. Januar 1986 2000 Polizisten das Hüttendorf.[42] Bei der Räumung, die bis in die Nacht andauerte, wurden über 1000 Menschen zur erkennungsdienstlichen Erfassung festgenommen.[43]
Die Situation eskalierte immer stärker; die Rechte der Anwohner der umliegenden Gemeinden, die die Atomkraftgegner unterstützten, wurden eingeschränkt. Die Polizei beklagte die wachsende Solidarisierung der Einheimischen mit den auswärtigen Atomkraftgegnern.[26] Die Worte „Besetzung“ und „Bürgerkrieg“[44] wurden zur Schilderung der Situation in der Presse populär, zumal das Ende der 1970er Jahre erschienene Buch Der Atomstaat von Robert Jungk eine solche Entwicklung prognostiziert hatte. Von 1985 bis 1989 gehörten Demonstrationsverbote, Hausdurchsuchungen, Umstellen von Dörfern,[45] Verhaftungen sowie der Einsatz großer Polizeiverbände aus dem gesamten Bundesgebiet und des Bundesgrenzschutzes zur politischen Szenerie in der Region.
Im August 1987 lehnte der Bayerische Verfassungsgerichtshof den Antrag von 40.000 Kernkraftgegnern für ein Volksbegehren gegen den Bau der WAA Wackersdorf ab.[46]
Demonstrationen und Ausschreitungen
An der Ostermontags-Demonstration am 31. März 1986 nahmen erstmals über 100.000 Menschen teil.[47] Bei Ausschreitungen am sogenannten „Chaoten-Eck“[48] im Laufe der österlichen Demonstrationen kam es auch zum bundesweit ersten Einsatz von CS-Gas gegen Demonstranten.[49] Der Tod des 38-jährigen Ingenieurs und Demonstrationsteilnehmers Alois Sonnleitner am 31. März 1986 nach einem Asthmaanfall wurde mit diesem CS-Gas-Einsatz in Verbindung gebracht.[26][49] Auch „friedliche Leute“ solidarisierten sich danach mit gewalttätigen Autonomen und unterstützten sie.[50]
Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ab dem 26. April 1986 verstärkte sich der Protest gegen die WAA. Deren Baugelände war für 15 Millionen Mark[33] durch einen 4,8 km langen stählernen Bauzaun gesichert worden.[26] Der „Zaun war sehr politisch aufgeladen“ und viele Demonstranten versuchten ihn mit Eisensägen zu durchlöchern.[51]
Bei den Demonstrationen an Pfingsten („Pfingstschlacht“[52] von Wackersdorf im Mai 1986) eskalierte die Gewalt auf dem Baugelände, als Autonome (es war von mindestens tausend »reisende[n] Intensivtäter[n]« die Rede) die Polizisten mit Steinen und Stahlkugeln („Wackersdorf-Tango“[53]) beschossen[54] und Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes Reizstoffwurfkörper (CS-Gas-Kartuschen) in die Menge warfen.[55][56] Demonstranten zündeten zwei Polizeifahrzeuge an.[57] 44 Wasserwerfer aus dem gesamten Bundesgebiet waren im Einsatz und spritzten mit Reizstoff vermengtes Wasser.[58]
Insgesamt wurden an den Pfingstfeiertagen auf beiden Seiten über 400 Menschen[59] verletzt.
Nach diesen Ereignissen wurde im Mai 1986 der verantwortliche Einsatzleiter,[60] der Polizeipräsident für Niederbayern/Oberpfalz, Hermann Friker, abgelöst und durch Wilhelm Fenzl ersetzt. Die bayerische Staatsregierung warf Friker „halbherziges“[26] und „liberales“ Vorgehen vor.[61]Günter Schröder (Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei) äußerte die Befürchtung, im Kampf um Wackersdorf werde das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Polizei ramponieren.[62] Über 100 Beamte schieden nach der „Pfingstschlacht“ freiwillig aus dem Polizeidienst aus.[63]
In Bayern führte die Nichtausstrahlung einer Folge der Kabarettsendung Scheibenwischer am 22. Mai wegen Anspielungen auf die negativen Folgen von Atomenergie zu einer weiteren Verschärfung. Bei vielen Aktivisten verfestigte sich die Meinung, dass der Bayerische Rundfunk von der Landesregierung als politisches Instrument gegen die Protestierenden benutzt würde und Zensur betreibe.[64]
Am 7. Juni 1986 kam es bei einer Demonstration am Bauzaun erneut zu schweren Auseinandersetzungen zwischen 30.000 Demonstranten und 3.000 eingesetzten Polizisten. Etwa 400 Personen wurden verletzt, mindestens 50 mussten ärztlich versorgt werden. Die Polizei nahm 48 Demonstranten fest. Am 29. Juni verweigerte die bayerische Regierung aus Österreich anreisenden WAA-Gegnern den Grenzübertritt.[65]
Am 7. September 1986 kam es zu einem Unfall: Ein Zug der Bundesbahn rammte an der Bahnstrecke Schwandorf–Cham einen Polizeihubschrauber, der gerade drei Polizisten aufnahm und in einem Meter Höhe über den Gleisen schwebte. Seine fünf Insassen wurden zum Teil schwer verletzt; ein 31-jähriger Kriminalhauptmeister starb zwei Wochen später.[66]
