Schmids aus Württemberg stammender Vater Joseph Schmid (1860–1925) war Privatgelehrter und Dozent an der Universität Toulouse, die Mutter Anna Erra (1869–1968) war Französin. Seine Kindheit verbrachte Schmid in Weil der Stadt, wohin die Familie ein Jahr nach seiner Geburt übergesiedelt war. Dort war sein Vater fünf Jahre lang Schulleiter und Lehrer der Realschule. Im Jahr 1908 zog die Familie nach Stuttgart um, wo Schmid das humanistische Karls-Gymnasium besuchte und im Frühjahr 1914 das Abitur ablegte. In seinen letzten Schuljahren wurde Schmid im Wandervogel aktiv, wo er Arnold Bergstraesser kennenlernte.[3]
In den Jahren 1931 und 1932 übernahm Schmid die Leitung eines Lagers des Freiwilligen Arbeitsdienstes in Münsingen. Arbeitslose Jugendliche arbeiteten zusammen mit Studenten in einem Steinbruch mit dem Ziel, die Jugendlichen durch ihren persönlichen Einsatz vor der radikalen Massenbewegung des Nationalsozialismus zu bewahren. 1933 erhielt Schmids Personalakte aufgrund seiner Tätigkeiten einen Sperrvermerk. Um einer Entlassung zu entgehen, trat er dem Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen bei. Laut einer von der Carlo-Schmid-Stiftung veröffentlichten Biographie[5] bezeichnete er öffentlich den Nationalsozialismus als „Philosophie von Viehzüchtern, angewandt am verkehrten Objekt“. Nur durch Unterstützung eines NS-Studentenführers konnten schwerwiegende Konsequenzen verhindert werden.
Für Schmid stand Ende 1946 fest, dass das „Schicksal der europäischen Staaten davon abhing“, ob sie sich zu einer „eigenständigen Kraft“ entwickeln könnten.[10] Er trat deshalb beharrlich für die wirtschaftliche, politische und militärische Integration Europas ein. Führende Sozialdemokraten wie Kurt Schumacher hielten Schmids bundesstaatliche Europaidee für verfrüht. Ein Grund für diese Zurückhaltung war das starke Engagement des konservativen Briten Duncan Sandys in der Europäischen Bewegung. Dessen ungeachtet suchte Schmid den internationalen Schulterschluss und arbeitete lange in der Union Europäischer Föderalisten mit. 1949 wurde Schmid erster Vize-Präsident der deutschen Sektion der Europa-Union Deutschland. Außerdem war er erster Vorsitzender der „Deutschen Parlamentarischen Sektion der Europäischen Bewegung“. In Frankreich trat er in eine Freimaurerloge ein; er hielt zweimal in der Hamburger Loge Die Brückenbauer eine Rede.[11]
Bereits im August 1948 wirkte Schmid in der Herrenchiemsee-Verfassungskonferenz, die das spätere Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in die Wege leitete, sehr maßgeblich mit. Er widersetzte sich Bestrebungen, die das Asylrecht nur denen gewähren wollten, die wegen ihres „Eintretens für Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit oder Weltfrieden“ im Ausland verfolgt werden. Der Redaktionsausschuss sah ein allgemeines Asylrecht für politische Flüchtlinge als „zu weitgehend“ an, weil es „möglicherweise die Verpflichtung zur Aufnahme, Versorgung usw. in sich schließt“ und daher nicht finanzierbar sei.[12][13][14] Schmid setzte sich gemeinsam mit Hermann von Mangoldt (CDU) gegen diese Bedenken durch und erreichte, dass mit Artikel 16 des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland allen auf der Welt politisch Verfolgten ein Recht auf Asyl garantierte.[12] Diese Formulierung bestand so bis zum Asylkompromiss von 1993, mit dem dieses Recht stark eingeschränkt wurde.
