Die Orgellandschaft Thüringen umfasst den historisch gewachsenen Orgelbestand im Freistaat Thüringen. Die Kulturregion war seit der Erfurter Teilung (1572) einer Aufteilung in verschiedene Fürsten- und Herzogtümer und sich ändernden Grenzverläufen unterworfen. Vom 17. bis 19. Jahrhundert entwickelte sich eine eigenständige Orgellandschaft, die mit dem Wirken von Tobias Heinrich Gottfried Trost ihre Blütezeit erreichte.
Der Artikel befasst sich mit der Geschichte des Orgelbaus und den erhaltenen Orgeln im Gebiet des heutigen Thüringen. Weiterführende Informationen zu einzelnen Instrumenten sind in der Liste von Orgeln in Thüringen zu finden.
Im 13. Jahrhundert finden sich erste Hinweise auf Orgeln in Thüringen. So ist für das Jahr 1225 eine Orgel im Erfurter Dom nachweisbar,[1] für 1226 eine in der dortigen Peterskirche der Benediktinerabtei.[2] Das Chorgestühl des Erfurter Doms ist mit spätgotischem Schnitzwerk aus den 1350er Jahren verziert, das einen Engel zeigt, der ein kleines Positiv spielt.[3] Die älteste erhaltene Orgel Thüringens wurde im Jahr 1590 im Auftrag von Landgrafen Wilhelm IV. von Daniel Meyer aus Göttingen fertiggestellt. Das Instrument in Schloss Wilhelmsburg in Schmalkalden hat sechs Holzregister mit insgesamt 252 Pfeifen und steht damit wie die Orgel von Schloss Frederiksborg von Esaias Compenius dem Älteren in der Tradition des „organo di legno“. Die Prospektpfeifen sind mit Gold und Elfenbein belegt und werden durch geschnitztes Rankenwerk bekrönt. Vier Labial- und zwei Zungenregister ermöglichen ein reiches Klangspektrum, in dem italienische mit norddeutsch-niederländischen Farben zu einer Einheit verschmelzen.[4] Der Prinzipal hat vokale Qualität, die Flöten klingen sanft und die beiden Regalregister herbe und altertümlich. Das Werk ist eine der bedeutendsten Renaissance-Orgeln in Nordeuropa.[5]
Barock
Im Zeitalter des Barock erreichte der thüringische Orgelbau seinen Höhepunkt. Im Vergleich mit dem konventionelleren sächsischen Orgelbau waren die Dispositionen fantasiereicher und kammermusikalischer.[6] Die Prospekte waren komplexer und zeichneten sich durch eine große Zahl von Türmen und Pfeifenfeldern mit eigenen profilierten Gesimsen aus.
Ludwig Compenius entstammte der bekannten Familie Compenius, die zu den führenden mitteldeutschen Orgelbauerfamilien im 16. und 17. Jahrhundert gehörte. Von ihm ist der frühbarocke Prospekt in der Erfurter Predigerkirche aus dem Jahr 1648 erhalten.[7] Die Orgelbauerfamilie Papenius, deren Stammvater Georg Benedict Papenius um 1662 in Nordhausen wirkte, war anfangs vor allem in Nordthüringen aktiv. Zeugnis ist die noch erhalte Orgel aus dem Jahre 1662 in der St. Martin und Johannes-Kirche in Bielen.