Im Zuge der Auseinandersetzungen um die WAA Wackersdorf wurde das Amtsgericht Schwandorf „terroristensicher“ aus- und umgebaut.[67] Das nahegelegene Sulzbach-Rosenberg wurde zum Standort der Bayerischen Bereitschaftspolizei. Allein für das Jahr 1986 erhöhten sich im bayerischen Staatshaushalt die Ausgaben für überörtliche Polizeieinsätze von geplanten 2,5 Millionen auf 50,7 Millionen DM. Das bayerische Polizeigesetz wurde 1988 so geändert, dass Demonstranten bis zu 14 Tage in Gewahrsam genommen werden können (Lex Wackersdorf).[68] Auch die Fernsehsendung XY ungelöst wurde im September 1986 bemüht, um fünf Steinewerfern der Pfingstdemonstration vom 19. Juni 1986 auch mit Hilfe von jeweils 10.000 DM Belohnung habhaft zu werden.[69][26] Sogar der Einsatz von Bundeswehrsoldaten am WAA-Bauzaun wurde vorbereitet, obwohl das Grundgesetz es verbot.[70]
Bayerns neuer Innenstaatssekretär Peter Gauweiler forderte von den WAA-Gegnern „Distanz zu Gewalttätern und nicht zur Polizei“ und der Polizei Informationen zu geben, „wie es eigentlich selbstverständlich sein sollte“.[71]
Zu einer lautstarken Demonstration kam es am 29. September 1986, als Franz Josef Strauß zu einer Wahlkampf-Rede im Schwandorfer Sepp-Simon-Stadion auftrat und sich mehrere Hundert Kernkraftgegner durch ein Pfeif- und Brüllkonzert im und außerhalb des Stadions bemerkbar machten. Strauß wurde vom größten Polizeiaufgebot gesichert, das je eine Wahlkundgebung in Bayern schützte.[72]
Im Oktober 1986 spielte die Initiative Klassische Musiker gegen die WAA Haydns Oratorium Die Schöpfung. Das Konzert der 150 Musiker fand vor ca. 2000 Besuchern in der evangelischen Dreieinigkeitskirche in Regensburg statt. Luise Rinser verfasste dazu einführende Worte über „Haydns Schöpfung gegen die WAA“.[73]
In Salzburg fanden 1986 Anti-WAA-Demonstrationen am Rande der Salzburger Festspiele statt.[74] 1986 entstand auch eine „Anti-Atom-Partnerschaft“ zwischen Salzburg und Schwandorf,[75] die am 18. November 1986 (auf Weisung der Staatsregierung) vom Kreistag Schwandorf wieder beendet wurde.[76]
In Wien fand 1987 die erste Opernballdemo aus Protest gegen die geplante WAA und gegen den Opernball-Besuch von Franz Josef Strauß statt.[77] Bei der Kundgebung am 26. Januar sollte symbolisch ein Wackersdorfzaun aufgestellt werden; die Polizei verbot ihn aber und transportierte ihn ab.[78]
Am 10. Oktober 1987 sorgte der massive Einsatz der Berliner Einheit für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training für Schlagzeilen. Die Polizisten gingen mit einer noch nie dagewesenen Brutalität auch auf friedliche Demonstranten los. Von „Knüppelorgien“ und „Hetzjagden gegen friedliche Demonstranten“ war die Rede. Zahlreiche Protestierer wurden dabei zum Teil schwer verletzt.[79] Der Regensburger Polizeipräsident Wilhelm Fenzl, der zuvor mühsam versucht hatte, mit WAA-Gegnern ins Gespräch zu kommen, bat die Staatsanwaltschaft umgehend, Ermittlungen gegen die gewalttätigen Polizeibeamten aufzunehmen.[80]
Am 1. Oktober 1988 demonstrierten ca. 600 Ärzte aus Deutschland und Österreich. Sie marschierten teils in ihrer weißen Dienstkleidung vom Wackersdorfer Marktplatz zum WAA-Gelände. Der teilnehmende Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter nannte die WAA ein Symbol technokratischerHybris.[81]
Am 26. und 27. Juli 1986 traten zahlreiche Musikstars auf einer Protestveranstaltung, dem Anti-WAAhnsinns-Festival in Burglengenfeld auf. Das bis dahin größte Rockkonzert der deutschen Geschichte mit über 100.000 Besuchern (auch „deutsches Woodstock“ genannt) markierte den Höhepunkt der Bürgerproteste gegen die WAA.
Weitere Entwicklungen
Bundesweit formierte sich Protest unter dem Slogan „Stoppt den WAAhnsinn“, hervorgebracht sowohl von Umweltschutzorganisationen, Bürgerinitiativen und Wissenschaftlern als auch von Politikern.[82]
Der Konflikt mit Österreich entstand 1986 zwischen Bayern und Österreich aufgrund der Einreiseverbote für österreichische Staatsbürger, die gegen die WAA demonstrieren wollten. Auch aus Österreich sprachen sich Politiker und Organisationen gegen das Projekt aus,[83] was u. a. bayerische Politiker verstimmte.[84] Die Bischöfe der an Bayern angrenzenden österreichischen Diözesen wie z. B. Maximilian Aichern und Karl Berg bekundeten ihre Ablehnung der WAA bzw. der Atomkraft.[85] Mehrere Umweltschutzorganisationen riefen zum Boykott des COGEMA-Anteilseigners Siemens auf.
