Hominisation

March of Progress („Fortschrittsmarsch“): PopulĂ€re Darstellung von VerĂ€nderungen des Körperbaus im Verlauf der Hominisation
Ursprung fĂŒr alle spĂ€teren Reihungen war diese Zeichnung von Gibbon, Orang-Utan, Schimpanse, Gorilla und Mensch in Evidence as to Man’s Place in Nature (1863) von Thomas Henry Huxley

Als Hominisation (auch Anthropogenese, selten Anthropogenie) wird die evolutive Herausbildung des MerkmalsgefĂŒges bezeichnet, das fĂŒr den anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens) charakteristisch ist.

Im Verlauf der Hominisation haben sich sowohl seine körperlichen Eigenschaften als auch seine geistigen FĂ€higkeiten herausgebildet. Hierzu gehören insbesondere der aufrechte Gang, das Gebiss mit verkĂŒrztem, parabolischem Zahnbogen und kleinen EckzĂ€hnen sowie der spĂ€te Eintritt der Geschlechtsreife; ferner die VergrĂ¶ĂŸerung des Gehirns und die hiermit verbundenen kulturellen und sozialen FĂ€higkeiten, die heute lebende Menschen und deren Vorfahren von den anderen Menschenaffen unterscheiden.

Anhand von Fossil­funden und molekularbiologischen Datierungen wird der Beginn der Hominisation in die Zeit vor 7 bis 5 Millionen Jahren datiert, als sich die Entwicklungslinie der Schimpansen von der zum Menschen fĂŒhrenden Entwicklungslinie der Hominini trennte.

Auch in der Gegenwart ist die Evolution des Menschen nicht zum Stillstand gekommen.[1][2][3][4][5]

Anatomische Besonderheiten und Verhalten

Die folgenden Merkmale unterscheiden, dem US-amerikanischen Anatomen C. Owen Lovejoy zufolge, den anatomisch modernen Menschen (den Homo sapiens) von den anderen Arten der Menschenaffen: der aufrechte Gang, ein großer Neocortex (ein Bereich der Großhirnrinde), verkleinerte SchneidezĂ€hne und EckzĂ€hne, ein einzigartiges sexuelles und reproduktives Verhalten sowie materielle Kultur.[6] Chris Stringer verwies ferner auf einen großen, rundlichen SchĂ€del (bedingt durch das stark gewölbte Scheitelbein), allenfalls sehr kleine ÜberaugenwĂŒlste und einen Knochenvorsprung (das Kinn) am Unterkiefer.[7]

Leslie Aiello nannte 2014 folgende Merkmale: „großer, gradliniger Oberkörper, verlĂ€ngerte Beine, großes Gehirn, verringerter Sexualdimorphismus, verstĂ€rkter Fleischkonsum, einzigartige Merkmale der Lebensgeschichte (z. B. verlĂ€ngerte Embryonal- und Fötalphase sowie Langlebigkeit), ferner Herstellung von Werkzeugen und gesteigerte soziale Kooperation.“[8] Große genetische und morphologische Unterschiede im Vergleich mit Schimpansen weist ferner die Haut auf.[9]

Eines der Ă€ltesten menschenĂ€hnlichen anatomischen Merkmale ist die Gestalt des Amboss im Mittelohr, die bereits fĂŒr Australopithecus africanus und Paranthropus robustus belegt ist und sich vermutlich schon bei deren letztem gemeinsamen Vorfahren von der Gestalt des Amboss bei den Schimpansen unterschied.[10] Die BrustwirbelsĂ€ule bestand bereits beim 3,3 Millionen Jahre alten Fossil DIK 1-1, einem jugendlichen Australopithecus afarensis, wie bei den meisten spĂ€teren Hominini aus 12 Wirbeln und nicht, wie bei den meisten Schimpansen, aus 13 Wirbeln.[11]

Ein Vergleich von Skelettfunden des frĂŒhen Homo aus unterschiedlichen Regionen Afrikas und Georgiens – ohne BerĂŒcksichtigung ihrer Zuordnung zu bestimmten Arten – ergab Hinweise auf erhebliche regionale GrĂ¶ĂŸen- und Gewichtsunterschiede (siehe Tabelle).[12]

Fundort und Alter[12] KörpergrĂ¶ĂŸe Körpergewicht
Koobi Fora, jĂŒnger als 1,7 mya 157 – 178 cm 60 – 81 kg
SĂŒdafrikanische Höhlen, 1,8 bis 1,4 mya 136 – 159 cm 32 – 62 kg
Olduvai-Schlucht, 1,75 mya 134 – 162 cm 38 – 65 kg
Dmanissi, 1,8 mya 147 – 153 cm 46 – 53 kg
Koobi Fora, Ă€lter als 1,8 mya 148 – 168 cm 39 – 68 kg

UngeklĂ€rt ist bislang die Frage, warum sich die zum Menschen fĂŒhrende Entwicklungslinie von jener getrennt hat, die zu den Schimpansen fĂŒhrte. Der polnische Humanbiologe BogusƂaw PawƂowski bezeichnete dies als „eines der grĂ¶ĂŸten RĂ€tsel der menschlichen Evolution“.[13]

Aufrechter Gang

Fußspuren im Vergleich: die grĂŒnen Linien verbinden Punkte gleicher Druckbelastung.
links: Australopithecus (3,6 Mio. Jahre alt)
Mitte: Homo erectus (1,5 Mio. Jahre alt)
rechts: anatomisch moderner Mensch

Anhand der Skelettmerkmale zahlreicher Fossilfunde konnte belegt werden, dass sich der aufrechte, zweibeinige Gang (Bipedie) in der Familie der Menschenaffen deutlich frĂŒher entwickelte als die starke VergrĂ¶ĂŸerung des Gehirns.[14] C. Owen Lovejoy bezeichnete 1988 den Übergang zum aufrechten Gang als die augenfĂ€lligste VerĂ€nderung der Anatomie, die man in der gesamten Evolutionsbiologie bisher nachgewiesen habe.[15]

Richard Leakey zufolge ist diese VerĂ€nderung derart einzigartig, „dass wir berechtigt sind, alle Arten von zweibeinigen Menschenaffen als menschlich [human] zu bezeichnen.“[16] Eine so weitgehende Festlegung ist allerdings in Fachkreisen umstritten, da nicht alle Fossilfunde von zumindest zeitweise aufrecht gehenden, menschenaffen-Ă€hnlichen Individuen der unmittelbaren Vorfahrenreihe des Menschen zuzuordnen sind[17] und sich der aufrechte Gang demnach mehrfach unabhĂ€ngig voneinander im Formenkreis der Menschenaffen entwickelt zu haben scheint.[14]

Möglich war dies, weil bereits im mittleren MiozĂ€n – vor rund 10 Millionen Jahren – bei den Vorfahren der Menschenaffen die zuvor arborikal-quadrupede (vorwĂ€rts geneigt und vierbeinig ĂŒber Ästen schreitende) Fortbewegungsweise in eine suspensorische (unter den Ästen hangelnde) Fortbewegungsweise ĂŒbergegangen war, was eine allmĂ€hlich fortschreitende Umgestaltung von Armen, Beinen und Rumpfskelett zur Voraussetzung hatte. Diese Umgestaltung, die bei vielen Primaten-Arten des MiozĂ€ns nachweisbar ist, gilt wiederum als bedeutende Voranpassung fĂŒr den spĂ€teren Übergang zu einer bodenlebenden, zweibeinig-aufrechten Fortbewegungsweise.[18] Die markantesten VerĂ€nderungen am Fuß betrafen Bau und Zusammenspiel der Zehen- und Mittelfußknochen, die ursprĂŒnglich ein Greiforgan waren.[19] Merkmale des Innenohrs von Lufengpithecus (L. lufengensis) – eines frĂŒhen Menschenaffen – wurden 2024 ebenfalls als Beleg dafĂŒr interpretiert, dass die letzten gemeinsamen Vorfahren der heute lebenden Menschenaffen vor rund 8 Millionen Jahren sowohl in BĂ€umen umherklettern als auch sich – an den Armen unterhalb von Ästen hĂ€ngend – hangelnd fortbewegen konnten, zudem zweibeinig in BĂ€umen stehen und zumindest zeitweise sich vierbeinig auf dem Boden fortbewegen konnten.[20]

Aus dem Knochenbau von Fossilien wie „Little Foot“ und „Lucy“ konnte abgeleitet werden, dass schon die Individuen der Gattung Australopithecus ĂŒber grĂ¶ĂŸere Strecken hinweg aufrecht gehen konnten. BestĂ€tigt wurde diese Interpretation 1979, als in Laetoli 3,6 Millionen Jahre alte fossile Fußspuren von Australopithecus afarensis entdeckt wurden,[21] die dessen bipede Fortbewegungsweise konserviert hatten. Umstritten blieb jedoch, ob Australopithecus afarensis – vergleichbar einem Schimpansen – mit stĂ€ndig angebeugtem Kniegelenk und HĂŒftgelenk lief oder wie der anatomisch moderne Mensch energetisch gĂŒnstiger mit durchgedrĂŒcktem Knie. Erst im Jahr 2010 erbrachte ein biomechanisches Experiment den Nachweis, dass die versteinerten Fußspuren ein Abdruckprofil konserviert haben, das weitgehend dem der heute lebenden Menschen gleicht: Beim aufrechten Gehen ist die Abdrucktiefe von Zehen und Ferse annĂ€hernd gleich; beim Schimpansen-artigen Gehen drĂŒcken sich die Zehen tiefer in den Boden als die Ferse.[22][23] Demnach hat sich ein – hinsichtlich der BewegungsablĂ€ufe und der Energieeffizienz – menschenĂ€hnlicher aufrechter Gang bereits lange vor dem Entstehen der Gattung Homo entwickelt; gleichwohl sind individuelle ontogenetische Anpassungen des Fußes infolge hĂ€ufigen Kletterns auch beim anatomisch modernen Menschen noch nachweisbar.[24][25] Vor rund zwei Millionen Jahren existierten in SĂŒdafrika zudem neben den aufrecht gehenden Arten nah verwandte Arten, deren Knochenbau in erster Linie eine Anpassung ans Klettern zeigt.[26]

Ältester fossiler Beleg fĂŒr einen von seiner Funktion her dem Menschen vergleichbaren Fuß ist ein vollstĂ€ndig erhaltener, 3,2 Millionen Jahre alter Mittelfußknochen von Australopithecus afarensis aus Hadar (Sammlungsnummer AL 333-160), dessen Merkmale sowohl das Vorhandensein eines LĂ€ngsgewölbes als auch eines Quergewölbes erkennen lassen.[27] Wie die gerade, nicht-gebogene Form des Knochens und noch erkennbare Ansatzstellen der Muskeln belegen, war seinerzeit der Übergang von einem fĂŒr das Klettern im GeĂ€st optimierten Greiffuß mit leicht gebogenem Mittelfußknochen zu einem als „StoßdĂ€mpfer“ beim aufrechten Laufen fungierenden Fußgewölbe bereits weit fortgeschritten.

Einen weiteren direkten Beweis fĂŒr eine Form der aufrechten, zweibeinigen Fortbewegungsweise, die im Wesentlichen mit der heute lebender Menschen vergleichbar ist, liefern ferner bei Laetoli freigelegte, 1,51 bis 1,53 Millionen Jahre alte und Homo erectus zugeschriebene Fußspuren.[28] Den Analysen zufolge waren die Zehen relativ kurz, der große Zeh war – anders als bei Affen und noch beim 4,4 Millionen Jahre alten Fossil Ardi – parallel zu den anderen Zehen ausgerichtet; die FĂŒĂŸe waren wie bei den heute lebenden Menschen ein wenig nach oben gewölbt. Beim Laufen verlagerte sich das Gewicht von der Ferse zum Ballen. Aus den AbstĂ€nden der FußabdrĂŒcke sowie aus ihrer GrĂ¶ĂŸe und Tiefe schlossen die Forscher, dass die Erzeuger der Spuren eine Ă€hnliche KörpergrĂ¶ĂŸe und ein Ă€hnliches Gewicht wie die heutigen Menschen besaßen.

UngeklĂ€rt ist hingegen bisher, ob die unter Primaten einzigartige BefĂ€higung des Menschen zum Ausdauerlaufen – beispielsweise zum BewĂ€ltigen eines Marathonlaufs – eine bloße Begleiterscheinung der BefĂ€higung zum aufrechten Gehen ist oder ob sie sich infolge eines gesonderten Selektionsdrucks entwickelte.[29][30][31]

Historisches

Schon Darwin hatte den aufrechten Gang des Menschen als „eines seiner auffallendsten Merkmale“ bezeichnet und ĂŒber die GrĂŒnde seines Entstehens bei den „Urerzeuger[n] des Menschen“ zugleich spekuliert: „Sie wĂŒrden dadurch besser im Stande gewesen sein, sich mit Steinen und Keulen zu vertheidigen oder ihre Beute anzugreifen oder auf andere Weise Nahrung zu erlangen.“[32] Die Befreiung der HĂ€nde von der Mithilfe beim Laufen und die damit verbundene Möglichkeit zum Werkzeuggebrauch wurde danach auch von anderen Forschern als der primĂ€re Selektionsfaktor fĂŒr das Entstehen der Bipedie angesehen.[33][34] Erst in jĂŒngerer Zeit und nach der Entdeckung zusĂ€tzlicher homininer Fossilien wurde es zur Gewissheit, dass der aufrechte Gang mindestens 1,5 Millionen Jahre frĂŒher belegt ist als der Gebrauch von Werkzeugen. Zugleich ging aus palĂ€oökologischen und palĂ€oklimatologischen Befunden hervor, dass das Auftreten der anatomischen Merkmale fĂŒr aufrechtes Gehen streng korreliert mit einem kĂ€lteren und trockeneren Klima und der Ausbreitung von offenen Savannen in Afrika.[35][36] Vermutet wird daher, dass die von Darwin als „Urerzeuger des Menschen“ bezeichneten Homininen neue Strategien entwickelten, um weiterhin Nahrung zu finden, weswegen sie auch grĂ¶ĂŸere Strecken am Boden zurĂŒcklegen mussten.[37][38]

Zum Entstehen des aufrechten Ganges gibt es zahlreiche weitere Hypothesen,[39] die einander nicht unbedingt ausschließen.