Partei
Nach dem Krieg wurde Schmid SPD-Mitglied und war von 1946 bis 1952 SPD-Landesvorsitzender in Württemberg-Hohenzollern. Von 1947 bis 1970 war er Mitglied im SPD-Parteivorstand. Von 1958 bis 1970 gehörte er außerdem dem Präsidium der SPD an und war maßgeblich an der Ausarbeitung des Godesberger Programms beteiligt. Innerhalb der SPD gehörte er zu den Verfechtern des Mehrheitswahlrechts. Von 1949 bis 1972 gewann er bei den Bundestagswahlen in seinem Mannheimer Wahlkreis immer das Direktmandat für die SPD.[15]
Peter Glotz bezeichnete den universell gebildeten und weltläufig auftretenden Schmid als „ersten und letzten Humanisten, der in die engste Führung der deutschen Sozialdemokratie vorgestoßen“ war. Schmid habe durch sein öffentliches Wirken ganze Generationen von Lehrern, Ingenieuren, Abteilungsleitern und Abitur-Ehefrauen für die SPD gewonnen. Er umschrieb das Verhältnis der Partei zu Schmid mit den Sätzen: „Die (autoritär geführte) Arbeiterpartei akzeptierte den Paradiesvogel. Die (demokratisch korrekte) Angestelltenkultur nach der Revolte von 1968 stieß ihn ab.“[18]
1948/49 war er als Vertreter Württemberg-Hohenzollerns[16] Mitglied des Parlamentarischen Rates und hier Vorsitzender der SPD-Fraktion und des verfassungspolitisch ausschlaggebenden Hauptausschusses sowie des Ausschusses für das Besatzungsstatut.[19] In einer Grundsatzrede anlässlich der 2. Plenarsitzung am 8. September 1948 legte Schmid seine Ansichten der Ziele und Grenzen des zu schaffenden Grundgesetzes dar. Aufgrund der Erfahrung bei der Beseitigung der Weimarer Verfassung durch die Nationalsozialisten, plädierte er klar für eine repräsentative, im Gegensatz zur plebiszitären Demokratie:
„Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muß man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.“
1955 trug er als Vertreter des Auswärtigen Ausschusses und Mitglied der Verhandlungskommission unter Konrad Adenauer sehr zum Gelingen der deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau bei, aus denen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Bundesrepublik mit der Sowjetunion und die Rückführung der deutschen Kriegsgefangenen resultierten.[21]
Schmid vertrat während seiner gesamten Zugehörigkeit zum Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter den Wahlkreis Mannheim I. Vom 12. Oktober 1959 bis 1961 war er Vorsitzender der Unterkommission „Haushalt“ des Bundestagspräsidiums. In seiner letzten Wahlperiode war er nach William Borm (FDP) der zweitälteste Abgeordnete des Bundestages.
Im Jahr 1959 gehörte er mit Josef Arndgen (CDU), Walther Kühn (FDP) und Ludwig Schneider (DP) nach dem Unfalltod des Abgeordneten Josef Gockeln zu den Initiatoren einer Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversorgung für Abgeordnete.
Schmid, der sich besonders für die deutsch-französische Aussöhnung einsetzte, gehörte von 1950 bis 1960 sowie von 1969 bis 1973 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg an. Von 1963 bis 1966 war er Präsident der Versammlung der Westeuropäischen Union in Paris, nachdem er zuvor bereits seit 1956 deren stellvertretender Präsident gewesen war.
Öffentliche Ämter
Zur Zeit der französischen Besatzung trat Schmid im Oktober 1945 an die Spitze der provisorischen Regierung (Präsident des Staatssekretariats) des „Staatssekretariats für das französisch besetzte Gebiet Württembergs und Hohenzollerns“. Gleichzeitig übernahm er das Amt des Landesdirektors für das Unterrichtswesen und die kulturellen Angelegenheiten in der von der französischen Militärregierung eingesetzten Landesverwaltung.
Ab 9. Dezember 1946 war Schmid Justizminister von Württemberg-Hohenzollern und bis zum 8. Juli 1947 übte er gleichzeitig die Funktion des Staatspräsidenten aus. Nach den Landtagswahlen 1947 war Carlo Schmid bis 12. August 1948 stellvertretender Staatspräsident und behielt bis zum 1. Mai 1950 das Amt des Justizministers in der von Lorenz Bock (CDU) bzw. dessen Nachfolger Gebhard Müller geführten Staatsregierung dieses Landes, das er auch beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vertrat.
Nach der Wahl in den Bundestag wurde er bereits in der ersten Legislaturperiode zum Bundestagsvizepräsidenten gewählt, ein Amt, das er von 1949 bis 1966 und erneut von 1969 bis 1972 bekleidete.
Schmid heiratete 1921 Lydia Hermes (1897–1984). Mit ihr hatte er vier Kinder:[22] Hans (1925–2019), Martin (1927–2019), Raimund (1935–1956) und Beate (* 1936). Aus der Beziehung zu Irmgard Michael ging 1942 die Tochter Juliane hervor[23]. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Schmid in Orscheid, einem Ortsteil der Stadt Bad Honnef bei Bonn.
Vier Tage nach seinem Tod ehrte der Deutsche Bundestag seinen ehemaligen Vizepräsidenten mit einer Trauerfeier im Plenarsaal. Am 15. Dezember 1979 wurde er mit einem Staatsbegräbnis auf dem Tübinger Stadtfriedhof geehrt.