Juristischer Protest und Erörterungstermin
Der juristische Protest gegen die WAA hatte inzwischen Erfolge erzielt. So hob der bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) am 2. April 1987 die erste Teilerrichtungsgenehmigung auf;[86] am 29. Januar 1988 erklärte der VGH dann den ganzen Bebauungsplan für nichtig,[87] nicht zuletzt, weil das Hauptprozessgebäude wesentlich größer ausfallen sollte, als es die bewilligte Planung vorgesehen hatte. Allerdings wurde auf Grund von Einzelbaugenehmigungen stets weitergebaut.[26][88]
Der erste Erörterungstermin fand 1984 statt. Es waren dazu rund 50.000 Einwendungen eingegangen.[89]
Für die zweite Teilerrichtungsgenehmigung fand im Sommer 1988 der vorgeschriebene Erörterungstermin in der zu kleinen Stadthalle in Neunburg vorm Wald statt.[90][91] Hierzu ergingen 881.000 Einwendungen von Bürgern (420.000[92] bzw. 453.000[93] davon aus Österreich),[3] die das Verfahren zum bis dahin größten seiner Art werden ließen. In Österreich gab es eine regelrechte „EinWAAnds“-Kampagne bei der sich Politik und Presse beteiligten, während sich die bayerische Staatsregierung standhaft weigerte, die entsprechenden WAA-Unterlagen auch in Österreich auszulegen.[94][95]
Bei der Erörterung gab es mehrere sogenannte „Österreichtage“.[96][97]
Die Flut der Einsprüche erforderte im bayerischen Umweltministerium 50 neue Arbeitsplätze.[98] Die Erörterung der Einwendungen wurde nach einigen Wochen von Seiten der Genehmigungsbehörde, dem Bayerischen Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen, vorzeitig für beendet erklärt,[99][100] was von den Gegnern der Anlage als Ausdruck der Hilflosigkeit der Behörden gegenüber den vorgebrachten Einwänden empfunden wurde. Im September 1988 gab es wegen der frühzeitigen Beendigung der Anhörungen eine Sondersitzung im Bayerischen Landtag.[101]
Tod von Franz Josef Strauß (1988)
Franz Josef Strauß starb am 3. Oktober 1988. Mit seinem Tod war der „politische Rückhalt in Bayern weggebrochen“[102] und die CSU sah sich in der Lage, die WAA endgültig aufzugeben.[103]
Die Wende bis zur Einstellung des Baus (1989)
1989 entschieden sich die Betreiber für eine Kooperation mit Frankreich.[104] VEBA-Manager Rudolf von Bennigsen-Foerder hatte den Ausstieg aus Wackersdorf verkündet, weil die Atomfabrik mit zehn Milliarden Mark zu teuer wurde, der Widerstand vor Ort die Stromkonzerne an der Verwirklichung des Projekts zweifeln ließ, durch die massiven juristischen Probleme beim Genehmigungsverfahren die WAA frühestens 1998 den Betrieb hätte aufnehmen können und das finanzielle Angebot der Franzosen sehr attraktiv war (La Hague: 2000 – 3300 DM/kg,[105] WAW: 4500 DM/kg).[106] Die vorgeschriebene Entsorgungssicherheit für den Weiterbetrieb sämtlicher bundesdeutscher Kernkraftwerke stand mit der WAW auf wackeligen Füßen und so befürchteten die Atom-Manager nicht nur rechtliche Probleme für die laufenden Reaktoren, sondern bei einem Regierungswechsel in Bonn auch den politischen Atomausstieg.[107] Die VEBA sah auch die „Chance, die heißgelaufene Diskussion über die Kernenergie in der Bundesrepublik zu entlasten“.[108]
Nach der Entscheidung der VEBA für die atomare Wiederaufarbeitung in Frankreich reagierte die Politik überrascht und erwog anfänglich eine „Zwei-Säulen-Theorie“, welche das Bestehen von zwei Standorten von Wiederaufarbeitungsanlagen in Frankreich und in der Bundesrepublik einschloss.[109] Der Nachfolger von Strauß, Max Streibl, bereitete Bayern „überraschend flott“ auf den Ausstieg in Wackersdorf vor.[110] Siemens war mit dem Unternehmensbereich Kraftwerk Union in Wackersdorf mit einem Auftrag von gut zwei Milliarden Mark beteiligt und lehnte den VEBA-Plan zunächst vehement ab.[111]
Am 31. Mai 1989 wurden die Bauarbeiten eingestellt, nachdem der Energiekonzern VEBA (heute E.ON) als wichtigster Anteilseigner der zukünftigen Betreibergesellschaft mit der Cogema, der Betreiberfirma der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague am 3. April einen Vertrag zur Kooperation unterzeichnet hatte[112] und die WAA Wackersdorf als „zu langwierig, zu teuer“[113] bezeichnete. Am 6. Juni unterzeichneten Deutschland (Umweltminister Klaus Töpfer) und Frankreich (Industrieminister Roger Fauroux) die Verträge über eine gemeinsame Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague[114] und am 18. Januar 1990 die Musterverträge[115] mit England über die Wiederaufarbeitung in Sellafield/Windscale. Die Anlage Wiederaufarbeitungsanlage THORP des Unternehmens British Nuclear Fuels ging 1994 in Cumbria (England) an der Irischen See in Betrieb. Dort wird vor allem die Aufarbeitung von ausländischen Brennelementen vorgenommen. Ein Großteil des Materials stammte aus Deutschland.
