Nach dem Abitur im Jahre 1951 wurde Wolf die Aufnahme eines Studiums wegen seiner bürgerlichen Herkunft verweigert. Er war zwei Jahre als Bauarbeiter tätig, bevor er im Juli 1953 die DDR verließ und in den Westen ging. In Stuttgart war er zunächst ein Jahr als Hilfsarbeiter tätig. Wolf schrieb sich dann an der Universität Frankfurt am Main zum Studium der Literatur, Soziologie sowie Philosophie ein und begann bald, in der Studentenzeitung Diskus Prosa, Lyrik und Bildcollagen, aber auch Literatur-, Theater- und Jazz-Kritiken zu publizieren. Wolf wurde Feuilletonredakteur beim Diskus und später Literaturredakteur beim Hessischen Rundfunk; seit 1963 war er freier Schriftsteller. In Frankfurt gehörte Wolf zum Freundeskreis der Fotografin Abisag Tüllmann.
Ror Wolf lebte und arbeitete nach über dreißig Umzügen in Mainz. Der Künstlername setzt sich zusammen aus dem Buchstaben R von Richard und or in Georg; das Pseudonym Tranchirer entwickelte er aus dem rückwärts gesprochenen Vornamen: Drahcir ~ tranchir = Tranchirer (Zerschneider).
Wolfs Laufbahn als Autor begann 1958 mit Veröffentlichungen im Diskus. 1964 erschien sein erster Roman Fortsetzung des Berichts, der als eines der wenigen Beispiele für einen deutschsprachigen Nouveau roman gewertet werden kann und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Buch Der Schatten des Körpers des Kutschers von Peter Weiss erkennen lässt. In der Folge baute Wolf seine an Samuel Beckett, Franz Kafka und Robert Walser geschulte Prosa weiter aus, die schnell zu einem ebenso kunstvollen wie unverwechselbaren Ton fand; es erschienen Bücher wie Pilzer und Pelzer (1967) und Die Gefährlichkeit der Großen Ebene (1976). Später tritt in Nachrichten aus der bewohnten Welt (1992) und Zwei oder drei Jahre später (2003) eine radikale Verdichtung bei gleichzeitiger äußerer Verknappung seiner Prosa ein. Dabei sind Einflüsse aus Surrealismus, Phantastik, Abenteuer- und Kriminalliteratur ebenso nachweisbar wie humoristische und erotische Motive, die seine Bücher bei allem literarischen Anspruch ausgesprochen unterhaltsam machen. Dies gilt insbesondere für die in Aussichten auf neue Erlebnisse (1996) und Pfeifers Reisen (2007) gesammelten Gedichte.
Wolfs Thema war eine spielerisch-abgründige Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, die bei ihm nur als hochmelodiöser Wortraum existiert. Trotzdem handelte es sich bei seinen Büchern, die die Grenzen traditioneller Erzählmuster souverän überwinden, keineswegs um Sprachspiele ohne Realitätsbezug. Wie viel Wirklichkeit sich mit dem wolfschen Verfahren abbilden lässt, zeigten gerade die populären Fußballbücher und die dazugehörenden Radio-Collagen sehr deutlich: „Die Welt war zwar kein Fußball, aber im Fußball, das ist kein Geheimnis, findet sich eine ganze Menge Welt“ (RW). Wolf faszinierte das, was hinter dem Fußball steht, was durch ihn erkennbar wird und sich durch ihn darstellen lässt – z. B. zwei völlig unterschiedliche Weisen, ein und dasselbe Spiel zu kommentieren (vgl. das Hörspiel Córdoba Juni 13.45 Uhr, 1979). In diesem Sinn hat er zahlreiche Arbeiten aus aufgefundenen O-Tönen von Journalisten und Fans montiert. – Seit 1969 konnte sich Ror Wolf auch als Verfasser von Rundfunkarbeiten einen Namen machen. Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nordamerika (1986) wurde 1988 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet und gilt dank zahlreicher Ausstrahlungen als eines der erfolgreichsten deutschen Hörspiele.
Ror Wolf war auch bildender Künstler. Seit den frühen sechziger Jahren verfertigte er – hierin Max Ernst, aber auch Peter Weiss vergleichbar – surrealistische Collagen mit Materialien aus der Gründerzeit, die er alten Lexika, Zeitschriften und Benimmratgebern entnahm. Ergänzt durch entsprechende Textkonzentrate, bildeten die solchermaßen gewonnenen Motive die Enzyklopädie für unerschrockene Leser, die es seit 1983 auf sechs Bände gebracht hatte und sich als Parodie auf Gelehrsamkeit, Autorität und positivistische Welterkennungsstrategien lesen ließ.