Orang-Utan, aufrecht im GeÀst stehend 
[40]

 und aufrecht am Boden.

Hypothese von der Entwicklung des aufrechten Gangs auf BĂ€umen

Nach Auffassung eines Forscherteams um Susannah Thorpe von der UniversitĂ€t Birmingham und Robin Crompton von der UniversitĂ€t Liverpool könnte sich der aufrechte Gang bereits bei den noch ĂŒberwiegend auf BĂ€umen lebenden Vorfahren des Menschen entwickelt haben, um auf diese Weise zum Beispiel die FrĂŒchte am Ende dĂŒnner Zweige besser erreichen zu können. Die Forscher hatten ein Jahr lang Orang-Utans auf Sumatra beobachtet und 2007 darĂŒber berichtet.[41] Diese Menschenaffen verbringen ihr ganzes Leben auf BĂ€umen und könnten daher als ein Modell dafĂŒr gelten, wie unsere Vorfahren vor mehreren Millionen Jahren gelebt haben. Die Analyse von rund 3000 Bewegungen ergab, dass die Orang-Utans sich auf sehr dĂŒnnen Zweigen auf zwei Beinen fortbewegen, sich dabei mit den HĂ€nden an darĂŒber hĂ€ngenden Zweigen festhalten und mit den Armen ihr Gewicht ausbalancieren. An mitteldicken Zweigen lassen sie sich dagegen eher hĂ€ngen, sehr dicke Äste werden im VierfĂŒĂŸler-Gang gemeistert. Dieser Argumentation zufolge wĂ€ren die frĂŒhen Vorfahren des Menschen bereits in einer Epoche, als sie noch ĂŒberwiegend auf BĂ€umen lebten, zumindest zeitweise auf zwei Beinen unterwegs gewesen. Erst spĂ€ter, als viele afrikanische RegenwĂ€lder wĂ€hrend einer Trockenperiode nach und nach verschwanden, hĂ€tten sie mit dem „Umzug“ auf den Boden reagiert, wo sie den aufrechten Gang weiter entwickelten und schließlich perfektionierten. Die andere evolutive Linie, die zu den heutigen Schimpansen und Gorillas fĂŒhrte, habe hingegen einen VierfĂŒĂŸer-Gang auf den Handknöcheln (den sogenannten Knöchelgang) entwickelt, um in den ausgedĂŒnnten WĂ€ldern rasch von einem Baum zum nĂ€chsten gelangen zu können.

UnterstĂŒtzt wird diese Hypothese durch die Tatsache, dass einige Homininifunde aus Gegenden stammen, die zu ihren Lebzeiten eindeutig bewaldet waren. Dies gilt zum Beispiel fĂŒr den im Jahr 2000 entdeckten Orrorin und fĂŒr Australopithecus-Funde wie „Lucy“. GestĂŒtzt wird diese Hypothese ferner durch genaue Analysen des 4,4 Millionen Jahre alten Skeletts Ardi von Ardipithecus ramidus.[42] Friedemann Schrenk beschrieb dessen Fortbewegungsweise so: „Spannend ist die Konstruktion von Ardis Fuß. Er war so gebaut, dass sie grazil auf den Zweigen spazieren konnte. Sie hangelte sich also nicht an ihnen entlang, wie das Schimpansen tun.“[43] Ein Vergleich der Handgelenk-Knochen von Schimpansen und Gorillas ergab zudem, dass deren Knöchelgang sich unabhĂ€ngig voneinander entwickelte, dass deren letzter gemeinsamer Vorfahre also noch nicht diese Laufhaltung aufwies. Hieraus wurde abgeleitet, dass die Hominini ebenfalls nicht von Vorfahren mit Knöchelgang abstammen.[44] Auch der 2019 publizierte Fund von Danuvius guggenmosi wurde als BestĂ€tigung dieser Hypothese interpretiert.[45]

Auch Beobachtungen an frei lebenden Schimpansen in Tansania wurden 2022 dahingehend interpretiert, dass sich die FĂ€higkeit zur zweibeinigen Fortbewegung bereits bei Baumbewohnern herausgebildet habe.[46]

Hypothese vom Zusammenhang von aufrechtem Gang und Nahrungsaufnahme

Eine Hypothese zum Entstehen des aufrechten Ganges infolge der Nahrungsaufnahme in einer bestimmten Haltung („postural feeding hypothesis“) wurde vom PalĂ€oanthropologen Kevin D. Hunt von der Indiana University ins GesprĂ€ch gebracht.[47] Diese Theorie macht geltend, dass Schimpansen bei der Nahrungsaufnahme regelmĂ€ĂŸig zweibeinig seien. Auf dem Boden wĂŒrden sie nach oben greifen, um an FrĂŒchte zu gelangen, die von kleineren BĂ€umen hingen, und auf den BĂ€umen wĂŒrde die FĂ€higkeit zur zeitweiligen Bipedie beim Greifen nach einem ĂŒber ihnen befindlichen Ast genutzt. Diese zweibeinigen Bewegungen entwickelten sich der Theorie zufolge zu hĂ€ufigeren Gewohnheiten.

Hunts Hypothese kann zwar als VorlĂ€ufer zur Hypothese von der Entwicklung des aufrechten Gangs auf BĂ€umen beschrieben werden, sie wurde jedoch 2009 durch die Analysen des Körperbaus von Ardipithecus ramidus „falsifiziert“, wie C. Owen Lovejoy ausdrĂŒcklich anmerkte.[48]

Savannen-Hypothese

Als Savannen-Hypothese wurde die Annahme bezeichnet, die Evolution der Bipedie sei bei den Menschenaffen vor rund 7 bis 8 Millionen Jahren dadurch in Gang gekommen, dass die damals noch in WĂ€ldern lebenden Arten ihren Lebensraum in offene, baumlose Savannen verlegt und dort zum aufrechten Gehen gefunden hĂ€tten; schon Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) hatte dies vermutet. Diese Hypothese gilt heute aufgrund zahlreicher Fossilfunde als widerlegt, da die frĂŒhesten aufrecht gehenden und daher zu den Hominini gestellten Gattungen wie Sahelanthropus und Orrorin keine reinen Savannen-Bewohner waren, sondern in GaleriewĂ€ldern lebten. Auch Ardipithecus ramidus lebte in einer Umwelt, die „Habitate aus geschlossenem Waldland und aufgelockertem Baumbestand umfasste.“[49]

Als unerheblich[50] fĂŒr das Entstehen des aufrechten Gangs gilt daher heute auch das thermoregulatorische Modell, das der Zoologe und Evolutionsbiologe Peter Wheeler von der Liverpool John Moores University ab 1983 ins GesprĂ€ch gebracht hatte.[51] Er hatte unter anderem argumentiert, die Bipedie habe sich entwickelt, weil diese Körperhaltung das Gehirn beim Aufenthalt in der offenen Savanne vor Überhitzung geschĂŒtzt habe: Je höher der Körper eines Menschenaffen sich ĂŒber den Boden erhoben habe, desto eher sei er höheren, kĂŒhlenden Windgeschwindigkeiten ausgesetzt gewesen.

Gleichwohl gehen Forscher davon aus, dass der aufrechte Gang im vor 4 Millionen Jahren nachgewiesenermaßen heißen afrikanischen Lebensraum der Hominini auch aus klimatischen GrĂŒnden vermutlich vorteilhaft war[52] und dass die von Wheeler in den 1980er- und 1990er-Jahren herausgestellten thermoregulatorischen Aspekte zum weitgehenden Verlust der Körperbehaarung beitrugen.[53]

Verhaltenshypothese

Der Anatom C. Owen Lovejoy leitete 1981 die Bipedie aus dem Sozialverhalten der frĂŒhen mĂ€nnlichen Menschenaffen ab.[54] Seine Hypothese besagte, dass die Bipedie infolge einer monogamen Lebensweise entstanden sei: Die MĂ€nnchen jener Menschenaffen-Arten, die sich zu den frĂŒhen Hominini fortentwickelten, seien monogam geworden und hĂ€tten tagsĂŒber ihre Familien alleingelassen, um nach Nahrung zu suchen. Diese Nahrung hĂ€tten sie zu ihrer Familie tragen mĂŒssen, und die effektivste Fortbewegungsweise sei in dieser Situation das zweibeinige Laufen gewesen. Lovejoys Hypothese, die mangels fossiler Überlieferung nicht unmittelbar durch palĂ€oanthropologische Befunde zu belegen ist, rief umgehend massive Kritik hervor.[55] Insbesondere wurde darauf verwiesen, dass monogame Primaten in der Regel keinen Sexualdimorphismus aufweisen; mĂ€nnliche Exemplare von Australopithecus afarensis besaßen jedoch fast das doppelte Gewicht von Weibchen – dies sei ein Merkmal, das man bei polygamen Arten erwarten wĂŒrde. Ferner seien monogame Primaten stark territorial, lebten also nicht in grĂ¶ĂŸeren sozialen VerbĂ€nden; fossile Hinweise zeigten jedoch, dass Australopithecus afarensis in Gruppen lebte.

2009 widerrief C. Owen Lovejoy seine Hypothese unter Verweis auf die Funde von Ardipithecus ramidus in Hadar (Äthiopien): „Seit der Zeit Darwins standen zumeist die heute lebenden afrikanischen Menschenaffen Pate, wenn die frĂŒhe Evolution des Menschen rekonstruiert wurde. Diese Modelle veranschaulichen grundlegende menschliche Verhaltensweisen als Steigerung von Verhaltensweisen, die man bei Schimpansen und/oder Gorillas beobachten kann (zum Beispiel aufrechte Haltung bei der Nahrungsaufnahme, mĂ€nnliches Dominanzverhalten, Werkzeuggebrauch, Kultur, Jagd und KriegsfĂŒhrung). Ardipithecus falsifiziert im Wesentlichen solche Modelle, denn die heute lebenden afrikanischen Menschenaffen sind hochgradig abgeleitete Verwandte unseres letzten gemeinsamen Vorfahren.“[48]

Ein Gorillaweibchen nutzt einen Ast als StĂŒtze beim Durchqueren eines GewĂ€ssers.

Wat-Hypothese

Der sogenannten Wat-Hypothese (auch: „Uferhypothese“) zufolge entwickelte sich die Bipedie der Hominini als ein Ergebnis des zweibeinigen Watens bei der Nahrungssuche – zum Beispiel nach Muscheln[56] – in GewĂ€ssern mit niedrigem Wasserstand; zweibeiniges Waten wird gelegentlich bei den Bonobos, den Flachlandgorillas und den Nasenaffen beobachtet. Zweibeiniges Waten bietet den Vorteil, den Kopf zum Atmen ĂŒber Wasser zu halten. In mehreren Publikationen versuchte der Evolutionsbiologe Carsten Niemitz nachzuweisen, dass keines der anderen ErklĂ€rungsmodelle das Entstehen des aufrechten Ganges plausibel erklĂ€ren könne.[57][58] Teile dieser Theorie finden sich auch in der Wasseraffen-Theorie.[59]

WirbelsĂ€ule und BeckengĂŒrtel

Die Entwicklung der FĂ€higkeit zum dauerhaft aufrechten Gehen setzte eine Vielzahl von Anpassungen des Skeletts voraus, insbesondere im Bereich der WirbelsĂ€ule, des BeckengĂŒrtels und der HĂŒftgelenke, der Kniegelenke, der FĂŒĂŸe sowie des Foramen magnum (des großen Hinterhauptlochs an der SchĂ€delbasis, wo RĂŒckenmark und Gehirn ineinander ĂŒbergehen).[60] VerĂ€nderungen betrafen sowohl den Bau der Knochen als auch der Skelettmuskeln sowie deren Ursprung und Ansatz.

Eine dauerhaft zweibeinige Fortbewegungsweise und das aufrechte Stehen erfordern gleichermaßen, dass der Schwerpunkt des Körpers sich exakt senkrecht oberhalb der AuftrittsflĂ€che der FĂŒĂŸe befindet. Deshalb verlagerte sich das Foramen magnum wĂ€hrend der Entstehung des aufrechten Gangs nach vorn und befindet sich heute (wie Becken, Knie und FĂŒĂŸe) im Bereich des Körperschwerpunkts. Wenn vierfĂŒĂŸige Tiere sich auf den Hinterbeinen aufrichten, erfĂŒllen sie diese Voraussetzung nur, wenn ihre Hinterbeine in HĂŒft- und Kniegelenken gebeugt sind, da sie andernfalls – bei gestreckten, vertikal ausgerichteten Beinen – nach vorn ĂŒberkippen wĂŒrden. Im Verlauf der Evolution der Vorfahren des anatomisch modernen Menschen wurde daher der Körperschwerpunkt zum RĂŒcken hin verlagert. Hierzu trug insbesondere die Ausbildung der nach vorn gerichteten WirbelsĂ€ulen-KrĂŒmmung (Lordose) im Bereich der HalswirbelsĂ€ule und der LendenwirbelsĂ€ule bei, weswegen letztere bei Schwangeren wegen der Schwerpunktverlagerung wĂ€hrend einer Schwangerschaft besonders stark ausgeprĂ€gt ist.[61] In Höhe des Brustkorbs sowie im Bereich des Kreuzbeins weicht die WirbelsĂ€ule hingegen gekrĂŒmmt nach hinten aus (Kyphose) und gibt den inneren Organen Raum, so dass sich der typische Eindruck einer doppelt S-förmigen KrĂŒmmung ergibt (bei ĂŒberwiegend vierfĂŒĂŸigen Affen ist sie c-förmig). Zugleich ĂŒbernahmen die Beckenknochen die zusĂ€tzliche Aufgabe, die inneren Organe zu stĂŒtzen.[62]

Eine Besonderheit ist zudem der im Vergleich mit allen anderen Menschenartigen sehr enge Beckenkanal, durch den der – im Vergleich mit anderen Menschenartigen ebenfalls bereits vorgeburtlich sehr große – SchĂ€del des Fetus bei der Geburt hindurch gelangen muss – und dies, obwohl das weibliche Becken viel weiter ist als das mĂ€nnliche Becken.[63] Die Innenmaße des weiblichen Beckens sind nahezu identisch mit der KopfgrĂ¶ĂŸe des Neugeborenen, was dazu fĂŒhrt, dass „Mutter und Neugeborenes ein betrĂ€chtliches Risiko fĂŒr eine traumatische Geburt“ tragen.[64][65][66]

Verglichen mit der Hand eines Schimpansen (links) haben die HĂ€nde eines Menschen (rechts) kĂŒrzere Finger und HandflĂ€chen sowie einen lĂ€ngeren, krĂ€ftigeren und opponierbaren Daumen.