Die Demonstrationen gegen die WAA traten eine Prozesslawine[116] los und beschäftigten jahrelang die Gerichte. Nach 3400 Strafverfahren gegen Atomgegner wurde der letzte WAA-Fall erst Mitte der 1990er Jahre abgeschlossen.[117]
Während der acht Jahre dauernden WAA-Auseinandersetzung wurden 4000 Kernkraftgegner festgenommen und über 2000 verurteilt, meist zu Geldstrafen, jedoch auch zu Haftstrafen, zum Teil auch ohne Bewährung. Von 400 Strafanzeigen aus den Reihen der Demonstranten gegen Polizeieinsatzkräfte wurden nur 21 Ermittlungsverfahren eingeleitet und alle wieder eingestellt.[118]
Umwandlung zum „Innovationspark Wackersdorf“
Nach der Projekteinstellung konnte das Gelände von den Managern der WAA innerhalb weniger Wochen an Industriefirmen vermietet oder veräußert werden.[119]BMW schloss zum Jahresende 1989 einen Vertrag zum Kauf eines Teilgeländes (50 ha)[120] ab, seit 1990 werden hier Fahrzeugkarosserien gefertigt. Ab 1994 wurde dieser BMW-Standort zum Industriepark ausgebaut. 1998 wurde der BMW Industriepark Wackersdorf in Innovationspark Wackersdorf umbenannt.[121]
Gegenwärtig sind dort folgende Unternehmen ansässig:
Ein Kernstück der Anlage, das Manipulatorträgersystem, wurde dem Institut für Werkstoffkunde in Hannover übergeben und bildet die Basis des Unterwassertechnikums in Garbsen (UWTH). Dort wird damit unter anderem Forschung zur autonomen Zerlegung von Kernkraftwerken betrieben.
Die Gemeinde Wackersdorf bekam nach dem WAA-Aus rund 1,5 Milliarden Mark als Ausgleichszahlung.[122] Die DWK musste noch 500 Millionen DM dazugeben.[123]
Auch vom Industriepark Wackersdorf profitiert heute vornehmlich die Gemeinde Wackersdorf, die deshalb zu den reichen Kommunen in Bayern gehört.[124] Nach Einschätzung des Bürgermeisters Thomas Falter (CSU) sind 2014 in Wackersdorf durch den Innovationspark und die Ausgleichszahlung von 1,5 Milliarden Mark mehr Arbeitsplätze vorhanden als mit der WAA.[125]
Erste Gerüchte in der regionalen Presse über ein mögliches atomares Zwischenlager im Landkreis Schwandorf. Wackersdorf wird erstmals als möglicher Standort erwähnt.
8. September
Beschluss der Regierungschefs von Bund und Ländern auf eine schnelle Errichtung einer WAA hinzuwirken.
Erklärung der Regensburger Initiative gegen Atomanlagen (RIGA): WAA soll nicht nach Wackersdorf kommen
Oktober
Raum Schwandorf als WAA-Standort im Gespräch
Oktober
Die Bayerische Staatsregierung veröffentlicht die „Kriterien zur Bewertung von Standorten für eine industrielle Anlage zur Wiederaufarbeitung bestrahlter Kernbrennstoffe in Bayern“.
7. Oktober
Gründung einer ersten Bürgerinitiative (BI) in Schwandorf
14. November
2000 Menschen demonstrieren in Regensburg gegen die WAA
Veranstaltung in der Oberpfalzhalle mit Peter Weish (Wien) und Hubert Weinzierl; Gemeinsame Resolution von CSU, SPD, Grünen, BN und Bis sowie örtlichen Vereinen gegen eine WAA im Landkreis Schwandorf
Turmbau im Taxölderner Forst, Abbruchverfügung seitens des Landratsamtes binnen 24 Stunden, Verwaltungsgericht setzt sofortigen Vollzug aus (vgl. Spielfilm Wackersdorf (2018))
20. Mai
Polizei reißt den Turm im Taxöldener Forst auf Weisung des Innenminister ab.
23. August
DWK reicht beim Umweltministerium den Antrag auf Erteilung einer ersten Teilerrichtungsgenehmigung ein. (53.000 Einwender)
17. November
Kreistag Schwandorf begrüßt mit CSU-Mehrheit den Bau der WAA.
Die DWK entscheidet sich offiziell für den WAA-Standort Wackersdorf.
1. Mai
Das bisherige gemeindefreie Gebiet „Taxölderner Forst“ wird überwiegend in die Gemeinde Wackersdorf eingegliedert
9. Juli
Landtag beschließt „Selbsteintrittsrecht“ der Regierung (Lex Schuierer).