Johann Osan schuf 1668 eine Orgel in Oberweimar/St. Peter und Paul, von der noch das historische Gehäuse original ist. Der sächsische Orgelbauer Christoph Donat baute 1683 in der EisenbergerSchlosskirche ein Instrument, das Tobias Heinrich Gottfried Trost 1731–1733 erweiterte. Von Johann Friedrich Wender sind in der Johann-Sebastian-Bach-Kirche (Arnstadt) der Prospekt und 320 Pfeifen aus den Jahren 1699–1703 erhalten. Johann Sebastian Bach hatte an der neuen Orgel von 1703 bis 1707 seine erste Organistenstelle inne. In Bachs Taufkirche, der Georgenkirche in Eisenach, ist der Prospekt des Eisenacher Orgelbauers Georg Christoph Stertzing (1707) erhalten. Die noch zum großen Teil originale Stertzing-Orgel in Büßleben/St. Petri stammt aus dem Jahr 1702. Sie wurde ursprünglich für die ErfurterPeterskirche gebaut und 1812 nach der Aufhebung des Benediktinerklosters umgesetzt.[8]
Der bedeutendste thüringische Orgelbauer war Tobias Heinrich Gottfried Trost. Insgesamt baute er 21 neue Orgeln, fünf baute er um. Erhalten sind seine Orgeln in Großengottern/St. Walpurgis (1712–1716), in der Stadtkirche Waltershausen (1722–1730), in der Schlosskirche Altenburg (1736–1739), Thonhausen (1744–1746). Seine Werke in Altenburg und Waltershausen zählen „zu den Glanzleistungen des mitteldeutschen Orgelbaus im 18. Jahrhundert“.[13] Trost war ein innovativer Orgelbauer, der im Gegensatz zu Silbermann experimentierfreudig war. Typisch für den thüringischen Orgelbau sind die zahlreichen Acht-Fuß-Register in Äquallage, die ungewöhnlichen Klangfarben und das sanfte Plenum.[6]
Im Bachhaus Eisenach sind mehrere Positive aus dem Barock ausgestellt, darunter eins von 1650, das älteste erhaltene thüringische Orgelpositiv.[14]
Rokoko und Klassizismus
Johann Michael Wagner begründete zusammen mit seinem Bruder Johannes Wagner ein Familienunternehmen, das über drei Generationen in Thüringen und Hessen tätig war. Die Familie Holland übernahm später die praktische Ausführung. Johann Michael Wagner selbst wirkte fast sechs Jahrzehnte als Orgelbauer. Erhalten ist seine Orgel in der Suhler Marienkirche (1760–1762). Von Johann Stephan Schmaltz stammen die Orgeln in Kornhochheim/St. Nikolaus (1745), Elleben (1768), Altenfeld (1776) und Hohenebra/Kirche „Gloria Deo“ (1778).
Von Johann Benjamin Witzmann stammt das Instrument in Oßmannstedt/St.-Petrus-Kirche aus dem Jahr 1810.[20] Fast vollständig erhalten ist die Orgel von Johann Christian Adam Gerhard in Dornburg/St.-Jacobi-Kirche (1820), die fünf Register aus der Vorgängerorgel einbezog. Weitgehend original ist sein Werk in Großobringen/St. Peter und Paul (1819/1820). Sein denkmalgeschütztes Spätwerk in Saalborn (1834) steht an der Schwelle vom Klassizismus zur Frühromantik.
Romantik
Wie auch in anderen Orgellandschaften gingen mit dem Wandel der Klangästhetik in der Romantik große Veränderungen im Orgelbau einher. Das klassische Werkprinzip wurde aufgegeben. Aliquotregister, Zungen- und gemischte Stimmen wichen grundtönigen Registern, die eine möglichst stufenlose Klangdynamik ermöglichten. Die neuartigen Traktur- und Ladensysteme, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzten, revolutionierten den Orgelbau. Ab 1880 wurden die Prospekte vorwiegend neogotisch gestaltet.
Die Orgelbauerfamilie Schmerbach brachte in drei Generationen einen Johann Wilhelm Schmerbach hervor, was die spätere Zuweisung erschwert. Johann Wilhelm Schmerbach der Jüngere schuf 1838 in Rengelrode ein Werk, das fast keine Änderungen erfahren hat.[21] Äußerst produktiv war die Orgelbauerfamilie Knauf. Valentin Knauf baute eine Orgel in Frankenhain/St. Leonhardi (1843),[22] sein Sohn Friedrich Knauf eine für Schloss Friedenstein (1858).