Die wiederholt von Forschern vertretene Hypothese, BeckengĂŒrtel und Beckenkanal seien relativ schmal geblieben, weil ein breiterer BeckengĂŒrtel einen grĂ¶ĂŸeren Beinabstand zur Folge gehabt hĂ€tte und dies unvorteilhaft fĂŒr eine rasche Fortbewegung gewesen sei, ist umstritten.[67]

HĂ€nde

Der Bau ihrer HÀnde ermöglicht es den Menschen, nicht aber den Schimpansen, eine Faust zu bilden.

Im Vergleich mit anderen Affen haben die HĂ€nde des anatomisch modernen Menschen eine kĂŒrzere HandflĂ€che, kĂŒrzere Finger sowie lĂ€ngere, krĂ€ftigere und beweglichere Daumen. Insbesondere der opponierbare Daumen vereinfacht das Zugreifen und erleichtert beispielsweise das geschickte Handhaben von Werkzeugen. Verantwortlich dafĂŒr, dass der Daumen – anders als bei anderen Affen – mit seiner Kuppe die Kuppen der anderen Finger berĂŒhren kann, ist ein speziell geformtes Daumengrundgelenk. Dies ermöglicht den Menschen zudem ihre HĂ€nde zu FĂ€usten zu ballen, was wiederum dazu fĂŒhrt, dass die Hand zu einem effektiven Schlagwerkzeug wurde (beim Boxen), ohne die Finger einem allzu hohen Verletzungsrisiko auszusetzen.[68] Bereits die Ausrichtung der feinen KnochenbĂ€lkchen (Trabekeln) in den Mittelhandknochen von Australopithecus africanus weist – vor zwei bis drei Millionen Jahren – Merkmale auf, die als Hinweis auf eine Opponierbarkeit des Daumens interpretiert wurden,[69] aber vermutlich erst seit rund zwei Millionen Jahren – von Homo erectus – kann diese Bewegung kraftvoll ausgefĂŒhrt werden.[70]

Mit Hilfe von 39 Testpersonen wurde zudem experimentell nachvollzogen, welchen Einfluss das Herstellen von SteingerĂ€t – die hierzu nötigen Bewegungen – und das Benutzen von SteingerĂ€t auf die Evolution der Hand hatte. Demnach waren die KrĂ€fte beim NĂŒsseknacken nicht groß genug um die Anatomie der Hand maßgeblich zu verĂ€ndern, wohl aber das Zurichten von AbschlĂ€gen bei der Herstellung von Steinartefakten und das krĂ€ftige Zuschlagen beim Öffnen von Röhrenknochen, um an deren Knochenmark zu gelangen.[71]

SchÀdel- und Gehirnentwicklung

Taxon Gehirnvolumen
in cm3
Schimpansen ca. 400[72]
Gorilla-Mann 535[73]
Sahelanthropus tchadensis 365[74]
Ardipithecus ramidus 280–350[75]
Australopithecus afarensis 458
(335–580)[74]
Australopithecus africanus 464
(426–502)[74]
Homo rudolfensis ca. 750[76]
(501–950)[74]
Homo habilis 610[77]
(544–674)[74]
Homo ergaster 764
(640–888)[74]
Homo erectus 1003
(956–1051)[74]
Homo antecessor ca. 1000[74]
Homo heidelbergensis 1204
(1130–1278)[74]
Neandertaler 1426
(1351–1501)[74]
Homo floresiensis 380[78]
Homo sapiens 1478
(1444–1512)[74]

Neben den Walen – speziell den Delfinen – gelten die Primaten als die SĂ€ugetiere mit den am komplexesten entwickelten Gehirnen. Das Wachstum des Gehirns ist bereits beim menschlichen Fötus (also schon im Mutterleib) grĂ¶ĂŸer als beim Fötus der Schimpansen.[79] Eine vergleichende Genomanalyse ergab, dass die Expression von Genen und die Proteinbiosynthese „bei Mensch und Schimpanse sich insbesondere im Gehirn dramatisch unterscheiden“, wĂ€hrend die Expressionsmuster in Leber und Blut kaum voneinander abweichen.[80]

Bereits vor rund 300.000 Jahren besaß das Gehirn des frĂŒhen archaischen Homo sapiens das gleiche Volumen wie das heutiger Menschen; deren rundliche SchĂ€delform entwickelte sich hingegen deutlich spĂ€ter: Erst Fossilien, die jĂŒnger als 35.000 Jahre alt sind, besitzen die gleiche runde Form wie die heutigen Menschen.[81]

VergrĂ¶ĂŸerung des Volumens

Das Gehirn des Menschen und des Schimpansen
(rechts unten als Maßstab: 1 cm)

Im Verlauf der Zerebralisation bestand bei den Hominini vor allem eine Tendenz zur Volumen- und OberflĂ€chenzunahme des Gehirns,[82] speziell im Bereich der Großhirnrinde, was unter anderem erhebliche Auswirkungen auf die Nahrungsaufnahme hatte: Das Gehirn des anatomisch modernen Menschen macht zwar nur etwa zwei Prozent vom Körpergewicht aus, es verbraucht aber rund 20 Prozent der Stoffwechselenergie;[83] im Ruhezustand entspricht der Grundumsatz eines Erwachsenen einer Leistung von ungefĂ€hr 100 Watt, wovon sogar 30 bis 60 Prozent auf das Gehirn entfallen.[84] Mit der VergrĂ¶ĂŸerung des Gehirnvolumens ging eine Steigerung der Blutversorgung fĂŒr das Gehirn einher.[85]

Die GrĂŒnde fĂŒr die VergrĂ¶ĂŸerung des SchĂ€delvolumens und fĂŒr die vielfĂ€ltigen Wechselwirkungen zwischen Gehirnentwicklung, anatomischen VerĂ€nderungen des GesichtsschĂ€dels und anderen Körpermerkmalen sowie beispielsweise dem Nahrungserwerb sind jedoch noch immer relativ wenig erforscht.[86] Die VergrĂ¶ĂŸerung des Gehirns der Hominini in der Epoche der Australopithecinen vor rund 3 bis 2 Millionen Jahren sowie bei Homo erectus korrelierte jedoch mit einer AbkĂŒhlung des Klimas in Afrika; zwei in den Jahren 2000 und 2009 vorgelegte Berechnungen lieferten Hinweise darauf, dass in kĂŒhlerem Klima die WĂ€rmeabstrahlung des in der geschlossenen SchĂ€delkapsel einsitzenden Gehirns leichter vonstattenging als zuvor und daher eine „Wachstumsbremse“ entfiel, so dass sich ein grĂ¶ĂŸeres und deshalb mehr WĂ€rme produzierendes Gehirn entwickeln konnte.[84][87] Möglicherweise genĂŒgte hierfĂŒr bereits eine Verringerung der mittleren Temperatur um 1,5 Grad Celsius.[88] Eine andere Hypothese nimmt an, dass die GehirnvergrĂ¶ĂŸerung mit der PopulationsgrĂ¶ĂŸe korreliert und die nötige soziale DurchsetzungsfĂ€higkeit gegenĂŒber konkurrierenden Individuen oder Gruppen von Artgenossen in einer grĂ¶ĂŸer werdenden Population eine treibende Kraft der Gehirnentwicklung war.[89]

Das Volumen des Gehirns der fossilen Hominini konnte anhand von SchĂ€delfragmenten zumindest nĂ€herungsweise rekonstruiert werden. Die nebenstehende Tabelle gibt hierzu einen Überblick. Da Hirn etwa die Dichte von Wasser hat, entspricht das Volumen ungefĂ€hr der Masse in Gramm. Die Angaben zu fossilen Arten sind SchĂ€tzungen auf Grundlage von meist unvollstĂ€ndigen und deformierten Funden; unterschiedliche FachbĂŒcher können daher voneinander abweichende Angaben enthalten.

Im Vergleich mit den diversen Arten der Australopithecinen – insbesondere zum Beispiel mit Paranthropus aethiopicus – besitzen alle bisher bekannten Arten der Gattung Homo einen extrem schwachen Kauapparat mit zurĂŒckgebildeter Kaumuskulatur. US-Forschern um Hansell H. Stedman zufolge besteht ein zeitlicher und funktioneller Zusammenhang zwischen dieser RĂŒckbildung und dem Beginn der VergrĂ¶ĂŸerung des Gehirns. Vor rund 2,4 Millionen Jahren habe sich die Mutation eines Gens ereignet, das fĂŒr das Protein MYH16 (myosin heavy chain 16) kodiert; das MYH16-Gen ist bei SĂ€ugetieren ausschließlich im Bereich der Kiefer aktiv – im Musculus temporalis und im Musculus masseter – und bewirkt die Produktion von besonders belastbaren Myosin-Ketten in den Muskelzellen (siehe Heavy Chain). Die Mutation habe dazu gefĂŒhrt, dass dieses Gen seitdem in der Abstammungslinie inaktiv ist, die zu den heute lebenden Menschen fĂŒhrt.[90] Es sei kein Zufall, dass aus der gleichen erdgeschichtlichen Epoche die frĂŒhesten Fossilien der Gattung Homo stammen: Der Ausfall des Gens habe eine markante Verkleinerung der einzelnen Muskelfasern und – als Folge davon – der gesamten Kaumuskulatur zur Folge gehabt. Der damit verbundene Wegfall der erheblichen Zugkraft von Muskeln, die am SchĂ€del ansetzen und den Unterkiefer bewegen, sei wiederum eine Voraussetzung dafĂŒr gewesen, dass sich das Gehirn und mit ihm der gesamte SchĂ€del spĂ€ter vergrĂ¶ĂŸern konnten. Schimpansen und andere Primaten verfĂŒgen auch heute noch ĂŒber das intakte, nicht mutierte Gen.

Mit Hilfe computertomographischer Analysen von fossilen und modernen SchĂ€deln konnten AbdrĂŒcke rekonstruiert werden, die von den Gehirnwindungen und -furchen auf den InnenflĂ€chen der SchĂ€del hinterlassen wurden. Den Befunden zufolge begannen sich diese Merkmale vor 1,5 bis 1,7 Millionen Jahren von den ursprĂŒnglichen, menschenaffen-Ă€hnlichen Merkmalen zu unterscheiden.[91] WĂ€hrend jedoch bereits vor 300.000 Jahren das Volumen des Gehirns von Homo sapiens Ă€hnlich groß wie das der heute lebenden Menschen war, entwickelte sich die heutige Form des Gehirns sehr viel langsamer und erreichte die heutige Variationsbreite erst vor rund 100.000 bis 35.000 Jahren.[92]

Das Gehirnvolumen des anatomisch modernen Menschen weist eine erhebliche Spannweite auf, die eine unmittelbare Folge der gleichfalls erheblichen VariabilitĂ€t seiner KörpergrĂ¶ĂŸe ist. Da Frauen im Mittel kleiner sind als MĂ€nner, haben Frauen im Mittel auch ein etwas kleineres Gehirn als MĂ€nner[83] (siehe dazu: Gehirne von MĂ€nnern und Frauen).