14. August
Bau des Freundschaftshauses
18. September
Gründung der DWK-Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf GmbH (DWW)
24. September
Erteilung der ersten atomrechtlichen Teilerrichtungsgenehmigung.
11. Dezember
Beginn der ersten Rodungsarbeiten
15. Dezember
Platzbesetzung und Bau eines Hüttendorf am Rodungsplatz (50 Festnahmen)
16. Dezember
Räumung des ersten Hüttendorfes mit ca. 3.000 – 4.000 Polizisten; 1.500 WAA-Gegner vom Platz geräumt, 869 Festnahmen, Innenminister Karl Hillermeier vor Ort, Einsatz von CS-Gas, abends Spontan-Demo auf dem Marktplatz in Schwandorf
21. Dezember
Erneute Platzbesetzung: Mit dem Bau des zweiten Hüttendorfes wird begonnen. Bis 7. Januar entstehen rund 200 Häuser. Zehntausende Einheimische solidarisieren sich und bringen Verpflegung und Material in die „Republik Freies Wackerland“
31. Dezember
Segnung des ersten Holzkreuzes; Jahresschlussandacht mit Norbert Brox
Über die Pfingstfeiertage kommt es am Zaun zu schweren Zusammenstößen der Demonstranten mit der Polizei. Am Pfingstmontag wirft die Polizei aus Hubschraubern Gasgranaten in die Menge, ca. 3.500 Verletzte
22. Mai
Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen Landrat Hans Schuierer. - Einstellung am 17. April 1989
Düsseldorfer Energie-Konzern VEBA als wichtiger Anteilseigner der DWK plant eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wiederaufbereitung mit der französischen Nukleargesellschaft Cogema.
April
Die VEBA AG gibt bekannt, dass die französische Cogema ein Angebot unterbreitet hat, ab 1999 abgebrannte Brennelemente aus deutschen Atomkraftwerken aufzuarbeiten.
16. April
Rund 6.000 WAA-Gegner feiern das Ende der WAA in Wackersdorf.
5.–7. Mai
5. Deutsch-Japanisches Friedensforum in Schwandorf; Besuch am Marterl und am Bauzaun
31. Mai
Die DWK vollzieht den Baustopp mit der symbolischen Schließung des Eisentores am Haupteingang.
Besonders die hydrologischen und geologischen Gutachten der Deutschen Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK) standen in der Kritik.[132] Der Geologe Erwin Rutte hatte den Eindruck, dass im Gutachten bewusst gefälscht wurde, „Darstellungen verbogen und ganz wichtige geologische Fragen überhaupt nicht behandelt“ wurden[133] und die Gutachter den WAA-Untergrund nicht sorgfältig geprüft haben.[134] Der energiepolitischer Sprecher der Grünen Wolfgang Daniels nahm 1987 im Bundestag die ungeprüften Gutachten im Detail auseinander und begründete den Antrag der Grünen auf sofortigen Baustopp für die geplante WAA in der Oberpfalz.[135] Besonders das hydrologische Gutachten und die Gefährdung eines der größten Trinkwasserreservoirs der Oberpfalz – die Bodenwöhrer Senke standen 1988 im Mittelpunkt des Erörterungsverfahrens in Neunburg vorm Wald.[136] Der Chemiker Armin Weiß bewies beim Erörterungstermin anhand von Satellitenbildern von Landsat 1/2, die tektonische Brüche im Bereich der WAA-Baustelle zeigten, dass eine Gefährdung für das Grundwasser besteht.[137] Laut dem Landesentwicklungsplan durfte von der WAA keine Gefährdung des überregional bedeutsamen „Grundwasserreservoirs Bodenwöhrer Senke“ ausgehen.[138] Dabei wurde 1990 nach dem WAA-Baustopp festgestellt, dass das Grundwasserreservoir schon während des Baus der WAA verseucht wurde.[139]
Nürnberger Gutachten
Die Stadt Nürnberg ließ ein Gutachten erstellen, da aufgrund der stark zunehmenden Eisenbahn-Transporte mit radioaktiven Materialien von und nach Wackersdorf über den unfallträchtigen Rangierbahnhof das Risiko für die Nürnberger Bevölkerung „nicht zu vernachlässigen“ sei und das Risiko von „zusätzlichen Krebsfällen“ in der Region erhöht werde.[140]
Salzburger Gutachten
Auch in Salzburg wurden zwei Gutachten zur WAA erstellt. Eine sozialwissenschaftliche Studie zur WAA 1987 warf den Betreibern der WAA Scheinheiligkeit vor und beklagte eine systematische Behinderung oppositioneller Bewegungen ähnlich der McCarthy-Ära.[141] Ein politikwissenschaftliches Gutachten 1988 leitete aus dem Völkerrecht ein Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht Österreichs an der WAA ab, hielt die WAA völkerrechtlich unzulässig und empfahl Österreich, den Internationalen Gerichtshof anzurufen.[142][143]
Wiener Expertise
Eine Expertise des österreichischen Umweltbundesamtes in Wien kam 1986 zu dem Ergebnis, dass auch beim Normalbetrieb ein kontinuierlicher Austritt radioaktiver Substanzen (besonders Krypton 85) erfolgen würde. Radioaktive Stoffe würden über die Naab in die Donau gelangen und durch den über 200 m hohen Schornstein würde der Ferntransport radioaktiver Luftschadstoffe nach Salzburg und Österreich begünstigt.[144]
