Nach seinem Studium an der Universität Pavia, der Sorbonne und der London School of Economics begann er seine berufliche Laufbahn zunächst an der Universität von Catania (Sizilien), gefolgt von zahlreichen weiteren italienischen Universitäten. Ab 1959 bis zu seinem Ruhestand 1991 lehrte er an der University of California in Berkeley. 1978 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences aufgenommen. Seine Arbeiten wurden in viele Sprachen übersetzt.
Im Jahr 1995 erhielt er den Balzan-Preis für Wirtschaftsgeschichte mit dieser Laudatio: „Carlo Maria Cipolla gilt in Fachkreisen als maßgeblicher Forscher der Wirtschaftsgeschichte, der dort mehr als andere Neuland erschlossen hat. Kraft seiner von gedanklicher und methodischer Strenge gezügelten Wissbegierde und dank peinlich genauer Erkundung der Quellen hat er es verstanden, in Werken von großer Originalität die verschiedensten Gebiete der Wirtschafts- und Kulturgeschichte zu behandeln und hierbei überblicksartige Darstellungen mit Detailuntersuchungen zu verbinden.“
Rezeption
Ein Sonderfall ist sein satirisches Büchlein “Allegro ma non troppo”. Zuerst nur als Privatdruck für Freunde, dann 1988 bei Il Mulino in Bologna erschienen, wurde es überraschend zu einem Bestseller (mehr als 300.000 Auflage). Es besteht aus zwei Essays “Pepe, vino (e lana) come elementi determinanti dello sviluppo economico nell'età di mezzo”, deutsch unter dem geänderten Titel „Die Rolle der Gewürze (insbesondere des Pfeffers) für die wirtschaftliche Entwicklung des Mittelalters“, und “Le leggi fondamentali della stupidità umana” (deutsch: „Die Prinzipien der menschlichen Dummheit“).[2][3][4] Im ersten persifliert Cipolla seine eigene wirtschaftshistorische Analysetechnik, um zu absurden Schlüssen zu kommen, im zweiten formuliert er die surrealen Grundgesetze der Dummheit (die Übersetzung „Prinzipien“ trifft nicht ganz zu) nach wirtschaftlichen Parametern. Er selbst sagte ironisch, er ärgere sich über das Missverhältnis von Aufwand und Publikumserfolg: Er habe Jahrzehnte großen historischen Untersuchungen gewidmet, die bestenfalls „von zwei oder drei Fachkollegen“ zur Kenntnis genommen würden, während diese beiden Aufsätze, in zwei schlaflosen Nächten hingeschrieben, enorme Breitenwirkung entfaltet hätten. Inzwischen ist er durch diese brillanten Aufsätze, die auch ins Deutsche übersetzt worden sind, auch mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten einem größeren Publikum bekannt geworden.
Die Prinzipien der menschlichen Dummheit
Dies sind kurzgefasst die fünf fundamentalen Gesetze bzw. Prinzipien[5] der Dummheit, die Cipolla satirisch in seinem Werk Die Prinzipien der menschlichen Dummheit beschreibt:
Stets und unvermeidlich wird die Zahl der im Umlauf befindlichen dummen Individuen unterschätzt.
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Person dumm ist, besteht unabhängig von jeder anderen Eigenschaft dieser Person. Demzufolge gibt es einen stets gleich hohen Anteil an Dummen in allen gesellschaftlichen Gruppen, sowohl bei Hausmeistern wie bei Universitätsprofessoren.
Ein dummer Mensch ist jemand, der einer anderen Person oder einer Gruppe von Personen Schaden zufügt, ohne selber dabei Gewinn zu erzielen und dabei u. U. sogar zusätzlichen Verlust macht (das sogenannte „goldene Prinzip“).
Menschen, die nicht dumm sind, unterschätzen stets das Gefährlichkeitspotential dummer Menschen. Vor allem vergessen Menschen, die nicht dumm sind, ständig, dass Verhandlungen und/oder Verbindungen mit dummen Personen zu jedem Zeitpunkt, an jedem Ort und in jedem Fall sich unweigerlich als teurer Irrtum herausstellen werden.
Eine dumme Person ist der gefährlichste Typ aller Personen.
Seine Conclusio: Die Dummheit richtet mehr Schaden an als Verbrechen. Denn gegen Verbrecher kann man sich schützen, aber der Dumme handelt vollkommen irrational und unvorhersehbar, und gegen das Unvorhersehbare gibt es keinen Schutz.[6]
In der Abbildung sind die zwei „Faktoren“, die Cipolla bei Menschen beobachtete, dargestellt:
Die X-Achse sind Gewinne (hohe Werte/obere Abschnitte) und Verluste (niedrige Werte/untere Abschnitte), die ein Individuum für sich selbst bewirkt,
Die y-Achse sind die Gewinne (hohe Werte) und Verluste (niedrige Werte), die ein Individuum für andere bewirkt.