Im Jahr 1987 wurde die Carlo-Schmid-Stiftung[25] gegründet, die Personen, Gruppen und Organisationen mit dem Carlo-Schmid-Preis auszeichnet, die sich für Erhaltung und Weiterentwicklung des demokratischen und sozialen Rechtsstaats, eine liberale politische Kultur und die europäische Verständigung einsetzen. Zu seinem 100. Geburtstag gab das Bundesministerium für Post und Telekommunikation am 3. Dezember 1996 eine Sonderbriefmarke im Wert von 100 Pfennig heraus.
Schmid war als Wissenschaftler, staatsphilosophischer und politischer Publizist, Essayist, Memorandenautor, aber auch als Übersetzer, Bühnen- und Kabarettautor und Lyriker tätig.
Regierung und Parlament. In: Hermann Wandersleb: Recht, Staat, Wirtschaft. Band 3, Düsseldorf 1951.
Vier Jahre Erfahrungen mit dem Grundgesetz. In: Die Öffentliche Verwaltung. 1954, Heft 1, Seiten 1–3.
Die Opposition als Staatseinrichtung. In: Der Wähler. 1955, Heft 11, S. 498–506.
Macchiavelli, Fischer 1956
Der Abgeordnete zwischen Partei und Parlament. In: Die Neue Gesellschaft. 1959, Heft 6, S. 439–444.
Der Deutsche Bundestag in der Verfassungswirklichkeit. In: Friedrich Schäfer: Finanzwissenschaft und Finanzpolitik, Festschrift für Erwin Schoettle, Tübingen 1964, S. 269–284.
Erinnerungen – Carlo Schmid im Gespräch mit Emil Obermann. Ausschnitte aus der Veranstaltung am 28. November 1979 in Hoser’s Buchhandlung (1 LP) (Hoser’s Buchhandlung, Stuttgart, ohne Nummer), ISBN 3-921414-04-0.
Carlo Schmid: Grundsatzrede über das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat vom 8. September 1948.
Stine Harm: Bürger oder Genossen? Carlo Schmid und Hedwig Wachenheim – Sozialdemokraten trotz bürgerlicher Herkunft. Ibidem-Verlag, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-8382-0104-7.
Walter Henkels: 99 Bonner Köpfe. Durchgesehene und ergänzte Ausgabe, Fischer-Bücherei, Frankfurt am Main 1965, S. 218ff.
Frank Raberg: Carlo Schmid (1896–1979). Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart 2006 (online).
Nadine Willmann: Carlo Schmid et la puissance d’occupation française dans le Wurtemberg durant l’immédiat après-guerre (= Schmids Verhältnis zur frz. Besatzungsmacht in Württemberg in der unmittelbaren Nachkriegszeit). In: Catherine Maurer (Hrsg.): Revue d’Allemagne et des pays de langue Allemande. 1, 2017, ISSN0035-0974, S. 289–304 (französisch).
↑Kristina Meyer: Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945-1990. Wallstein Verlag, Göttingen 2015, ISBN 978-3-8353-2730-6, S.31 (google.de [abgerufen am 30. Januar 2018]).
↑Wer war’s? – Carlo Schmid. In: Vorwärts 12/2012, S. 41.
↑Stehen und fallen mit der roten Fahne? In: Der Spiegel. 22. August 1976, ISSN2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 23. Mai 2024]).
↑Glanzvoller Außenseiter. In: Der Spiegel. 22. Dezember 1996, ISSN2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 23. Mai 2024]).
↑Peter Sturm: Köpfe hinter dem Grundgesetz / Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates kamen aus unterschiedlichen politischen Milieus. Fünf Biographien, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Mai 2024, Seite 8
„Ministerpräsident Bulganin erhob sein Glas auf die Gesundheit des Bundeskanzlers. Jeder nahm sein Wodkagläschen und trank es aus. Ich bat um das Wort und sagte, es scheine mir eine Geschichtslüge zu sein, dass die Russen trinkfest seien. Wäre es so, würden sie nicht aus Fingerhüten auf die Gesundheit ihrer Gäste trinken. Ich bäte um ein größeres Glas. Es kam und ich leerte es. Darauf Konrad Adenauer: ‚Herr Schmid, ich verbiete Ihnen das. Sie kriegen einen Herzschlag.‘ Darauf ich: ‚Herr Bundeskanzler, Sie können mir nichts verbieten.‘“
– Carlo Schmid, Erinnerungen
↑Schmid, Carlo (Karl). In: Landeskundliches Informationssystem Baden-Württemberg (leo-bw.de). Landesarchiv Baden-Württemberg, abgerufen am 13. November 2017.
↑Petra Weber: Carlo Schmid 1896–1979. Eine Biographie. 1. Auflage. C. H. Beck, München 1996, ISBN 3-406-41098-7, S.165.