Eingesetzt wurde der Untersuchungsausschuss auf Antrag der SPD im Dezember 1985 und der Schlussbericht[145] wurde dem Plenum im Juli 1986 vorgelegt. Vorsitzende: Hermann Leeb (CSU), Helmut Ritzer (SPD)
Vorwurf der Gutachtenmanipulation (1988–1990)
Details aus der Forschungsarbeit der Bayerischen Landesanstalt für Bodenkultur und Pflanzenbau zur Gutachtenerstellung für die erste Teilerrichtungsgenehmigung führten zum Vorwurf, auf den Gutachter der Landesanstalt sei von Beamten des Bayerischen Staatsministeriums für Landesentwicklung und Umweltfragen Einfluss genommen worden, um die Ergebnisse in einem bestimmten Sinne zu korrigieren.[146] Diese Vorwürfe wurden auch Teil der Arbeit eines späteren Untersuchungsausschusses des Bayerischen Landtages, der am 28. September 1988 von Abgeordneten der SPD und der Grünen-Fraktion beantragt[147] und am 2. Februar 1989 eingesetzt[148] wurde. Einige Mitglieder des Untersuchungsausschusses stellen in ihrem abschließenden Minderheitenbericht u. a. fest, das Bayerische Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen sei „nicht als unabhängiger Sachwalter der Interessen der Bevölkerung Bayerns, sondern als Förderer und Helfer für die möglichst rasche Errichtung der WAA“ tätig geworden und habe zugunsten der ersten Teilerrichtungsgenehmigung „Meßwerte für den Jodtransfer Boden-Weidebewuchs mißachtet, welche die Genehmigungsfähigkeit infrage gestellt hätten“.[149]
Bekannte Anti-WAA-Aktivisten
Deutschland:
Armin Weiß – „grüner“ Kopf des Widerstandes gegen die WAA; der Chemieprofessor spielte eine maßgebliche Rolle beim WAA-Genehmigungsverfahren in Neunburg vorm Wald mit 881.000 Bürgereinwendungen.[150]
Hans Schuierer – ehemaliger SPD-Landrat des Landkreises Schwandorf. Er lehnte es ab, die Pläne für die WAA zu unterschreiben, bis dies von der bayerischen Staatsregierung mit der „Lex Schuierer“ umgangen wurde.[151] Nach Inkrafttreten des Gesetzes im Oktober 1985 erteilte daraufhin die Regierung der Oberpfalz wasser- und baurechtliche Genehmigungen zum Bau der WAA.[152] Der „Blockade-Landrat“[153] wurde mit 18 Anklagen[154] und mehreren Disziplinarverfahren abgestraft.[155] Im April 1989 wurde das Verfahren gegen die „Ikone des Widerstands“[156] von der Disziplinarkammer des Regensburger Verwaltungsgerichts eingestellt.[157] – Rückblickend war die WAA für Schuierer „ein einziges Lügenpaket von Anfang bis zum Ende“.[158] Schuierer erhielt später mehrere Auszeichnungen, u. a. 2005 das Bundesverdienstkreuz am Bande.[159]
Dietmar Zierer, der Landrat Schuierer vertrat, weigerte sich ebenfalls, der ultimativen Weisung des Regierungspräsidenten Karl Krampol auf Erteilung der WAA-Baugenehmigung bis zum 25. Oktober 1985 nachzukommen.[160]
Leo Feichtmeier – damals Religionslehrer und katholischer Pfarrer in Nittenau. Er war bei den allsonntäglichen Gottesdiensten am Franziskus-Marterl aktiv und bekam vom bayerischen Kultusministerium ein Disziplinarverfahren, weil er sich „agitatorisch“ gebärdet und so gegen das Mäßigungsgebot des Beamtengesetzes verstoßen habe.[161][162] 2021 bekam „WAA-Pfarrer“ Feichtmeier die Schwandorfer Landkreisverdienstmedaille.[163] Auf einer ökumenischen Andacht auf dem Schwandorfer Marktplatz im Juni 1986 verlas Feichtmeier den ersten Hirtenbrief gegen die WAA im deutschsprachigen Raum vom Linzer Bischof Maximilian Aichern.[164]
Richard Salzl – ehemaliger Pfarrer von Penting. Er organisierte mit Kollegen eine Glaubensgemeinschaft von Atomgegnern. Sie richteten eine Gebetsstelle neben dem WAA-Gelände ein und kamen jeden Sonntag zum Sprechen, Beraten und Beten.[165]
Andreas Schlagenhaufer – damals Pfarrer von Kohlberg. Er kam 1985 zur Bürgerinitiative und übernahm dort häufig die Rolle des Redners. Wegen dieser Position und seines Einsatzes musste Schlagenhaufer mehrmals Vorladungen bei seinem Regensburger Bischof Manfred Müller nachkommen.[166]
Irene Maria Sturm – Vorsitzende der Oberpfälzer Bürgerinitiativen, Vorstandsmitglied der Bürgerinitiative Schwandorf gegen Atomanlagen und des Bayerischen Elternverbands im Kreisverband Schwandorf, außerdem Sprecherin der Umweltinitiative Müll/Recycling Schwandorf und des Dachverbands der Oberpfälzer Bürgerinitiativen gegen die Errichtung von Atomanlagen sowie ehrenamtliche Mitarbeiterin im Anti-WAA-Büro.[167][168][169] Ihre Tochter Anna Maria Sturm spielte im Film Wackersdorf (2018) eine Anti-WAA-Aktivistin.