Bemerkenswert ist ferner, dass das Gehirn der heute lebenden Menschen ungefĂ€hr drei bis vier Prozent kleiner ist als das Gehirn der Vorfahren vor 10.000 bis 15.000 Jahren. Denkbar ist, dass dies eine Folge der ErwĂ€rmung nach dem Ende der letzten großflĂ€chigen Vereisung ist; es wurde aber auch argumentiert, dass möglicherweise die KonnektivitĂ€t optimiert wurde oder dass eine optimierte Sozialstruktur die Überlebenschancen des Einzelnen verbesserte und dies auf die GehirngrĂ¶ĂŸe zurĂŒckwirkte.[93]

Spezielle Anpassungen

Es gibt bislang nur wenige gesicherte Erkenntnisse darĂŒber, welche Regionen des Gehirns in welcher Epoche einem bestimmten Selektionsdruck unterlagen und sich daher verĂ€nderten. Im erhaltenen SchĂ€delausguss des so genannten Kindes von Taung (eines drei- bis vierjĂ€hrigen Australopithecus africanus) blieb jedoch auch eine „Knochennaht“ (metopische Sutur) zwischen beiden HĂ€lften des StirnschĂ€dels erhalten, die – wie meist auch bei gleich alten Kindern von Homo sapiens – noch nicht verknöchert war; bei Schimpansen-Jungen im Alter des Taung-Kindes ist diese Naht hingegen bereits verknöchert. Daraus wurde unter anderem geschlossen, dass schon bei Australopithecus africanus die postnatale Zunahme des Gehirnvolumens – Ă€hnlich wie bei Homo – ausgeprĂ€gter war als bei den Schimpansen.[94]

Dreidimensionale Rekonstruktionen ergaben beispielsweise, dass die Riechkolben des anatomisch modernen Menschen ungefĂ€hr 12 Prozent mehr Volumen beanspruchen als die des Neandertalers und dass bei Homo sapiens auch der Temporallappen grĂ¶ĂŸer ist als er beim Neandertaler war.[95] Das Gleiche trifft zu auf den oberen Parietallappen, dessen VolumenvergrĂ¶ĂŸerung zugleich als Ursache gilt fĂŒr das rundlichere Scheitelbein bei Homo sapiens.[96]

In der Online-Zeitschrift Royal Society Open Science wurde im Jahr 2017 berichtet, dass sich der Blutfluss zum Gehirn – außer bei Homo heidelbergensis und bei den allerdings fossil bislang schlecht belegten Fossilien von Homo rudolfensis und den Dmanissi-Funden – in Relation zur VergrĂ¶ĂŸerung des Gehirns der jeweiligen Arten ĂŒberproportional stark vergrĂ¶ĂŸerte.[85]

WÀhrend das Gehirnvolumen der Schimpansen im Alter unverÀndert bleibt, schrumpft es bei alternden Menschen merklich. Dies ist vermutlich eine Folge der bei Menschen im Vergleich mit Schimpansen deutlich erhöhten Lebenserwartung (ca. 80 bis 90 Jahre bei Menschen, ca. 50 Jahre bei Schimpansen) und somit ein evolutiv relativ junges PhÀnomen.[97]

Der Verlust markanter Überaugenwulste und diverse andere evolutive VerĂ€nderungen an den insgesamt 14 Knochen des Gesichts – und daraus resultierenden VerĂ€nderungen der MuskelansĂ€tze – wurden 2019 in einem Review-Artikel in Zusammenhang gebracht mit einer erst hierdurch möglichen, umfassenderen nonverbalen Kommunikation durch minimale Muskelbewegungen, die Hinweise auf subtile Emotionen geben und so zur sozialen Interaktion in Gruppen beitragen können.[98]

ZĂ€hne und Gebiss

Rekonstruktion von Aegyptopithecus: AuffĂ€llige Merkmale im Oberkiefer sind der große Eckzahn und die LĂŒcke zwischen Eckzahn und Schneidezahn.

ZĂ€hne sind hochgradig widerstandsfĂ€hig gegen zerstörerische UmwelteinflĂŒsse, deshalb sind sie die am hĂ€ufigsten gefundenen Fossilien von Primaten. Ihre GrĂ¶ĂŸe und Form, die Dicke ihres Zahnschmelzes und das VerhĂ€ltnis der beiden stabilen Kohlenstoff-Isotope 12C und 13C im Zahnschmelz (vergl. Isotopenuntersuchung) können Auskunft geben ĂŒber die stammesgeschichtliche Zugehörigkeit ihrer ehemaligen Besitzer, ĂŒber ihr Sozialverhalten und ihre Nahrung. Allerdings sind gerade diese Gewebe sowie die ebenfalls widerstandsfĂ€higen Kiefer „besonders anfĂ€llig fĂŒr Homoplasien“[99] (fĂŒr parallele, unabhĂ€ngige Entstehung) als Folge Ă€hnlicher ErnĂ€hrungsweisen, was ihren Nutzen fĂŒr taxonomische Fragestellungen begrenzen kann.

Der schon bei Homo erectus nachweisbare evolutive Trend zur Verkleinerung der ZĂ€hne wurde als eine Folge des Gebrauchs von Steinwerkzeugen interpretiert, mit deren Hilfe die Nahrung zerkleinert wurde, was wiederum die Kaulast von ZĂ€hnen, Oberkiefer und Unterkiefer reduzierte.[100]

Verkleinerung der EckzÀhne

Der Mensch und die anderen Menschenaffen gehören zu den Altweltaffen. Deren frĂŒheste bekannte Vertreter – wie beispielsweise Aegyptopithecus – trugen zwei große, lĂ€ngliche EckzĂ€hne im Oberkiefer, die durch stetiges Reiben an jeweils einem Vorderbackenzahn des Unterkiefers (durch Honen) geschĂ€rft wurden. Zugleich wies der Oberkiefer zwei ZahnlĂŒcken (Diastema) zwischen Eck- und SchneidezĂ€hnen auf, in die jeweils einer der EckzĂ€hne des Unterkiefers passte. Im Verlauf der Hominisation wurden die EckzĂ€hne kleiner und die ZahnlĂŒcke im Oberkiefer verschwand.

Schon 1871 hatte Charles Darwin die heute noch in Afrika lebenden Schimpansen und Gorillas als die nĂ€chsten Verwandten der Menschen erkannt und daher vermutet, dass sich auch der anatomisch moderne Mensch in Afrika entwickelt habe.[101] Zugleich hatte Darwin aber auch den Körperbau dieser Menschenaffen im Sinne eines ursprĂŒnglichen Merkmals gedeutet. Seiner Vermutung nach

„waren die frĂŒheren mĂ€nnlichen Vorfahren des Menschen wahrscheinlich mit grossen EckzĂ€hnen versehen; in dem Maasse aber, als sie allmĂ€hlich die Fertigkeit erlangten, Steine, Keulen oder andere Waffen im Kampfe mit ihren Feinden zu gebrauchen, werden sie auch ihre Kinnladen und ZĂ€hne immer weniger und weniger gebraucht haben. In diesem Falle werden die Kinnladen in Verbindung mit den ZĂ€hnen an Grösse reducirt worden sein, wie wir nach zahllosen analogen FĂ€llen wohl ganz sicher annehmen können.“[102]

Darwins Vermutung beeinflusste mehr als 100 Jahre lang zahllose Versuche, die ursprĂŒngliche Bezahnung der Hominini – abgeleitet von der Bezahnung der Schimpansen – zu rekonstruieren. Durch Fossilfunde belegbare Hypothesen zum Gebiss der frĂŒhen Hominini waren jedoch erstmals möglich, nachdem man das 4,4 Millionen Jahre alte Fossil Ardi und zahlreiche ZĂ€hne von anderen Individuen der Art Ardipithecus ramidus entdeckt hatte.[103] Weder hatte Ardi eine besonders stark ausgeprĂ€gte Schnauze, noch hatten ihre mĂ€nnlichen Artgenossen die von Schimpansen bekannten, dolchartig verlĂ€ngerten und von außen deutlich wahrnehmbaren EckzĂ€hne („FangzĂ€hne“). Sollte Ardipithecus ramidus zu Recht in die Entwicklungslinie der Hominini gestellt worden sein, wĂŒrden seine anatomischen Merkmale belegen, dass der evolutionĂ€re Trend hin zu verkleinerten EckzĂ€hnen bereits vor mehr als vier Millionen Jahren eingesetzt hatte, also lange vor der Herstellung erster Steinwerkzeuge, und somit das gesamte PliozĂ€n hinweg angedauerte.

Die dolchartigen EckzĂ€hne des Oberkiefers dienen bei den heute lebenden mĂ€nnlichen Affen regelmĂ€ĂŸig auch als Waffe bei RangordnungskĂ€mpfen innerhalb der eigenen Gruppe und bei KĂ€mpfen mit Individuen anderer Gruppen. Die frĂŒh einsetzende Verkleinerung der EckzĂ€hne legt daher nahe, dass sich aufgrund sexueller Selektion auch das agonistische Verhalten und das Imponierverhalten verĂ€ndert hat, „lange bevor die Hominini ein vergrĂ¶ĂŸertes Gehirn hatten und Steinwerkzeuge benutzten.“[104]

VerÀnderungen der Zahnzahl und der Schnauze

Unterkiefer mit Weisheitszahn

Ein zweiter, langfristiger evolutionĂ€rer Trend, der mit der Verkleinerung der ZĂ€hne und der Schnauze einherging, kann aufgrund der Verringerung der Zahnzahl rekonstruiert werden. Weitgehend anerkannt ist heute, dass die ursprĂŒnglichen Höheren SĂ€ugetiere in jeder KieferhĂ€lfte drei SchneidezĂ€hne, einen Eckzahn, vier VorderbackenzĂ€hne und drei hintere BackenzĂ€hne hatten. Ihre Zahnformel lautet demnach 3 ‱ 1 ‱ 4 ‱ 3, ihre Zahnzahl betrug 44.[105] Alle heute lebenden Altweltaffen haben hingegen die Zahnformel 2 ‱ 1 ‱ 2 ‱ 3 und somit 32 ZĂ€hne. Bei den Menschen ist der Trend zur Verringerung insofern unmittelbar zu beobachten, als der dritte (hintere), so genannte Weisheitszahn erhebliche Unterschiede der Form sowie des Durchbruchzeitpunkts aufweist und seine Zahnanlagen gelegentlich völlig fehlen; er kann daher als Rudiment bezeichnet werden.

Ebenfalls verringert hat sich im Verlauf der Hominisation die Anzahl der Zahnwurzeln, mit denen die VorderbackenzĂ€hne im Kiefer verankert sind: Die frĂŒhen Arten der Hominini aus der Gruppe der Australopithecinen hatten zwei Wurzeln pro Vorderbackenzahn, Homo sapiens besitzt nur eine Wurzel.[106] Im Vergleich zu den Schimpansen ist bei den Menschen zudem wĂ€hrend der Individualentwicklung der Wechsel vom Milchgebiss zum Dauergebiss verzögert, was zugleich als Indiz fĂŒr eine VerlĂ€ngerung der Jugendphase beim Menschen gilt. Bei den nicht-menschlichen Menschenaffen beginnt der Durchbruch der DauerzĂ€hne im Alter von 3,0 bis 3,5 Jahren,[105] beim Menschen hingegen meist erst im 6. Lebensjahr; Ursache ist eine verzögerte Bildung der Zahnwurzeln.[107][108] Ein weiteres Merkmal des jungen Homo sapiens ist, dass der Molar M1 und der Schneidezahn I1 des Dauergebisses gemeinsam durchbrechen, gefolgt vom Schneidezahn I2, wĂ€hrend beim jungen Schimpansen zunĂ€chst nur der Molar M1 durchbricht, gefolgt von beiden SchneidezĂ€hnen.[109][110]

Die schon von Charles Darwin auf verĂ€nderte Gewohnheiten bei der Nahrungsaufnahme zurĂŒckgefĂŒhrte VerkĂŒrzung des Unterkiefers wurde 2011 durch eine Studie an elf heute lebenden Populationen bestĂ€tigt. Ihr zufolge haben JĂ€ger und Sammler lĂ€ngere und schmalere Unterkiefer als Sesshafte, die sich von FeldfrĂŒchten, Milcherzeugnissen oder Zuchttieren ernĂ€hren.[111]

Behaarung

WÀhrend bei Menschen zu Beginn des Lebens Haare auf dem Kopf wachsen, ist der Teil des Körpers unterhalb des Halses weniger stark behaart als bei den anderen Tierarten in der Familie der Menschenaffen.

Auffallend beim heute lebenden Menschen ist, dass er – als einziger aller heute lebenden Primaten – neben dem meist unauffĂ€lligen Vellushaar allenfalls eine außerordentlich geringe Körperbehaarung besitzt. Da bisher keine palĂ€oanthropologisch relevanten Haarfunde entdeckt wurden, sind weder Aussagen zur Behaarung ausgestorbener Spezies der Hominini möglich, noch lĂ€sst sich die Zeitspanne palĂ€oanthropologisch belegen, wĂ€hrend der bei seinen Vorfahren das Fell verloren ging. Das ĂŒber einige Jahre ungebremste Wachstum des Haupthaares findet ebenfalls keine Parallele unter den Primaten; eine klare Funktion ist nicht ersichtlich.

Hypothesen zum Zeitpunkt

Aus molekularbiologischen Analysen zur Evolution der Familie der MenschenlĂ€use (Pediculidae) und zur Entstehungszeit von dunkler Hautfarbe wurden einige Anhaltspunkte dafĂŒr abgeleitet, wann sich die Reduzierung der Körperbehaarung ungefĂ€hr zugetragen hat.