Ende des 19. Jahrhunderts ging der thüringische Orgelbau im allgemeinen Orgelbau auf. Überregional und teils international tätige Orgelbauer beherrschten das Feld und produzierten Orgeln in großer Stückzahl. Der berühmte Friedrich Ladegast aus Weißenfels schuf die Orgel in Rudolstadt/St. Andreas (1882) hinter dem historischen Prospekt von 1636. Das dreimanualige Werk von Richard Kreutzbach (Borna) in der Johanniskirche Gera (1885) hatte Kastenladen und Glasspielventile, die Kreutzbach selbst entwickelt hatte.[24] An der Orgel von Martin Josef Schlimbach & Sohn in der Stadtkirche Meiningen (1889) wirkte Max Reger von 1911 bis 1914.[25] Die Orgel von Wilhelm Sauer in der Stadtkirche Bad Salzungen (1909) wurde nach Vorstellungen von Reger konstruiert. Sauer hatte in Frankfurt an der Oder ein Fabrikationsgebäude und baute zu Lebzeiten über 1100 Orgeln. Erhaltene Werke stehen in Mühlhausen/Marienkirche (1891), Lutherkirche Apolda (1894) und Saalfeld/Johanniskirche (1894, hinter barockem Prospekt). Ernst Röver baute eine Orgel mit pneumatischer Traktur in der Salvatorkirche Gera (1903–1905).
Einige Kirchen besitzen eine Orgel von E. F. Walcker & Cie aus Ludwigsburg, so die Herderkirche in Weimar (1907). Das Werk in Ilmenau/St.-Jakobus-Kirche (1911) ist mit elektropneumatischen Kegelladen ausgestattet[26] und ist mit 65 Registern auf drei Manualen und Pedal die größte romantische Orgel in Thüringen.[27] Die Walcker-Orgel im Erfurter Augustinerkloster (1936) hat einen Freipfeifenprospekt.[28]
Hartmut Haupt: Orgeln im Bezirk Suhl. Herausgeber: Rat des Bezirks Suhl, Abt. Kultur sowie Staatliche Museen Meiningen, Suhl 1985, DNB891509186, 72 S.
Hartmut Haupt: Orgeln im Bezirk Gera – eine Übersicht über die Orgellandschaft Ostthüringen. Herausgeber: Rat des Bezirkes Gera, Abt. Kultur, Gera 1989, DNB968413137, 96 S.
Hartmut Haupt: Orgeln in Ost- und Südthüringen. Ausbildung und Wissen, Bad Homburg / Leipzig 1995, ISBN 3-927879-59-2.
Hartmut Haupt: Orgeln in Nord- und Westthüringen. Hrsg.: Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege, Landeskonservator Rudolf Zießler. Ausbildung und Wissen GmbH, Bad Homburg und Leipzig 1998, ISBN 3-932366-00-X.
Hartmut Haupt: Thüringen – Eine Orgellandschaft. In: Rebekka Fritz, Christian Bettels (Hrsg.): „Denen Liebhabern, und besonders denen Kennern von dergleichen Arbeit, zur Gemüths Ergezung“. Winfried Schlepphorst zum 65. Geburtstag. Bärenreiter, Kassel 2002, ISBN 3-7618-1576-X, S.105–109.
Viola-Bianka Kießling: Königin der Instrumente. Ein Orgel-Führer durch die Region Weimar und Weimarer Land. Hrsg. Landratsamt Weimarer Land, Fagott-Orgelverlag, Friedrichshafen 2007, ISBN 978-3-00-021071-6.
Uwe Pape (Hrsg.): Lexikon norddeutscher Orgelbauer. Band1: Thüringen und Umgebung. Pape Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-921140-86-4.
↑Friedrich, Kneipel: Orgeln in Thüringen. 2010, S. 118.
↑Harald Vogel: The Genesis and Radiance of a Court Organ. In: Kerala J. Snyder (Hrsg.): The Organ as a Mirror of Its Time. North European Reflections, 1610–2000. Oxford University Press, Oxford 2002, ISBN 0-19-514415-5, S.48–59, hier: 48 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
↑ abDähnert: Historische Orgeln in Sachsen. 1980, S. 14.