Lex Schuierer

Lex Schuierer ist die nicht amtliche Bezeichnung für das Gesetz zur Änderung des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BayVwVfG) vom 23. Juli 1985.[1] Das Gesetz wurde beschlossen, um die Blockade der Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf durch den Schwandorfer Landrat Hans Schuierer zu umgehen.

Regelung

Mit Wirkung zum 1. August 1985 wurde in Art. 3b BayVwVfG der sog. Selbsteintritt der Aufsichtsbehörden geregelt, um anstelle der sonst zuständigen Behörde, insbesondere eines Landratsamts, tätig zu werden.[2]

Bis dahin war es zwar gängige, anerkannte Praxis der Aufsichtsbehörde im Bereich staatlichen Verwaltungshandelns, eine Angelegenheit an sich zu ziehen und selbst Entscheidungen anstelle der nachgeordneten Landesbehörde zu treffen. Aber der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte im März 1977 entschieden, dass Zuständigkeitsregelungen nach Art. 77 Abs. 1 Satz 1 der Bayerischen Verfassung einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage bedürfen.[3] Mit Art. 3a BayVwVfG sollte eine solche gesetzliche Grundlage geschaffen werden. Ausdrücklich bestand bis dahin nur ein Aufsichts- und Weisungsrecht.[4]

Geschichte

Die bundesweit in keinem anderen Landesverwaltungsverfahrensgesetz vorhandene Regelung wurde 1985 vom Bayerischen Landtag mit den Stimmen der CSU beschlossen. Ziel war es, „ungeachtet der Widerstände des Landrats Schuierer von Schwandorf die Deutsche Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK) in die Lage zu versetzen, die geplante Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf zu errichten.“ Der DWK werde signalisiert, „dass ein Standort in Wackersdorf politisch und rechtlich durchsetzbar ist.“[5][6]

Schuierer hatte sich im September 1984 unter Berufung auf sein Remonstrationsrecht als kommunaler Wahlbeamter[7] zunächst geweigert, den Bebauungsplan für das WAA-Gelände im Taxöldener Forst öffentlich auszulegen, lenkte aber auf Weisung des Bayerischen Innenministeriums ein. Der Plan wurde im April 1985 von der Regierung der Oberpfalz unter Regierungspräsident Karl Krampol genehmigt. Nachdem Schuierer selbst und sein Stellvertreter Dietmar Zierer die Erteilung der Baugenehmigung trotz entsprechender Weisung verweigert hatten, kam es nach Inkrafttreten der Lex Schuierer im Oktober 1985 zum Selbsteintritt der Regierung der Oberpfalz. Sie ließ sich die WAA-Akten zustellen, um selbst zu entscheiden.[8] Am 29. Oktober 1985 erteilte die Regierung der Oberpfalz die wasser- und baurechtliche Genehmigung zum Bau der WAA.[9] Die erste atomrechtliche Teilerrichtungsgenehmigung, die die Umzäunung des Baugeländes, die Errichtung des Brennelemente-Eingangslagers und die Baugrube für das Hauptprozeßgebäude umfasste, hatte der damalige Bayerische Umweltminister Alfred Dick bereits im September 1985 erteilt.[10]

Das gegen Schuierer im Mai 1986 eingeleitete Disziplinarverfahren wurde erst im April 1989 eingestellt. Er bezeichnete das Vorgehen der Strauß-Regierung als „Demokratur“.[11]

Die Lex Schuierer erfüllt heute „theoretisch einen neuen Zweck: Landräten, die heikle Entscheidungen aus politischen oder wahltaktischen Gründen lieber einer höheren Instanz zuschieben, schenkt sie einen Sündenbock – den ‚bösen‘ Freistaat oder den ‚sturen‘ Minister zum Beispiel.“[12]

Gesetzestext

Selbsteintritt[13]

(1) Kommt eine staatliche Behörde einer schriftlichen Weisung der Aufsichtsbehörde nicht fristgerecht nach, so kann der Leiter der Aufsichtsbehörde an Stelle der angewiesenen Behörde handeln (Selbsteintritt).

(2) Der Selbsteintritt gegenüber einem Landratsamt als Staatsbehörde ist nur zulässig, wenn der fachlich zuständige Minister ein sofortiges Handeln aus wichtigen Gründen des öffentlichen Wohls, insbesondere in Fällen von überörtlicher oder landesweiter Bedeutung, im Einzelfall für erforderlich hält und dies gegenüber der Aufsichtsbehörde erklärt.

Die Aufzählung in Absatz 2 ist nicht abschließend; der Selbsteintritt ist rechtlich zulässig auch in anderen Fällen, in denen aus wichtigen Gründen des öffentlichen Wohls ein sofortiges Handeln erforderlich erscheint.[14]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. GVBl. S. 269
  2. Selbsteintritt der Aufsichtsbehörden Gemeinsame Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien vom 9. September 1985 Az.: IA1-1011.1/3
  3. vgl. Beschluss des BayVGH vom 29. März 1977, BayVBl. 1977, S. 503.
  4. Gesetzentwurf der Abgeordneten Tandler, Diethei, Gastinger, Zeitler und Fraktion CSU zur Änderung des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes Bayerischer Landtag, Drs. 10/5486 vom 10. Dezember 1984.
  5. Bayerischer Landtag, Plenarprotokoll 10/66 vom 12. Dezember 1984, S. 3712; Erste Lesung zum Gesetzentwurf zur Änderung des BayVwVfG.
  6. Umstrittenes Gesetz – Das Erbe von Wackersdorf, Süddeutsche Zeitung vom 2. November 2018.
  7. vgl. Art. 32 Gesetz über kommunale Wahlbeamte und Wahlbeamtinnen (Kommunal-Wahlbeamten-Gesetz – KWBG) vom 24. Juli 2012, GVBl. S. 366; 2014 S. 20.
  8. Von Gorleben bis Wackersdorf. Chronik einer „nationalen“ WAA Mittelbayerische Zeitung, Dokumentation. Nachdruck der Sonderbeilage zur Ausgabe vom 25. Juli 1989, S. 2 ff.
  9. Der erste Schritt zum Atomausstieg. 25 Jahre Baustopp WAA Wackersdorf. Der Freistaat, Schriftenreihe der SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag 2014, S. 15.
  10. Auch eine Diktatur – Der Streit um die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf beschäftigt die höchsten Gerichte Bayerns und der Bundesrepublik. In: Der Spiegel vom 4. November 1985.
  11. Der Staat gegen Hans Schuierer, Die Welt vom 21. September 2018.
  12. Das Erbe von Wackersdorf – Die geplante Wiederaufbereitungsanlage provozierte einst einen Volksaufstand in der Oberpfalz. Aus der Atomfabrik wurde nichts, doch ein fragwürdiges Gesetz gilt bis heute. In: SZ vom 2. November 2018.
  13. Art. 3b Selbsteintritt in der Fassung des Gesetzes zur Stärkung elektronischer Verwaltungstätigkeit vom 24. Dezember 2002, GVBl. S 962 (Bayerische Staatskanzlei, abgerufen am 6. November 2018).
  14. Selbsteintritt der Aufsichtsbehörden Gemeinsame Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien vom 9. September 1985 Az.: IA1-1011.1/3