Ror Wolf war Ehrenspielführer der 2005 gegründeten Autorennationalmannschaft Autonama.
Im April 2006 kündigte Wolf in einem Interview in der tageszeitung an, sein Tonarchiv, das er bei der Arbeit zu den Radiocollagen angelegt hatte, vernichten zu wollen, da er sich damit nicht mehr beschäftigen werde, obwohl er sehr viel weiterzugeben habe.[3] Dazu kam es nicht. Ende 2007 wurde dem Deutschen Literaturarchiv Marbach ein erstes Konvolut mit frühen Manuskripten und Korrespondenz überlassen. Teile des Vorlasses sind im Literaturmuseum der Moderne in Marbach in der Dauerausstellung zu sehen.[4] Dem Südwestrundfunk überließ er die mit der wissenschaftlichen Erschließung abgestimmte radiophone Nutzung. Daraus entstand das Hörspiel Angriff ist die beste Verteidigung – ein von Ror Wolf vorgelassenes Hörspiel von Hermann Bohlen, Erstsendung in SWR2 am 3. Juli 2009. 2011 und 2012 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung mehrere Collagen sowie Ausschnitte aus dem unveröffentlichten Roman Neunundzwanzig Versuche, die Welt zu verschlingen.[5] 2015 erschienen, ebenfalls in der FAZ, einige Folgen seiner Collagen zu Ror Wolfs gereimte Welten[6][7][8] und zu dem neuen Werk Ror Wolf: Die plötzlich hereinkriechende Kälte im Dezember.[9][10] Das Museum Bensheim zeigte vom 6. März bis 24. April 2016 eine repräsentative Auswahl seiner surrealen Collagen unter dem Titel Ror Wolfs wunderbare Welten.
Danke schön. Nichts zu danken. Geschichten, Suhrkamp 1969.
Punkt ist Punkt. Fußball-Spiele. Suhrkamp 1971; erw. Ausgabe ebd. 1973; erste Version: Punkt ist Punkt. Beschäftigung mit dem Fußball. In: Renate Matthaei (Hrsg.): Trivialmythen März, Frankfurt am Main 1970, S. 20–39; Neuaufl. Area, Erftstadt 2004, ISBN 3-89996-029-7, S. 340–359.
Auf der Suche nach Doktor Q. Hörspiel-Trilogie, Suhrkamp 1976.
Die Gefährlichkeit der großen Ebene. Roman und kurze Prosa, Suhrkamp 1976.
Die heiße Luft der Spiele. Prosa und anderes, Suhrkamp 1980.
Das nächste Spiel ist immer das schwerste. (Sammelband aller Fußballtexte) Athenäum 1982, erw. Neuausgabe Haffmans 1990, häufige Neuaufl., zuletzt Schöffling, Frankfurt 2008, ISBN 978-3-89561-324-1.
Hans Waldmanns Abenteuer. Moritaten, Balladen und andere Gedichte, Haffmans 1985.
Mehrere Männer. Prosa und Bildcollagen, Luchterhand 1987.
Ausflug an den vorläufigen Rand der Dinge. Prosa 1957–1976 mit Bildcollagen, Luchterhand 1988.
Ein Komplott aus Spiel, Spaß und Entsetzen. Prosa, Lyrik, Collagen, hrsg. von Karl Riha, Reclam 1994.
Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nordamerika. Radio-Reisen. Hörspiele (darin die CD Vier Radio-Collagen) Schöffling 2000.
Zwei oder drei Jahre später. Siebenundvierzig Ausschweifungen. Frankfurter Verlagsanstalt 2003.
Zwei oder drei Jahre später. Neunundvierzig Ausschweifungen. erw. Neuausgabe (enthält Die neunundvierzigste Ausschweifung) Schöffling 2007.
Pfeifers Reisen. Gedichte. Schöffling 2007.
Verschiedene Möglichkeiten, die Ruhe zu verlieren. Ein Lesebuch, hrsg. von Brigitte Kronauer, Schöffling 2008.
Die Vorzüge der Dunkelheit. Neunundzwanzig Versuche die Welt zu verschlingen. Horrorroman. Schöffling, Frankfurt am Main 2012, ISBN 978-3-89561-307-4.
Die plötzlich hereinkriechende Kälte im Dezember. Schöffling, Frankfurt am Main 2015, ISBN 978-3-89561-306-7.
Die alten Zeiten sind vorbei, Regie: Ror Wolf, HR 1979.
Expertengespräche, Regie: Ror Wolf, HR 1979.
Heinz, wie ist Deine Ansicht?, Regie: Ror Wolf HR 1979.
Cordoba Juni 13 Uhr 45, Regie: Ror Wolf, HR 1979.
Tonträger
Die heiße Luft der Spiele, Hörspielcassette, Hessischer Rundfunk 1980.