Helmut Wilhelm – damaliger Amberger Richter und Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs. Gegen Grünen-Mitglied Wilhelm wurde seit 1986 ermittelt, da er sich „nicht mit voller Hingabe seinem Richteramt gewidmet“ und „Rechtsabbau und Entdemokratisierung“ rund um die WAA beim Namen genannt hatte.[161] Der Nürnberger Generalstaatsanwalt Kurt Pfeiffer leitete ein Disziplinarverfahren gegen Wilhelm ein.[170]
Michael Meier – Kläger gegen die WAA und WAA-Grundstücksanlieger. Der arbeitslose Nebenerwerbslandwirt weigerte sich, sein Grundstück an die WAA-Betreiberfirma zu verkaufen, obwohl diese ihm Millionen dafür bot. 1985 reichte er als einziger von acht Anliegern der geplanten WAA Klage vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ein.[171] 1988 gewann Meier den Prozess und der Bebauungsplan für die WAA wurde für ungültig erklärt.[172][173]
Max Bresele – Künstler und Filmemacher. Er beteiligte sich in den 80er Jahren am Widerstand gegen die WAA, wo er im Taxöldner Forst mit Notstromaggregat und Filmprojektor selbstgemachte Kurzfilme zeigte.[174]
Irmgard Gietl – aus Maxhütte-Winkerling; organisierte Demonstrationen und Mahnwachen am WAA-Bauzaun, mobilisierte Freunde und Bekannte und strickte tausende „Widerstandssocken“ für die Demonstrierenden (siehe Film: Irmgard und die Widerstandssocken). Sie ist „Aufrechter Gang“-Preisträgerin[175] und 2022 erhielt sie für ihr Engagement gegen die WAA den Ehrenpreis des Nuclear-Free Future Award für ihr Lebenswerk.[176]
Stefan Preisl – Holzbildhauer aus Burglengenfeld; Er war von Anfang an an den Widerstandsaktionen gegen die WAA in Wackersdorf beteiligt und schnitzte 1985 die erste Christusfigur für das Hüttendorf „Freies Wackerland“. Bei der Räumung des Dorfes wurde diese entfernt, daraufhin schnitzte Stefan Preisl ein neues Kreuz, das dann am Franziskusmarterl, dem Treffpunkt der Demonstranten, aufgestellt wurde.[177]
Rudolf Forster – Demonstrant, der mit seinem Brett vor dem Kopf „Nur wenn i a Brett davor hätt, wär i dafür – WAA“ zu einem Symbol für den Protest wurde.[178]
Uli Otto – Musiker, Widerstands-Chronist – Kultur gegen die WAA[179]
Wolfgang Nowak – „Widerstands-Chronist“, „Mann der ersten Stunde“ im Widerstand gegen die WAA, Teilnehmer am „Kreuzweg für das Leben“, bei dem die Wackersdorfer zu Fuß ein Holzkreuz nach Gorleben trugen.[180] Nowak war Kassier im Vorstand der BI-Schwandorf und engagierte sich im christlichen Widerstand in der Marterl-Gemeinde.[181] Er wird auch als "lebendes Gedächtnis des WAA-Widerstands"[182] bezeichnet.
Österreich:
Hildegard Breiner – führende österreichische Aktivistin gegen die WAA Wackersdorf; – Österreichische „Öko-Aktivisten“ zogen u. a. gegen Wackersdorf, weil Radioaktivität nicht an Staatsgrenzen halt mache.[183][184]
Josef Amerstorfer: Der österreichische Landwirt aus Pfarrkirchen im Mühlkreis klagte 1986 mit Hilfe des Komitees „Österreicher gegen Wackersdorf“ und seinem Anwalt Heinrich Wille auf Baustopp wegen Grundbesitzstörung gegen die DWK, weil er mit seinen Feldern nur 150 Kilometer entfernt von Wackersdorf durch die geplante WAA bedroht war. Amerstorfer begründete seine Klage damit, dass sein Hof in der Hauptwindrichtung von Wackersdorf liege und von dort über den 200 Meter hohen Schornstein sowie die in die Donau geleiteten Abwässer der WAA Strontium, Cäsium und Plutonium nach Österreich exportiert würden.[185][186][187][188][189]
Richard Hörl: Der Salzburger Bäckermeister protestierte 1986 mit einem selbstgebauten WAA-Bauzaun auf dem Alten Markt in Salzburg gegen die WAA.