Die Familie der MenschenlĂ€use besteht aus den Gattungen Pediculus und Phtirus. Zu Pediculus zĂ€hlt die an den Menschen angepasste Kleiderlaus (Pediculus humanus humanus, in Abgrenzung von der Kopflaus Pediculus humanus capitis auch benannt als „Körperlaus“ Pediculus humanus corporis[112]) sowie die an Schimpansen angepasste Art Pediculus schaeffi. Phtirus kommt beim Menschen als Filzlaus (Phtirus pubis), beim Gorilla als Phtirus gorillae vor. Aus Genanalysen wurde abgeleitet, dass der letzte gemeinsame Vorfahr von Pediculus humanus spec. und Pediculus schaeffi vor rund 6 Millionen Jahren existierte und der letzte gemeinsame Vorfahre von Phtirus pubis und Phtirus gorillae vor etwa 3 bis 4 Millionen Jahren;[113] ferner, dass die Trennung von Pediculus humanus humanus und Pediculus humanus capitis vor 72.000 ± 42.000 Jahren erfolgte.[114] Daraus lĂ€sst sich nĂ€herungsweise folgender Zeitablauf rekonstruieren: Seit 5 bis 6 Millionen Jahren leben die Vorfahren der Schimpansen und der Menschen und mit ihnen die Vorfahren der Parasiten Pediculus schaeffi und Pediculus humanus spec. getrennt voneinander. Vor rund 3 Millionen Jahren konnte sich der gemeinsame Phtirus-Vorfahre, vom Gorilla stammend, dauerhaft bei den damals lebenden Vorfahren der heutigen Menschen ansiedeln, bei gleichzeitiger Anwesenheit von Pediculus humanus spec. Demnach bestanden vermutlich bereits in dieser Epoche bei den Vorfahren des Menschen unterschiedliche Haar-Biotope, etwa auf dem Kopf und im Schambereich, die durch Haar-arme Zonen getrennt waren (was ungefĂ€hr unserem heutigen Haarbewuchs entsprĂ€che). Vor etwa 60.000 bis 80.000 Jahren schließlich kann die Aufspaltung von Pediculus humanus spec. in die beiden Unterarten Pediculus humanus capitis und Pediculus humanus humanus als Anzeichen fĂŒr die Verwendung von Kleidung gedeutet werden. Eine zweite, davon unabhĂ€ngige Studie bestĂ€tigte im Grundsatz diese Argumentation, kam aber zu höheren Werten: Ihr zufolge ereignete sich die letztgenannte Aufspaltung spĂ€testens vor 83.000 Jahren, möglicherweise aber auch schon vor 170.000 Jahren.[115]

Hinweise auf den ungefĂ€hren Zeitpunkt erbrachten auch Berechnungen zur Entstehenszeit von dunkler Hautfarbe. Viele Forscher vermuten, dass die behaarten frĂŒhen Arten der Hominini – wie die Schimpansen – eine rosafarbene Haut besaßen. Eine bestimmte Variante des Gens MC1R, das an der Hautpigmentierung beteiligt ist, kommt bei allen dunkelhĂ€utigen Afrikanern vor und existiert laut einer Studie von Forschern der University of Utah seit 1,2 Millionen Jahren. Daraus wurde wiederum abgeleitet, dass die Körperbehaarung damals schon recht dĂŒnn gewesen sein muss.[116]

Hypothesen zu Ursachen und Folgen

Über die Frage, warum die Reduktion des Fells eingesetzt hat, gehen die Ansichten der Evolutionsbiologen auseinander. „Die vielleicht plausibelste Theorie geht davon aus, dass die Nacktheit zusammen mit der Vermehrung der SchweißdrĂŒsen ursprĂŒnglich zur Regulierung der Körpertemperatur diente. Das Merkmal wĂ€re also bereits vor rund zwei Millionen Jahren bei frĂŒhen Menschen (H. erectus) als Anpassung an ausdauerndes Laufen unter Hitzebelastung entstanden.“[117] HierfĂŒr spricht, dass Menschen sehr viel mehr ekkrine SchweißdrĂŒsen besitzen als ihre behaarten Verwandten und daher – mangels Fell – der von ihnen produzierte dĂŒnnflĂŒssige Schweiß direkt auf der Haut verdunsten kann („VerdunstungskĂ€lte“).[118] GestĂŒtzt wird diese Hypothese unter anderem durch eine Modellrechnung, der zufolge nur ein weitgehend unbehaartes, zu starkem Schwitzen befĂ€higtes Individuum der Gattung Homo tagsĂŒber in heißem, offenem GelĂ€nde habe aktiv sein können.[50] Dies gilt als evolutionĂ€rer Vorteil, der die Ausdauerjagd ermöglichte und möglicherweise zugleich die AnfĂ€lligkeit fĂŒr Ektoparasiten reduzierte.[119] Als vorteilhaft fĂŒr die Ausdauerjagd und fĂŒr das mit ihr verbundene, zeitweise Verlassen der NĂ€he zu Trinkwasserquellen, erwiesen sich laut einer 2021 veröffentlichten Studie ferner VerĂ€nderungen im Wasserhaushalt: Der anatomisch moderne Mensch muss – trotz erhöhter Schweißproduktion – zwischen 30 und 50 Prozent weniger FlĂŒssigkeit aufnehmen als ein Schimpanse, um seinen Wasserhaushalt langfristig stabil zu halten.[120]

Die behaarte Kopfhaut wiederum reduziert Experimenten zufolge den WĂ€rmegewinn durch Sonneneinstrahlung, wobei dicht gelocktes Haar Kopfhaut und Gehirn am effektivsten vor Sonneneinstrahlung schĂŒtzt und gleichzeitig den Bedarf an Schweiß zum Ausgleich des WĂ€rmegewinns minimiert.[121]

Eine Mutation des Gens EDAR fĂŒhrte vermutlich vor rund 30.000 Jahren bei den Bewohnern Ostasiens dazu, dass die Dichte ihrer SchweißdrĂŒsen noch grĂ¶ĂŸer und zugleich die Haare dicker wurden.[122]

Eine Folge der reduzierten Behaarung war, dass die nunmehr weitgehend ungeschĂŒtzte Haut der intensiven afrikanischen Sonneneinstrahlung ausgesetzt war: „Um die schĂ€dliche UV-Strahlung abzuhalten, ‚erfand‘ der Körper die Produktion von Melanin und damit die dunklere Hautfarbe, die es den Menschen ermöglichte, in diesen Breitengraden ĂŒberhaupt ĂŒberleben zu können.“[123] Pigmentierte Haut verhindert unter anderem, dass die FolsĂ€ure-Versorgung des Körpers durch ein Übermaß an UV-Strahlung beeintrĂ€chtigt wird.[124] Nach Berechnungen von Nina Jablonski (California Academy of Sciences) ist die Hautfarbe relativ leicht verĂ€nderbar, so dass sich ein Wechsel von hell nach dunkel bzw. von dunkel nach hell innerhalb von nur 100 bis 200 Generationen vollziehen kann.[125] Daher sei die Hautfarbe „wertlos fĂŒr das Bestimmen der stammesgeschichtlichen Verwandtschaft“ von heute lebenden Populationen.[126]

Eine weitere Folge der reduzierten Behaarung war, dass die sichtbar gewordene Haut stĂ€rker als zuvor durch Verhornung geschĂŒtzt werden musste: „Vergleiche des menschlichen und des Schimpansengenoms zeigten, dass wir uns von unseren nĂ€chsten Verwandten gerade auch in jenen Genen deutlich unterscheiden, deren Proteine ĂŒber Hauteigenschaften bestimmen.“[118] Ferner konnte die FĂ€rbung der Haut zu einem sozialen Signal werden und beim anatomisch modernen Menschen auch der innerartlichen Kommunikation dienen, indem emotionale ZustĂ€nde wie Angst oder Wut mit Erbleichen oder Erröten einhergehen. Zudem verlagerten sich Signale ĂŒber emotionale ZustĂ€nde vom gestrĂ€ubten Haar hin zu einem komplexen Mienenspiel.

Es ist zudem „offensichtlich, dass Auftreten und langsame Zunahme der Schambehaarung in der PubertĂ€t die Geschlechtsreife signalisiert.“[127]

Sozialverhalten

Der PalĂ€oanthropologe Richard Leakey beschrieb das Sozialverhalten der Vorfahren des Menschen, die vor sieben Millionen Jahren lebten, wie folgt: „Statt als Familiengruppen in nomadischen VerbĂ€nden zu leben wie heutige JĂ€ger und Sammler, lebten die ersten Menschen wahrscheinlich wie Mantelpaviane. Rudel von um die 30 Individuen streiften damals in koordinierter Weise durch ein ausgedehntes GelĂ€nde und kehrten nachts zu ihren bevorzugten SchlafplĂ€tzen in steilen FelswĂ€nden oder Baumgruppen zurĂŒck. Ausgewachsene Weibchen und ihr Nachwuchs machten den grĂ¶ĂŸten Teil des Rudels aus, wĂ€hrend geschlechtsreife MĂ€nnchen nur in geringer Zahl vorhanden waren.“[128]

Unser heutiges Sozialverhalten, das sich zum Beispiel in Empathie, sozialer NĂ€he / Distanz, Bereitschaft zu aggressivem Verhalten, Ängstlichkeit oder in den Reaktionen auf Stressoren zeigt, wird in erheblichem Maße durch Hormone wie Adrenalin, Oxytocin, Serotonin und Testosteron beeinflusst.[129] Einer 2018 publizierten Studie zufolge unterscheiden sich die Menschen von allen anderen Primaten u. a. durch eine – auch im Vergleich mit den anderen Menschenaffen – „dramatisch“ erhöhte Dopamin-AusschĂŒttung im Striatum und einer geringeren Freisetzung von Acetylcholin. Auch die Produktion von Serotonin und von Neuropeptid Y im Striatum ist erhöht. Diese Kombination von erhöhter und verringerter Hormonproduktion „begĂŒnstigt von außen gesteuertes Verhalten und verstĂ€rkt erheblich das GespĂŒr fĂŒr soziale Signale, die soziale Anpassung, Empathie und Altruismus fördern.“[130]

Kindheit

Der beim weiblichen Homo sapiens – im VerhĂ€ltnis zur KörpergrĂ¶ĂŸe aller anderen Menschenartigen – sehr enge Beckenkanal ist insofern besonders bemerkenswert, als die GehirngrĂ¶ĂŸe eines Neugeborenen bei Homo sapiens ohnehin nur ungefĂ€hr 28 Prozent der GehirngrĂ¶ĂŸe des Erwachsenen betrĂ€gt. Ein Schimpanse wird hingegen bereits mit 40 Prozent der GehirngrĂ¶ĂŸe seines ausgewachsenen Individuums geboren,[131] und auch der frĂŒhe Homo erectus wurde im AltpleistozĂ€n – vor mehr als einer Million Jahren – vermutlich noch mit rund 35 Prozent der GehirngrĂ¶ĂŸe des Erwachsenen geboren,[64] obwohl dessen Beckenkanal bereits deutlich grĂ¶ĂŸer war als der von Australopithecus afarensis. Makaken werden sogar mit 70 Prozent des Gehirnvolumens ausgewachsener Artgenossen geboren.[132]

Vergleichsweise verlangsamt im Vergleich mit Homo erectus ist bei Homo sapiens auch das GrĂ¶ĂŸenwachstum des Gehirns in den Monaten nach der Geburt. Dies wurde abgeleitet von einem 1939 auf Java entdeckten KinderschĂ€del („Mojokerto child“; Sammlungsnummer: Perning I), den man 1994 mit Hilfe der 40Ar-39Ar-Methode auf 1,8 Millionen Jahre datierte. 2004 wurde dem Kind ein Lebensalter bei Todeseintritt von ungefĂ€hr einem Jahr und ein Gehirnvolumen von ungefĂ€hr 70 bis 90 Prozent eines Erwachsenen zugeschrieben; zum Vergleich: Kinder von Homo sapiens haben im Alter von einem Jahr erst ungefĂ€hr 50 Prozent des Gehirnvolumens eines Erwachsenen.[132]

Hieraus können zwei evolutionĂ€re Trends fĂŒr die Entwicklungslinie abgeleitet werden, die zu den heute lebenden Menschen fĂŒhrt: Zum einen vergrĂ¶ĂŸerte sich der Beckenkanal, was auf den Durchtritt eines schon vor der Geburt immer grĂ¶ĂŸer gewordenen Gehirns schließen lĂ€sst;[133] zum anderen wurde das Gehirn – im VerhĂ€ltnis zu seiner GrĂ¶ĂŸe beim Erwachsenen – bei der Geburt immer kleiner. Das Gehirnwachstum wurde somit in erheblichem Maße in die Zeit nach der Geburt verlegt, was eine deutliche VerlĂ€ngerung der Kindheit und der mit ihr verbundenen, verlĂ€ngerten sozialen FĂŒrsorge durch Erwachsene schon vor 160.000 Jahren,[134] vermutlich sogar noch frĂŒher,[135] zur Folge hatte: Die Phase von Kindheit, Jugend und Adoleszenz – die zugleich eine Phase der Erziehung und des intensiven sozialen Lernens ist – dauert beim anatomisch modernen Menschen doppelt so lang wie bei den Schimpansen und fĂŒhrte zu einer VerlĂ€ngerung des Intervalls zwischen zwei Geburten. Auch im Vergleich mit Homo erectus[136] und mit den Neandertalern war die Entwicklungsgeschwindigkeit eines Kindes von Homo sapiens wesentlich langsamer.[137]

Lebenserwartung

Taxon Dauer der
TrÀchtigkeit
(Tage)
Lebens-
erwartung
(Jahre)
Lemuren 120–135 14–15
Makaken 165 27–28
Gibbons 210 30–40
Schimpansen 228 40–50
Menschen 266 > 70[138]

Zu den fortpflanzungsbiologischen Besonderheiten der Primaten-Evolution gehört, dass sich nicht nur die Kindheit, sondern auch die vorgeburtliche Phase (die Dauer der TrÀchtigkeit) und insgesamt die Lebenserwartung im Verlauf der Stammesgeschichte verlÀngert haben (siehe Tabelle[139]).