Der Ball ist rund / Schwierigkeiten beim Umschalten, Radio-Collagen, Schallplatte, Edition RZ 1987.
Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nordamerika, Hörspielkassette, Klett-Cotta 1989; CD Aufbau/Audio-Verlag 2000.
Radio-Collagen. Fußball-WM 1974 und 1978, CD, Anabas 1998.
Vier Radio-Collagen, CD, in: Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nordamerika. Radio-Reisen, Schöffling & Co. 2000.
Dichter Stimmen 2: 70er Jahre, 3CD-Box, Der Hörverlag 2005; darin ein zwanzigminütiger Ausschnitt aus Die Gefährlichkeit der großen Ebene, gelesen von Ror Wolf.
Gesammelte Fußballhörspiele, Zehn Radiocollagen aus vergangenen Tagen und Das langsame Erschlaffen der Kräfte, herausgegeben von Jürgen Roth, 4CD-Box, Intermedium 2006.
Die neunundvierzigste Ausschweifung, gelesen von Christian Brückner, DoCD, Parlando 2007.
Die Vorzüge der Dunkelheit, gelesen von Christian Brückner, DoCD, Parlando 2012.
Übersetzungen (Auswahl)
La terrible festin, französische Ausgabe von Fortsetzung des Berichts, übersetzt von Lily Jumel, Gallimard, Paris 1970.
Tentativi di mantenere la calma, zweisprachige italienisch-deutsche Sammlung von Kurzprosa, hrsg. und übersetzt von Giovanni Nadiani, Mobydick, Faenza 2001.
Obdas Maestras del relato breve. Con Orientaciones didácticas, spanische Anthologie, darin als De Hombres varios eine Auswahl aus Mehrere Männer, übersetzt von Rolando Sánchez Mejias, Oceano, Barcelona 2003.
Two or Three Years Later. Fourty-Nine Digressions, englische Ausgabe von Zwei oder drei Jahre später, übersetzt von Jennifer Marquardt, Open Letter Books, Rochester 2013.
Karanlığın Faydaları, türkische Ausgabe von Die Vorzüge der Dunkelheit, Everest Yayinlari, Istanbul 2014.
Lothar Baier (Hrsg.): Über Ror Wolf. Suhrkamp 1972.
Oliver Jahn, Kai U. Jürgens (Hrsg.): Ähnliches ist nicht dasselbe. Eine rasante Revue für Ror Wolf. Verlag Ludwig, Kiel 2002, ISBN 3-933598-59-1.
Anfang und vorläufiges Ende. Materialien zur Werkausgabe. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1992.
Ivo Wessel (Hrsg.): »Im Grunde rechne ich mit allem.« Der Schriftsteller Ror Wolf und der Charme des Unerwarteten. Ausstellungskatalog auf CD-ROM. Selbstverlag 2002.
Studien
Ina Appel: Von Lust und Schrecken im Spiel ästhetischer Subjektivität. Über den Zusammenhang von Subjekt, Sprache und Existenz in [der] Prosa von Brigitte Kronauer und Ror Wolf. Königshausen & Neumann, 2000.
Thomas Bündgen: Sinnlichkeit und Konstruktion. Die Struktur moderner Prosa im Werk von Ror Wolf. Peter Lang, 1985.
Espen Ingebrigtsen: »Es sind meine Worte, die Ihnen in die Glieder fahren.« Ironie und Bildlichkeit in Raoul Tranchirers »Enzyklopädie für unerschrockene Leser«. Univ., Magisterarbeit. Bergen 2007. (online, PDF; 995 kB)
Kai U. Jürgens: Zwischen Suppe und Mund. Realitätskonzeption in Ror Wolfs »Fortsetzung des Berichts«. Verlag Ludwig, Kiel 2000, ISBN 3-933598-10-9.
Barbara Raschig: Bizarre Welten. Ror Wolf von A bis Z. Siegen, Univ., Diss., 2000. (online)
Martin Schmitt: Nichts als die Wahrheit. Sprache und Welt in Ror Wolfs Prosa. Kirsch, 2004.
Martin Schmitt: Unterwegssein. Präsenz und Absenz in Ror Wolfs Kürzestprosa. Aisthesis, 2004.
Rolf Schütte: Material Konstitution Variabilität. Sprachbewegungen im literarischen Werk von Ror Wolf. Peter Lang, 1987.
↑Ror Wolfs Welten in: FAZ vom 8. September 2011, Seite R8, Die Reise nach O am 29. September 2011, Seite R8 und Weiter hinein in die Wälder am 26. Januar 2012, Seite R8.
↑3. Die Beschreibung des Wetters in FAZ vom 7. Mai 2015, Seite R8.