Josef Reschen: Als Salzburger Bürgermeister schloss er 1986 mit dem Landkreis Schwandorf (Landrat Hans Schuierer) eine Anti-Atom-Partnerschaft, um ein deutliches Zeichen gegen die WAA zu setzen.
Das „Komitee Österreicher gegen Wackersdorf, Temelin und andere Atomanlagen“ wurde von den bekannten ProponentenHeinrich Wille und Gerhard Heilingbrunner[190] unterstützt.[191]
Zeitzeugeninterviews:
Zeitzeugeninterviews mit bekannten Anti-WAA-Aktivisten auf dem Zeitzeugenportal[192]
80 HdBG-Zeitzeugeninterviews mit bekannten Anti-WAA-Aktivisten u. a.[193]
Protestdenkmäler
Zur Erinnerung an den Widerstand gegen die WAA wurden einige Denkmäler errichtet:
Franziskus-Marterl[194] (Kapellen-Bildstock) mit dem „Kreuz von Wackersdorf“.[195] Am Marterl trafen sich Mitte der 1980er Jahre jeden Sonntag um 14:00 Uhr WAA-Gegner zu einer ökumenischen Andacht und zogen danach ins Gelände bzw. zum Bauzaun. Noch heute trifft sich die „Marterlgemeinde“ viermal im Jahr zu einer Andacht – an den Tschernobyl- und Hiroshima-Gedenktagen, zur Erinnerung an den Marterl-Patron Franz von Assisi am 3. Oktober und am Heiligen Abend.
Der Salzburger Richard Hörl errichtete 1986 ein nachgebildetes WAA-Bauzaunelement auf dem Alten Markt in Salzburg. Dort stand es monatelang als Mahnmal und Publikumsattraktion.[199] Im Juli 1986 stiegen dort Salzburgs Bürgermeister Josef Reschen und Landrat Hans Schuierer auf eine Leiter und besiegelten per Handschlag über den Bauzaun die Anti-Atom-Partnerschaft zwischen Salzburg und dem Landkreis Schwandorf.[200]
Widerstandseiche mit Gedenktafel in Pfreimd: Als am 30. Mai 1989 der Baustopp der WAA bekannt gegeben wurde, pflanzte man vor der evangelischen Pauluskirche eine „Widerstands-Eiche“ als Symbol für eine „unverstrahlte“ Zukunft. 2009 wurde dort eine Gedenktafel enthüllt und die Eiche gesegnet.[201]
Als Form des friedlichen Protests wurde 1987 ein steinerner Bildstock von Horst Wittstadt in WAA-Nähe errichtet.[202]
Schwandorfer Totentanz (1982, Grafik, 12 Blätter): Der Künstler Horst Meister setzte sich demonstrativ mit den Geschehnissen rund um die geplante WAA auseinander.[203]
Seit 2015 bzw. 2016 erinnern zwei offizielle Informationstafeln des Landkreises Schwandorf an den Bau und den Widerstand gegen die WAA.[204]
Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe – sollte als Testanlage für Wackersdorf dienen.[249] Die im Rückbau befindliche Pilotanlage war zwischen 1971 und 1990 in Betrieb.
Jakob Felsberger: Die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. in: Tschernobyl in Erlangen – Reaktionen und Dynamiken im lokalen Umfeld 1986–1989. Hrsg. FAU, Erlangen 2020, S. 53–76, ISBN 978-3-96147-285-7.[251]
Janine Gaumer: Wackersdorf. Atomkraft und Demokratie in der Bundesrepublik 1980–1989. München 2018, ISBN 978-3-96238-073-1.
Gerhard Götz: WAA Wackersdorf – Vor und hinter dem Zaun. Fotodokumentation mit über 500 Fotos. Büro Wilhelm Verlag, Amberg 2018, ISBN 978-3-943242-94-2.
Bruno Rettelbach: Vom Pfälzer zum Oberpfälzer. ("Zwischen Bauzaun und Grenzgebirge", S. 139–179), 2009, ISBN 978-3-8370-5257-2[252]
Radi Aktiv – „bayerisches Anti Atom Magazin“ (1985–1990) mit Schwerpunkt WAA-Wackersdorf[253]
BayernSPD-Landtagsfraktion (Hrsg.): Der erste Schritt zum Atomausstieg. 25 Jahre Baustopp WAA Wackersdorf. In: Der Freistaat – Bayerische Schriften für soziale Demokratie. 12/2014.[254]
↑Probleme um die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage des Abgeordneten Daniels (Regensburg) und der Fraktion DIE GRÜNEN. In: Drucksache 11/5253. Deutscher Bundestag, 27. September 1989, abgerufen am 18. Januar 2020.
↑BT-Drs. 11/5253: Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage des Abgeordneten Daniels (Regensburg) und der Fraktion Die Grünen – (Deutscher Bundestag 27. September 1989) ↑ BT-Drs. 11/4105, Große Anfrage: Probleme um die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf vom 1. März 1989
↑„Es lag jenseits unserer Vorstellungskraft“ – Spiegel-Gespräch mit Veba-Chef Rudolf von Bennigsen-Foerder über das mögliche Ende der WAA Wackersdorf. In: Der Spiegel. Nr.16, 1989, S.22–28 (online).