Die Tendenz zu einer verlĂ€ngerten Lebensspanne ging vermutlich einher mit speziellen genetischen Anpassungen zur Abwehr von potentiellen Krankheitserregern. Dies wurde unter anderem abgeleitet aus einer Studie zur Funktionsweise des Apolipoprotein E. Dessen nur beim Menschen vorhandene Variante ApoE3 trĂ€gt maßgeblich dazu bei, dass Menschen weniger empfindlich auf EntzĂŒndungen und Infektionen reagieren als zum Beispiel Schimpansen.[140]

Eine weitere Konsequenz der gestiegenen Lebenserwartung war – so wird hĂ€ufig argumentiert[141][142] – das Entstehen der Menopause: „Um fĂŒr die Nachkommen von MĂŒttern in fortgeschrittenem Alter die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, den Tod der Mutter zu ĂŒberleben, entwickelten sich neue Reproduktionsstrategien, d. h. Ă€ltere Frauen gebĂ€ren nicht selbst noch Kinder, sondern investieren in die FĂŒrsorge des Nachwuchses der eigenen Tochter. Die ‚Erfindung der Großmutter‘ stellt vermutlich die funktionale Zweckursache (= ultimate Ursache) der weiblichen Menopause dar.“[143] TatsĂ€chlich wurde fĂŒr Finnland und Kanada belegt, dass eine besonders lange Lebenszeit nach der Menopause mit einer besonders großen Zahl an Enkelkindern korreliert.[144]

SexualitÀt

Bei allen SĂ€ugetieren besteht das Sexualverhalten aus einer Abfolge von Aktionen und Reaktionen der Sexualpartner, die sich jeweils „sehr spezifisch gegenseitig verstĂ€rken. [
] Das bedeutet, daß unter anderem das Sexualverhalten dieser Tiere nicht ‚instinktiv‘ ist, das heißt, nicht ausschließlich aus ihnen selbst heraus bestimmt.“[145] Vielmehr ist das Sexualverhalten dieser Tiere – und insbesondere der Menschenaffen – „in hohem Maß von Übung und Erfahrung“ abhĂ€ngig. „Menschen ist die FĂ€higkeit zu bestimmten grundlegenden sexuellen Reaktionen angeboren, sie sind aber nicht spezifisch auf Paarung ‚programmiert‘. Sie sind daher fast ganz auf Beobachtung und Erfahrung angewiesen. Ihr Sexualverhalten ist außerordentlich variabel“.[145]

WÀhrend Emotionen wie Angst und Furcht sowie Traurigkeit und Melancholie heute bereits durch pharmazeutische Therapien beeinflusst werden können, sind die neurobiologischen und physiologischen Grundlagen der Emotion Liebe noch weitgehend unverstanden.[146]

Genetisch determinierte Besonderheiten
  • Außerhalb von Zeiten der Schwangerschaft stĂ€ndig bestehende EmpfĂ€ngnisbereitschaft[147]
  • keine durch Beobachtung erkennbaren Merkmale fĂŒr den Sexualzyklus[147]
  • der direkten Ansicht verborgene primĂ€re Geschlechtsorgane bei der erwachsenen Frau
  • Geschlechtsverkehr weitgehend ohne Synchronisierung mit der Ovulation[147]
  • Ausbildung von BrĂŒsten bei erwachsenen Frauen unabhĂ€ngig von einer Laktation, deren GrĂ¶ĂŸe vom Fettgewebe bestimmt wird, nicht vom DrĂŒsengewebe; auch die auffĂ€llige FĂ€rbung der Brustwarzenregion und die GrĂ¶ĂŸe der Brustwarzenhöfe ist einzigartig unter den SĂ€ugetieren.
  • Beginn der Fruchtbarkeit im Vergleich zu anderen (auch langlebigen) Primaten erheblich verzögert
  • Beendigung der Fruchtbarkeit von Frauen lange vor ihrem Tod: Ab einem Alter von ca. 50 Jahren erleben Frauen durch die Wechseljahre ein Ende ihrer Fruchtbarkeit
  • Hervorhebung der adulten primĂ€ren Geschlechtsorgane durch deutlich abgesetzte Schambehaarung bei sonst geringer Behaarung
  • Verlust des Penisknochens[148]
  • Ausbildung eines fĂŒr Primaten im erigierten Zustand außerordentlich großen Penis, der nicht (ohne Hilfsmittel) verborgen werden kann
Kulturell etablierte Besonderheiten
  • Monogamie: In vielen Ethnien existieren mehr oder weniger langfristige Paarbeziehungen zwischen einer Frau und einem Mann, was jedoch eine Neigung beider Geschlechter zu ‚SeitensprĂŒngen‘ keineswegs ausschließt. Es gibt aber auch Populationen, in denen Polygynie oder Polyandrie vorkommen und offiziell geduldet werden. Genetische Untersuchungen deuten darauf hin, dass bei den Vorfahren der heutigen Menschen ĂŒber lange Zeitspannen hinweg Monogamie die ĂŒbliche Form der Paarbeziehung war.[149] Dies hatte auch zur Folge, dass die MĂ€nner langfristig und unmittelbar fĂŒr das Überleben der gemeinsamen Kinder mitverantwortlich wurden.[147]
  • Vorschriften und Verbote von Sexualpraktiken in vielen (oder den meisten) Kultur- und Religionsvorschriften.
  • Kopplung von Scham und SexualitĂ€t: Menschen sind die einzige Spezies, die Scham fĂŒr SexualitĂ€t entwickeln kann; Geschlechtsverkehr findet ĂŒblicherweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, wĂ€hrend Tiere in der Regel vor den Augen der Artgenossen kopulieren. Eine Reihe von Autoren vertritt die Position, dass der versteckte Eisprung, die SexualitĂ€t zum VergnĂŒgen und die Privatheit des Sexualaktes Merkmale sind, die die Bindung des Mannes an eine Frau, d. h. die zur Kinderaufzucht notwendige langfristige wirtschaftliche Kooperation von Paaren begĂŒnstigt haben.

Sprechvermögen

Das Zungenbein des Menschen: Die Gestalt dieses Knochens lĂ€sst RĂŒckschlĂŒsse zu auf das Sprechvermögen seines Besitzers.

Die BefĂ€higung zu einer Ă€ußerst komplexen Artikulation unterscheidet den anatomisch modernen Menschen von allen anderen Menschenaffen. Wann sich das hierauf grĂŒndende Sprechvermögen entwickelte und welcher Selektionsdruck dies bewirkte, ist mangels fossiler Belege weitgehend unbekannt. Möglicherweise dienten die fĂŒr das Sprechen erforderlichen komplexen Muskelbewegungen (schnelle und koordinierte Bewegungen der Lippen, des Unterkiefers und der Zunge) zunĂ€chst dem Mienenspiel, also der visuellen Kommunikation.[150]

Voraussetzung fĂŒr das Entstehen des Sprechvermögens war unter anderem die Herausbildung eines unter den Primaten einzigartigen Vokaltrakts und dessen motorischer Kontrolle sowie die geistige FĂ€higkeit, mit einer endlichen Anzahl von Lauten eine unendliche Anzahl von Bezeichnungen zu erzeugen, indem die Laute in einer bestimmten Abfolge (Syntax) angeordnet werden: „Im Vergleich zu den Menschenaffen liegt der fĂŒr die Spracherzeugung wichtige Kehlkopf tiefer und ist zudem in wichtigen Details, beispielsweise den StimmbĂ€ndern, anders konstruiert.“[151] Insbesondere die freie Beweglichkeit der Zunge trĂ€gt dazu bei, dass eine besonders große Vielfalt an Lauten erzeugt werden kann.[152]

Seit dem Fund des Zungenbeins eines Neandertalers im israelischen Karmelgebirge Mitte der 1980er-Jahre gilt es als gesichert, dass die anatomischen Voraussetzungen fĂŒr sprachliche Kommunikation auch beim Neandertaler gegeben waren. Ob dies auch schon fĂŒr den letzten gemeinsamen Vorfahren von Neandertaler und Homo sapiens gilt, ist hingegen unklar. Welche Bedeutung einer Mutation des fĂŒr das Forkhead-Box-Protein P2 codierenden Gens zuzuschreiben ist – dem in den Massenmedien die Rolle eines „Sprachgens“ zugeschrieben wurde[153] – ist gleichfalls unklar. Einer palĂ€ogenetischen Studie zufolge soll es seit 200.000 Jahren in der heute beim Menschen nachweisbaren Form existieren.[154]

Stammesgeschichtlich wesentlich Àlter ist hingegen die FÀhigkeit von Menschenaffen, Symbol-Kombinationen zu bilden und anderen Individuen mitzuteilen. Das haben beispielsweise seit den 1970er-Jahren die Forschungen von Roger Fouts an Schimpansen ergeben:[155]

„Sie haben also die auditiven und kognitiven FĂ€higkeiten, Sprache zu ‚verstehen‘, obwohl sie selbst nicht sprechen können. Aus diesen Experimenten ist zu schließen, daß das syntaktische und symbolische VerstĂ€ndnis in anderen Verhaltensbereichen evolviert worden ist, nĂ€mlich bei der sozialen Kognition. Mensch und nicht-menschliche Primaten unterscheiden sich hierin nicht fundamental.“[151]

Der wesentliche Unterschied zwischen menschlicher Sprache und den LautĂ€ußerungen anderer Tiere ist die Grammatik, die es ermöglicht, komplexe ZusammenhĂ€nge darzustellen. Menschen sind nur in einer sensiblen Phase der Kleinkindzeit in der Lage, die Grammatik einer Sprache spontan vollstĂ€ndig zu erlernen und sie akzentfrei sprechen zu lernen. Kleinkinder, die in einer Umgebung aufwachsen, in der keine voll ausgebildete Sprache zur Kommunikation verwendet wird – zum Beispiel in Situationen, in denen in einem Pidgin kommuniziert wird –, machen daraus im Umgang miteinander spontan wieder eine Sprache mit allen grammatikalischen Funktionen – eine sogenannte Kreolsprache.[156] Steven Pinker leitete daraus die Vorstellung von einem „Sprachinstinkt“ ab, der recht weitgehend die Eigenarten natĂŒrlicher Sprachen vorgeben soll.[157] Im Gegensatz dazu sind Menschenaffen zwar in der Lage, einzelne Wörter zu erlernen und sie zusammenzusetzen, um neue Bedeutungen auszudrĂŒcken, können aber keine grammatisch korrekten SĂ€tze bauen, um komplexere BedeutungszusammenhĂ€nge darzustellen.[158]

Eine Hypothese, die von vielen Forschern vertreten wird, besagt, dass Kommunikation durch Laute allmĂ€hlich die soziale Fellpflege ersetzt habe und – wie diese – zum Zusammenhalt der Gruppe beitrug,[159] das heißt, die SprechfĂ€higkeit entstand „in einem hochgradig sozialen, potentiell kooperativen Kontext, verknĂŒpft und einhergehend mit mindestens drei Merkmalen: gemeinsame Aufmerksamkeit, gemeinsame Absichten und Theory of Mind.“[160]

Wann sich, unter anderem aufbauend auf diesen FĂ€higkeiten, den anatomischen VerĂ€nderungen des Vokaltrakts und der Ausbildung des heutigen Sprachzentrums, die lautliche Kommunikation zur Symbolsprache entwickelte, lĂ€sst sich nach heutigem Stand des Wissens erst dann klĂ€ren, „wenn wir aus dem archĂ€ologischen Befund unmißverstĂ€ndliche Belege fĂŒr syntaktische und symbolhafte, auf hohem Niveau angesiedelte sprachliche FĂ€higkeiten haben. Auf dem Homo-erectus-Stadium waren diese Qualifikationen wohl noch nicht erreicht.“[151]

Kulturell tradierte Merkmale

Zu den kulturell tradierten Merkmalen zĂ€hlen beim Menschen unter anderem Geschichtlichkeit und Moral sowie die Weitergabe von Wissen durch Sprache (das heißt durch symbolische Kommunikation), die mit steigender GruppengrĂ¶ĂŸe wesentlich komplexere Kooperation,[161] das Anfertigen von Kunstwerken und der Technikeinsatz. Prozesse der kulturellen Evolution werden seit den 1970er Jahren unter dem Begriff Kulturethologie erforscht.[162]

FĂŒr Informationen, die allein durch menschliches Bewusstsein verbreitet und vermehrt („repliziert“) werden, schlug der Evolutionsbiologe Richard Dawkins im Jahre 1976 das Konzept der Memetik vor. Damit wurde ein Pendant zum Gen entworfen, wobei der Grundgedanke darin besteht, dass sich bestimmte Informationen („Meme“) aufgrund ihrer Vorteilhaftigkeit replizieren und gegenĂŒber anderen Informationen durchsetzen, ebenso wie das „erfolgreiche“ Gene tun.[163] In diesem Sinne können Traditionen der Werkzeugherstellung (Beispiel: Faustkeil), Arbeitsprozesse (Beispiel: Feuer, Ackerbau) oder Rituale frĂŒher Hominiden als Meme bzw. Memplexe („Mem-Komplexe“) bezeichnet werden, die sich aufgrund ihrer Vorteilhaftigkeit von Gehirn zu Gehirn replizieren.[164]

Der anatomisch moderne Mensch ist allerdings nicht die einzige Art, die erlernte Eigenschaften an die nachfolgende Generation weitergibt.[165] Ein bekanntes Beispiel ist das „Kartoffelwaschen“ einer Population von Japanmakaken auf der Insel Kƍjima. In einer Übersichtsarbeit von Andrew Whiten und Jane Goodall wurden 1999 mehrere Dutzend gruppenspezifisch tradierte Verhaltensweisen bei Schimpansen nachgewiesen, darunter auch Werkzeuggebrauch bei Schimpansen,[166] 2001 wurde beispielsweise „Kultur bei Walen und Delfinen“ beschrieben,[167] 2003 bei Orang-Utans[168] und bei Weißschulterkapuzinern.[169] Ein wesentlicher Unterschied zwischen Tieren und dem Menschen besteht daher nicht in der Existenz von kulturell tradierten Merkmalen, sondern darin, dass Jungtiere sich nur durch Beobachtungslernen Verhaltensweisen ihrer Eltern aneignen, wĂ€hrend Menschen ihr Wissen auch aktiver, durch Instruktionen (‚Lehrer‘ und ‚SchĂŒler‘) weitergeben.