Dumme Menschen (unten links in der Grafik) sind kontraproduktiv für sich selbst und für andere
Banditen (unten rechts) verfolgen ihre eigenen Interessen (haben selbst einen Gewinn), auch wenn dabei ein Netto-Nachteil für die gesellschaftliche Wohlfahrt entsteht.
Intelligente Menschen (oben rechts) tragen zur Gesellschaft bei und nutzen ihre Beiträge auch zu gegenseitigen Vorteilen
Naive Menschen (oben links) tragen ebenfalls zur Gesellschaft bei (es profitieren die anderen), haben selbst aber keinen Nutzen.
In der Mitte befinden sich die hilflosen und ineffektiven Menschen.[6]
Diese Darstellung kann nur die Essenz der „Theorie“ von Cipolla vermitteln. Für das volle satirische Verständnis wird die Lektüre des Originals oder einer Übersetzung empfohlen.
Schriften (Auswahl)
Carlo Cipolla verfasste – auf Englisch und Italienisch – zahlreiche Bücher über Themen der Wirtschaftsgeschichte, darunter:
The economic history of world population. Penguin, Harmondsworth 1962
deutsch: Wirtschaftsgeschichte und Weltbevölkerung. dtv, München 1972, ISBN 3-423-04110-2
Literacy and Development in the West. Penguin, Harmondsworth 1969
italienisch: Istruzione e sviluppo. Il declino dell’analfabetismo nel mondo occidentale. Il Mulino, Bologna 2002
Cristofano and the Plague. University of California Press, Berkeley 1973
Storia economica dell’Europa pre-industriale. Il Mulino, Bologna 1974
englisch: Before the industrial Revolution. European society and economy 1000–1700. Methuen, London 1976, ISBN 0-416-80900-6
Faith, Reason, and the Plague in Seventeenth-Century Tuscany. Cornell University Press, Ithaca 1979
Fighting the Plague in Seventeenth-Century Italy. University of Wisconsin Press, Madison 1981
Le macchine del tempo. L’orologio e la società (1300–1700). Il Mulino, Bologna 1981
deutsch: Gezählte Zeit. Wie die mechanische Uhr das Leben veränderte. Wagenbach, Berlin 2011, ISBN 978-3-8031-2665-8
Contro un nemico invisibile. Epidemie e strutture sanitarie nell’Italia del Rinascimento. Il Mulino, Bologna 1986
Tra due culture. Introduzione alla storia economica. Il Mulino, Bologna 1988
Allegro ma non troppo. Il Mulino, Bologna 1988
deutsch: Allegro ma non troppo. Die Rolle der Gewürze (insbesondere des Pfeffers) für die wirtschaftliche Entwicklung des Mittelalters. Die Prinzipien der menschlichen Dummheit. Übersetzt von Moshe Kahn. Wagenbach, Berlin 2001, ISBN 3-8031-1197-8, 3. Auflage 2018, ISBN 978-3-8031-1197-5
deutsch (nur der zweite Essay): Die Prinzipien der menschlichen Dummheit. Übersetzt von Moshe Kahn. Liebeskind, München 2018, ISBN 978-3-95438-086-2
↑Cipolla, so berichtet es auch die italienischsprachige Wikipedia, heißt eigentlich nur Carlo. Das „M“ habe er als middle name aus zwei Gründen eingefügt: Weil mindestens ein zweiter (abgekürzter) Vorname im angelsächsischen Raum üblich ist, und weil er nicht mit dem gleichnamigen Historiker verwechselt werden wollte. Das „M“ wurde im Nachhinein als „Maria“ (bzw. „Manlio“) gedeutet, weil die Kombination Carlo Maria sehr häufig ist. In Cipollas amtlichen Dokumenten kommt weder „M“ noch "Maria vor. Manlio findet sich z. B. hier
↑Carlo M. Cipolla: Allegro ma non troppo. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Klaus G Renner, München 1989. ISBN 978-3-927480-02-5.
↑Carlo M. Cipolla: Allegro ma non troppo: Die Rolle der Gewürze (insbesondere des Pfeffers) für die wirtschaftliche Entwicklung des Mittelalters / Die Prinzipien der menschlichen Dummheit. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-596-10562-5.
↑Carlo M. Cipolla: Allegro ma non troppo: Die Rolle der Gewürze (insbesondere des Pfeffers) für die wirtschaftliche Entwicklung des Mittelalters / Die Prinzipien der menschlichen Dummheit. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Wagenbach, Berlin 2001, ISBN 3-8031-1197-8.
↑Der Autor spricht von den Leggi fondamentali. Als gebildeter Mann kannte er die „Grundgesetze der Thermodynamik“, auf die er ironisch anspielt. Im Deutschen ist durch die Übersetzung als „Prinzipien“ in der sonst hervorragenden Übersetzung dieser Wortwitz verloren gegangen.