Gesprochene Sprache

Die Art des evolutionĂ€ren Drucks, der zur Entwicklung eines sprachfĂ€higen Primatengehirns, zu VorlĂ€ufern der Sprache des Menschen und schließlich zur heutigen gesprochenen Sprache gefĂŒhrt hat, wird erst in jĂŒngerer Zeit – auch anhand von Tiermodellen – erforscht.[170]

Die grĂ¶ĂŸte genetische Vielfalt der Menschheit wurde in afrikanischen Populationen sĂŒdlich der Sahara nachgewiesen.[171] In Ă€hnlicher Weise wie die genetische und – hiermit verbunden – die phĂ€notypische Vielfalt mit Abstand von Afrika abnimmt, da zusĂ€tzliche Populationen in der außerafrikanischen Welt meist nur von wenigen Individuen gegrĂŒndet wurden, verringert sich auch die Zahl der benutzten Phoneme.[172] Hieraus wurde abgeleitet, dass der Ursprung der ersten tradierten menschlichen Sprachen (der Sprachursprung) in Westafrika, Zentralafrika oder im sĂŒdlichen Afrika gelegen habe.

Zur Struktur der ersten Sprachen – sogenannter Protosprachen – gibt es zahlreiche Hypothesen. Beispielsweise wird von einigen Forschern angenommen, dass anfangs einzelne Wörter ohne Anordnung in syntaktischen Strukturen (ohne Anordnung in „SĂ€tzen“) verwendet wurden; Einigkeit in der PalĂ€olinguistik herrscht darĂŒber, dass gesprochene Wörter anfangs vor allem auf Objekte und Ereignisse verwiesen und nicht auf Ideen.[152] Die auffĂ€llige HĂ€ufung von Tonsprachen, bei denen mit einer Änderung der Tonhöhe oder des Tonverlaufs in einer Silbe in der Regel auch eine Änderung der Bedeutung des entsprechenden Wortes (oder des Morphems) einhergeht, in tropischen und subtropischen Regionen wird durch die Hypothese erklĂ€rt, dass solche Sprachen sich in einer weniger feuchten Umgebung nicht haben herausbilden können, da trockene Luft es dem Kehlkopf erschwere, den richtigen Ton zu treffen.[173]

Nach der Analyse von 2200 lebenden Sprachen und toten Sprachen publizierten Murray Gell-Mann und Merritt Ruhlen 2011 eine Hypothese zum ursprĂŒnglichen Satzbau. Demnach ordnet die Mehrzahl der lebenden Sprachen ihre Satzglieder in der Reihenfolge Subjekt – Verb – Objekt, also: „Ich – sehe – Löwen“; die meisten toten Sprachen hingegen ordneten die Satzglieder in der Reihenfolge Subjekt – Objekt – Verb, „Ich – Löwen – sehe“. Gell-Mann und Ruhlen zufolge ließen sich alle ‚Subjekt-Verb-Objekt-Sprachen‘ von ‚Subjekt-Objekt-Verb-Sprachen‘ ableiten, es existiere aber kein einziger Hinweis auf eine gegensĂ€tzliche VerĂ€nderung des Satzbaus.[174] Dies wurde von Merritt Ruhlen als Beleg dafĂŒr interpretiert, „dass die mutmaßliche Ursprache eine ‚Subjekt-Objekt-Verb-Wortstellung‘ hatte.“[175]

Die Ă€ltesten, ĂŒber das afrikanische und europĂ€ische Siedlungsgebiet des Homo sapiens verteilten, gezeichneten Symbole – zum Beispiel Kreise, Spiralen, Punkte, Linien, offene und geschlossene Dreiecke sowie HĂ€nde – sind rund 35.000 Jahre alt;[176] unklar ist aber, ob diese Symbole als frĂŒhe Belege fĂŒr die AnfĂ€nge einer geschriebenen Sprache interpretiert werden können.

Nutzung des Feuers

Die kontrollierte Nutzung des Feuers durch die Gattung Homo, soll vor etwa einer Million Jahren begonnen haben, wobei Ă€ltere Funde umstritten sind. Die Entdeckung und Nutzung des Feuers entwickelte sich wahrscheindlich stufenweise und graduell.[177][178] Feuer ermöglichte seinen Beherrschern eine Vielzahl von Nutzungsmöglichkeiten: Die WĂ€rme trug dazu bei, sie wĂ€hrend der niedrigen Nachttemperaturen in kĂ€lteren Umgebungen am Leben zu halten und unterstĂŒtzte die Ausbreitung des Menschen von tropischen und subtropischen Klimazonen in gemĂ€ĂŸigte Klimazonen. Das Feuer wehrte zudem Raubtiere ab, vor allem in der Dunkelheit.[179]

Das Feuer spielte auch eine wichtige Rolle bei der VerĂ€nderung der ErnĂ€hrungsgewohnheiten. Das Kochen ermöglichte einen erheblichen Anstieg des Fleischkonsums und der Kalorienzufuhr, was die Entwicklung zum modernen Menschen vorantrieb.[179] Bald entdeckte dieser, dass Fleisch auch getrocknet und ĂŒber dem Feuer gerĂ€uchert werden konnte, um es fĂŒr die mageren Jahreszeiten zu konservieren.[180] Feuer wurde sogar zur HĂ€rtung von Werkzeugen fĂŒr die Jagd und fĂŒr das Schlachten verwendet.[181] Die Hominiden lernten auch, dass das EntzĂŒnden von Buschfeuern zur Verbrennung großer FlĂ€chen die Fruchtbarkeit des Bodens erhöhen und das GelĂ€nde rĂ€umen konnte, um die Jagd zu erleichtern.[180][182] Feuer wurde zudem fĂŒr die Jagd selbst eingesetzt. Feuer wurde auch verwendet, um Höhlen auszurĂ€umen, bevor man sie bewohnte, und trug dazu bei, dass die Nutzung von UnterkĂŒnften begann.[183] Die vielfĂ€ltigen Verwendungsmöglichkeiten des Feuers könnten zu spezialisierten sozialen Rollen gefĂŒhrt haben, z. B. zur Trennung von Köchen und JĂ€gern.[184] Das Feuer fĂŒhrte auch zu einer VerlĂ€ngerung der TagesaktivitĂ€ten und ermöglichte mehr nĂ€chtliche AktivitĂ€ten.[185] Hinweise fĂŒr große Feuerstellen deuten darauf hin, dass der Großteil der Nacht in der NĂ€he von Feuer verbracht wurde.[186] Die verstĂ€rkte soziale Interaktion beim Zusammensein am Feuer könnte die Entwicklung der Sprache gefördert haben.[185]

Werkzeuggebrauch

Faustkeil aus Boxgrove, England

FĂŒr die Abgrenzung der Gattung Homo von den Australopithecinen wurde lange Zeit Werkzeugnutzung als wichtiges Definitionskriterium angesehen.[187] Dies Ă€nderte sich erst, nachdem Jane Goodall 1964 den Werkzeuggebrauch bei Tieren nachgewiesen hatte.[188] Es wird vermutet, dass – vergleichbar den heute lebenden Schimpansen – von Australopithecinen auch bearbeitete HolzstĂŒcke verwendet wurden, die wegen ihrer VergĂ€nglichkeit archĂ€ologisch aber nicht nachweisbar sind.[189][190]

In Kenia wurden an der Fundstelle Lomekwi 3,3 Millionen Jahre alte Steinwerkzeuge (GeröllgerĂ€te) entdeckt, die 2015 von ihren Entdeckern als Lomekwian-Typ bezeichnet wurden. Die Ă€ltesten Steinwerkzeuge vom Oldowan-Typ sind bis zu 2,9 Millionen Jahre alt und stammen aus der FundstĂ€tte Nyayanga in Kenia.[191] Aus der gleichen Fundschicht traten zudem zwei große BackenzĂ€hne zutage, die Paranthropus zugeschrieben wurden. Aus Äthiopien stammen bis zu 2,6 Millionen Jahre alte Funde, die somit ebenfalls Ă€lter sind als die frĂŒhesten Vertreter der Gattung Homo.[192][193] Sie wurden – wie auch die Funde von Nyayanga – in Verbindung mit Knochen gefunden, auf denen Schnittspuren von der Bearbeitung mit Steinwerkzeugen erhalten sind und die daher als relativ gesichert gelten.[193] Urheber dieser Werkzeuge ist aus heutiger Quellenlage Australopithecus garhi. 3,4 Millionen Jahre alte Ritzungen an zwei Wildtierknochen aus Dikika wurden ebenfalls auf Steinwerkzeuge zurĂŒckgefĂŒhrt und Australopithecus afarensis zugeschrieben;[194] aus der gleichen Fundschicht ist hier allerdings bisher kein SteingerĂ€t bekannt, weswegen die Interpretation der Ritzungen als Schnittspuren umstritten ist.[195] In SĂŒdafrika entdeckte, 500.000 Jahre alte Steinartefakte wurden im Jahr 2012 als Projektilspitzen interpretiert; sollte diese Deutung korrekt sein, wĂ€ren die aus der Fundstelle Kathu Pan 1 (KP1) stammenden Funde die Ă€ltesten Belege fĂŒr die Nutzung von Speeren.[196]

Eine ĂŒberzeugende Korrelation von biologischer Entwicklung – der Aufspaltung in unterschiedliche Arten – und dem vermuteten Selektionsvorteil durch Nutzung einfacher GeröllgerĂ€te konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Stattdessen wird die Einnischung aufgrund des regional sehr unterschiedlichen Nahrungsangebots als möglicherweise wichtigste Triebkraft der Artbildung angesehen.[197] FĂŒr jĂŒngere Homo-sapiens-Populationen gilt es hingegen weiterhin als wahrscheinlich, dass die Vermittlung spezieller Herstellungstechniken fĂŒr SteingerĂ€t an die jeweils nachfolgende Generation unter anderem Auswirkungen auf Sozialverhalten und Lernvermögen hatte[198] und auch die BefĂ€higung zu planvollem Handeln förderte.[199] Einer 2024 veröffentlichten Analyse von Steinwerkzeugen zufolge Ă€nderte sich deren Beschaffenheit ĂŒber fast drei Millionen Jahre hinweg nur geringfĂŒgig; erst seit rund 600.000 Jahren ist der Studie zufolge eine rasche Zunahme der KomplexitĂ€t nachweisbar, was als Anzeichen fĂŒr den Beginn einer „kumulativen Kultur“ interpretiert wurde.[200]

SpĂ€testens vor 72.000 Jahren wurden Steine aus einem bestimmten verkieselten Gestein (Silcrete), aus denen Werkzeuge mit scharfen Kanten hergestellt werden sollten, routinemĂ€ĂŸig ins Feuer gelegt; nach der Erhitzung konnte man die AbschlĂ€ge leichter vom Kern trennen.[201]

Auch die Domestizierung des Wolfes wurde dahingehend interpretiert, dass er zu einem ‚(Jagd-)Werkzeug‘ des Menschen geformt wurde.[202]

Kleidung

488 Flachsfasern – darunter 58 mutmaßlich gefĂ€rbte Fasern – gelten als die Ă€ltesten Belege fĂŒr das Anfertigen von Kleidung. Sie stammen aus der Dzudzuana-Höhle in Georgien und wurden 2007 und 2008 aus einer Bodenschicht geborgen, deren Alter auf 36.000 bis 31.000 Jahre (yr B.P. ka) datiert wurde.[203] Nur unwesentlich jĂŒnger sind Faserfunde – vermutlich von Brennnesseln – aus DolnĂ­ Věstonice (Tschechien), die 32.000 bis 29.000 Jahre alt sind und ebenfalls von Cro-Magnon-Menschen (Homo sapiens) stammen.[204]

Wann die ersten KleidungsstĂŒcke (vermutlich aus Fellen) angefertigt wurden, ist unbekannt, da es keine noch Ă€lteren archĂ€ologischen Funde gibt. Allerdings haben Genanalysen von MenschenlĂ€usen zu dem Schluss gefĂŒhrt, dass Homo sapiens bereits vor mindestens 70.000 Jahren, möglicherweise sogar schon vor 170.000 Jahren Kleidung trug.[114][115] Als Hinweis auf eine mögliche Verarbeitung von Leder vor rund 40.000 Jahren wurde zudem 2023 der Fund eines Knochens im Nordosten Spaniens interpretiert, der eine Reihe gleichförmiger Vertiefungen aufweist und als Unterlage gedient haben könnte, um Leder zu durchbohren und fĂŒr das VernĂ€hen vorzubereiten.[205]

Spekuliert wird in Fachkreisen ferner darĂŒber, dass auch die sehr viel frĂŒher stattgefunden habende Ausbreitung von Homo heidelbergensis und der Neandertaler im nördlichen Eurasien „eine kĂ€lteabweisende Kleidung“ erforderte, „um auch bei monatelang unter 10 Grad Celsius fallenden Temperaturen ohne bleibende und fĂŒr kleine Kinder durch anhaltende UnterkĂŒhlung unfehlbar tödliche SchĂ€den handlungsfĂ€hig zu bleiben.“[206]

ErnÀhrung

Nach heutigem Kenntnisstand ist der anatomisch moderne Mensch „von Natur aus“ weder ein reiner „Fleischfresser“ (Carnivore) noch ein reiner „Pflanzenfresser“ (Herbivore), sondern ein „Allesfresser“ (Omnivore).[207] FĂŒr die frĂŒhesten zur Gattung Homo gestellten Fossilien wurde nachgewiesen, dass sie sich – Ă€hnlich wie Australopithecus africanus und Paranthropus robustus – zu mehr als 50 Prozent ihrer tĂ€glichen Zufuhr an Nahrungsenergie von C3-Pflanzen und zu einem weiteren erheblichen Anteil von C4-Pflanzen ernĂ€hrten.[208]

Der Gebrauch von Werkzeugen hat spĂ€ter die ErnĂ€hrung des Menschen wesentlich beeinflusst und in der Folge auch die Gestalt der Knochenplatten des Kopfes, der Kiefer und der ZĂ€hne verĂ€ndert. Wenn man die Zeitspanne, die Affen tĂ€glich fĂŒr die Nahrungsaufnahme aufwenden, auf die Körpermasse des Menschen umrechnet, wĂŒrde man erwarten, dass Homo sapiens 48 Prozent der tĂ€glichen AktivitĂ€t hierfĂŒr verwendet; tatsĂ€chlich sind es aber nur knapp fĂŒnf Prozent.[209] Insbesondere die im Vergleich zu Homo habilis und Homo rudolfensis verkleinerten BackenzĂ€hne – vor rund 1,9 Millionen Jahren bei Homo erectus und spĂ€ter beim Neandertaler und bei Homo sapiens – können am ehesten als Folge von „verarbeiteter“ Nahrung interpretiert werden. 1,95 Millionen Jahre alte Knochenfunde aus Kenia bezeugen beispielsweise, dass damals bereits neben Antilopenfleisch auch das Fleisch zahlreicher im Wasser lebender Tiere – darunter Schildkröten, Krokodile und Fische – verzehrt wurde.[197] Australopithecus afarensis hatte sich, vergleichbar den heutigen Pavianen, noch von einer ĂŒberwiegend pflanzlichen, aber wenig hartfaserigen Kost ernĂ€hrt,[210] wĂ€hrend die Individuen der Gattung Homo bereits vor zwei Millionen Jahren zunehmend proteinreichere Kost verzehrten – was wiederum die allmĂ€hliche VergrĂ¶ĂŸerung des Gehirns begĂŒnstigte.[211]

Historische Abbildung aus Madagaskar: Rasches Drehen von Hölzern erzeugt Hitze und kann ein Feuer entfachen.

Als gesichert gilt beim derzeitigen Forschungsstand, dass Homo erectus als erster die Beherrschung des Feuers lernte, was eine unter allen Lebewesen exklusive FĂ€higkeit der Gattung Homo ist; jedoch scheinen auch Schimpansen gekochte Nahrung zu bevorzugen.[212] Die Ă€lteste unumstrittene Fundstelle mit verbrannten menschlichen Nahrungsresten ist Gesher Benot Ya’aqov im Norden Israels, die etwa 790.000 Jahre alt ist.[213] In Europa hingegen stammt der Ă€lteste Nachweis von Feuerstellen aus der Zeit um 400.000 vor heute (Schöningen in Deutschland und Beeches Pit in England), wĂ€hrend Ă€ltere Fundstellen homininer Fossilien wie die Höhle von Arago in Frankreich oder die Höhlen in der Sierra de Atapuerca (Sima del Elefante, Gran Dolina) keine Spuren von Feuergebrauch aufweisen; trotz Temperaturen von zeitweise unter Null Grad hat Homo erectus demnach Europa ohne WĂ€rmeerzeugung durch Feuerstellen besiedeln können.[214] Auch das Erhitzen der Nahrung hat Homo erectus demzufolge in Europa erst relativ spĂ€t praktiziert, Homo sapiens hingegen vermutlich seit Beginn seiner Existenz als unterscheidbare Art.[215]

Auch heute noch ist der Mensch ein „Allesfresser“ (Omnivore); umstritten ist allerdings, welcher Anteil der Nahrungsaufnahme in vormodernen Gesellschaften auf Fleisch und auf Pflanzenkost entfiel:[216][217] WĂ€hrend sich die Ewenken in Sibirien und die Eskimos ĂŒberwiegend fleischlich ernĂ€hrten, lebten die Völker in den Anden in erster Linie von pflanzlichen Nahrungsmitteln; bei der Mehrheit der heute noch lebenden JĂ€ger-und-Sammler-Völker stammt allerdings weit ĂŒber die HĂ€lfte der Kost von Tieren.[218]

FĂŒr die vor 30.000 Jahren in Europa lebenden MĂ€nner wurde die KörpergrĂ¶ĂŸe auf im Mittel 1,72 Meter geschĂ€tzt; spĂ€ter – offenbar infolge der Ausweitung der Landwirtschaft – verschlechterte sich die ErnĂ€hrungslage, so dass die KörpergrĂ¶ĂŸe bis vor 4000 Jahren stetig abnahm. Eine weitere GrĂ¶ĂŸenabnahme ereignete sich im Mittelalter. Erst seit etwa 100 Jahren hat die KörpergrĂ¶ĂŸe der mĂ€nnlichen EuropĂ€er wieder den Ausgangswert erreicht und ihn in jĂŒngster Zeit ĂŒberschritten.[219]

Kunstwerke

Durchbohrte Meeresschnecken aus der Blombos-Höhle

Als die frĂŒhesten Zeugnisse symbolischer Kommunikation gelten mit geometrischen Gravuren verzierte Ocker­stĂŒcke aus der Blombos-Höhle in SĂŒdafrika, die auf etwa 77.000 Jahre datiert wurden.[220] Noch 5000 Jahre Ă€lter sind durchbohrte SchneckenhĂ€user (Nassarius gibbosulus) aus der Grotte des Pigeons bei Taforalt (Region Oujda, Marokko), die mit anhaftenden Ockerresten gefunden wurden.[221] UngefĂ€hr 60.000 Jahre alt sind 270 Fragmente von Straußeneiern, die gleichfalls in SĂŒdafrika – in der Diepkloof-Höhle – entdeckt wurden und ebenfalls geometrische Muster (Schraffuren, parallele und sich kreuzende Linien) aufweisen.[222] Mit einem Alter von unter 40.000 Jahren wesentlich jĂŒnger sind die aus Europa bekannten Höhlenmalereien sowie Objekte wie beispielsweise die Löwenmenschen und die Venus vom Hohlen Fels.

Soziale FĂŒrsorge

Soziale FĂŒrsorge, das heißt die altruistische Versorgung von nur eingeschrĂ€nkt handlungsfĂ€higen Individuen durch andere Mitglieder ihrer Gruppe, ist bei den heute lebenden Menschenaffen weitgehend beschrĂ€nkt auf die ErnĂ€hrung und den Schutz von Jungtieren. Die Merkmale einiger Fossilien der Gattung Homo wurden jedoch dahingehend interpretiert, dass sie deutliche Hinweise auf soziale FĂŒrsorge zugunsten von betagten Erwachsenen zeigen. So wurde in Georgien unter den homininen Fossilien von Dmanissi ein rund 1,8 Millionen Jahre alter, zahnloser SchĂ€del mit zugehörigem unbezahntem Unterkiefer entdeckt, dessen „verheilte“ ZahnfĂ€cher den Schluss zulassen, dass das Individuum – obwohl es grobe Nahrungsmittel nicht mehr zerkauen konnte – mit stark zerkleinerten Nahrungsmitteln versorgt und trotz seiner Behinderung sozial integriert gewesen sein muss.[223]

Ähnlich interpretiert wird der Fund eines rund 500.000 Jahre alten Homo heidelbergensis aus der Sierra de Atapuerca in Spanien: Die mĂ€nnliche WirbelsĂ€ule zeige Anzeichen einer ausgeprĂ€gten Kyphose (eines „Buckels“), von Spondylolisthesis und von Morbus Baastrup, so dass dieses Individuum sich vermutlich nur noch mit einem „Gehstock“ habe aufrecht fortbewegen können. Weder habe es aufgrund dieser schmerzhaften Krankheiten an der Jagd teilnehmen noch schwere Lasten tragen können, so dass es vermutlich in besonderem Maße auf die soziale FĂŒrsorge seiner Gruppe angewiesen gewesen sei.[224]

SpiritualitÀt und ReligiositÀt

Venus vom Hohlefels

Schon Charles Darwin hatte vermutet, die Neigung des Menschen zu SpiritualitĂ€t und ReligiositĂ€t habe sich erst im Verlauf der jĂŒngeren Stammesgeschichte herausgebildet:

„Wir haben keinen Beweis dafĂŒr, dass dem Menschen von seinem Ursprunge an der veredelnde Glaube an die Existenz eines allmĂ€chtigen Gottes eigen war.“[225]

Darwin deutete diese Neigung als Folge bestimmter kognitiver, also letztlich durch die Verschaltung der Nervenzelle im Gehirn ermöglichter FÀhigkeiten:

„Sobald die bedeutungsvollen FĂ€higkeiten der Einbildungskraft, Verwunderung und Neugierde, in Verbindung mit einem Vermögen nachzudenken, theilweise entwickelt waren, wird der Mensch ganz von selbst gesucht haben, das was um ihn her vorgeht zu verstehen, und wird auch ĂŒber seine eigene Existenz dunkel zu speculiren begonnen haben.“[226]

Heutige Kulturanthropologen fĂŒhren die Existenz von SpiritualitĂ€t und ReligiositĂ€t darauf zurĂŒck, dass sie kooperatives Verhalten zwischen gleichgesinnten Fremden fördern und dadurch zum Entstehen und zum Erhalten stabiler sozialer Gruppen beitragen;[227] ungeklĂ€rt ist jedoch, ob dies im Sinne einer evolutionĂ€ren Anpassung oder – vergleichbar der MusikalitĂ€t – als ‚Begleiterscheinung‘ anderer kognitiver FĂ€higkeiten zu deuten ist.[228][229][230]

In welcher Epoche diese kognitiven FÀhigkeiten erstmals auftraten, ist umstritten: Einige Forscher stellen einen Zusammenhang mit den Àltesten, sicher datierten Bestattungen vor 95.000 Jahren in der Qafzeh-Höhle (Israel) her;[231] andere mit den Àltesten sicher datierten Kunstwerken wie der Venus vom Hohlefels vor rund 35.000 Jahren.[232][233]

Die neurophysiologische Basis geistiger FĂ€higkeiten ist bislang weitestgehend unerforscht, jedoch gibt es zumindest im Hinblick auf SpiritualitĂ€t erste Hinweise; so wies Vilayanur S. Ramachandran beispielsweise darauf hin: „Jeder Medizinstudent lernt, dass Patienten mit epileptischen AnfĂ€llen, die [im linken SchlĂ€fenlappen] entstehen, wĂ€hrend der AnfĂ€lle oft intensive spirituelle Erfahrungen haben
“[234] Ramachandran stellte ferner die Einzigartigkeit solcher Erfahrungen heraus:

„Wir Menschen besitzen viele Eigenschaften, die nur unserer Art eigen sind, aber keine von ihnen ist so rĂ€tselhaft wie die Religion – unser Hang, an eine höhere Macht zu glauben, die die Welt der Erscheinungen transzendiert. Es ist Ă€ußerst unwahrscheinlich, dass irgendein anderes Geschöpf nach ‚dem Sinn des Ganzen‘ fragen kann.“[234]

Siehe auch

Literatur

  • Gowan Dawson: Monkey to Man. The Evolution of the March of Progress Image. Yale University Press, New Haven 2024, ISBN 978-0-300-27062-4.
  • Winfried Henke, Hartmut Rothe: Menschwerdung. Fischer Digital, Frankfurt am Main 2015, ISBN ISBN 978-3-10-560068-9. (E-Book, Reihe: Fischer Kompakt)
  • Thomas Junker: Die Evolution des Menschen. 4. Auflage. C. H. Beck, MĂŒnchen 2021, ISBN 978-3-406-76513-1.
  • Andra Meneganzin, Telmo Pievani und Giorgio Manzi: Pan-Africanism vs. single-origin of Homo sapiens: Putting the debate in the light of evolutionary biology. Review in: Evolutionary Anthropology. Band 31, Nr. 4, 2022, S. 199–212, doi:10.1002/evan.21955. (freier Volltext)
  • Alice Roberts: Die AnfĂ€nge der Menschheit. Vom aufrechten Gang bis zu den frĂŒhen Hochkulturen. Dorling Kindersley Verlag, MĂŒnchen 2012, ISBN 978-3-8310-2223-6.
  • Ellinor Schweighöfer: Vom Neandertal nach Afrika. Der Streit um den Ursprung der Menschheit im 19. und 20. Jahrhundert (= Geschichte der Gegenwart, Bd. 17). Wallstein-Verlag, Göttingen 2018, ISBN 978-3-8353-3209-6.
  • Elke Zeller und Axel Timmermann: The evolving three-dimensional landscape of human adaptation. In: Science Advances. Band 10, Nr. 41, 2024, doi:10.1126/sciadv.adq3613. (freier Volltext)
Wiktionary: Hominisation â€“ BedeutungserklĂ€rungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Commons: Human evolution â€“ Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Belege

  1. ↑ Melinda C. Mills und Iain Mathieson: The challenge of detecting recent natural selection in human populations. In: PNAS. Band 119, Nr. 15, MĂ€rz 2022, e2203237119, doi:10.1073/pnas.2203237119 (freier Volltext).
  2. ↑ Stephen C. Stearns et al.: Measuring selection in contemporary human populations. In: Nature Reviews Genetics. Band 11, 2010, S. 611–622, doi:10.1038/nrg2831.
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    East-African human ancestors lived in hot environments, says Caltech-led team. Auf: eurekalert.org vom 8. Juni 2010. Hier heißt es als wörtliches Zitat des Co-Autors der PNAS-Studie, John Eiler (Robert P. Sharp Professor of Geology und professor of geochemistry am California Institute of Technology): „For example, by standing upright, we intercept less direct sunlight than if we were on all fours, and in hot, open environments, the ground and near-surface air can be appreciably hotter than the air a few feet above the ground. So, by standing upright, we are avoiding a high-temperature environment.“
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  55. ↑ nachzulesen in Science, Band 217, S. 295–304; die kritischen Stellungnahmen stammten von Glynn Isaac, Diahan Harley, James W. Wood, Linda D. Wolfe, J. Patrick Gray, John G. Robinson, Leslie S. Lieberman, Elizbeth H. Peters, Rebecca L. Cann und Allan C. Wilson.
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