1860 ging Scherer an die Universität Berlin, wo er unter anderem bei Moriz Haupt, Franz Bopp, Leopold von Ranke und bei Karl Müllenhoff hörte. Vor allem Müllenhoff förderte den begabten Studenten und beteiligte ihn 1864 an der Herausgabe der Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII. bis XII. Jahrhundert. In Berlin stand Scherer in Kontakt zu Jacob Grimm, über dessen Leben und Werk er 1865 sein erstes Buch veröffentlichte.
Scherer veröffentlichte auf allen Gebieten der deutschen Philologie. Als seine Hauptwerke gelten Zur Geschichte der deutschen Sprache (1868) und die vielfach aufgelegte Geschichte der deutschen Literatur (1883). Er gilt als einer der Begründer der Goethe-Philologie. 1885 zum ersten Vizepräsident der Goethe-Gesellschaft gewählt, war an der Vorbereitung der im Auftrag der Weimarer Großherzogin Sophie von Sachsen herausgegebenen Sophien-Ausgabe der Werke Goethes beteiligt.
Scherer gilt als einer der einflussreichsten Germanisten. Als einer der letzten Vertreter seiner Disziplin vertrat er selbständig alle Hauptgebiete der Germanistik in Forschung und Lehre. Scherer gründete in Straßburg und Berlin germanistische Seminare und beschäftigte sich als einer der ersten Hochschullehrer mit neuerer deutscher Literatur. Die von ihm begründete Scherer-Schule war in der Wissenschaftsgeschichte lange Zeit als Hort des literaturwissenschaftlichen Positivismus umstritten.
Weiters stellte Scherer die Theorie der Blüteepochen auf. Dabei handelt es sich um den Versuch einer Periodisierung der deutschen Literaturgeschichte. Scherer meinte, dass es rund alle 300 Jahre zyklenhaft zu einem Wechsel von blütenhaften (frauenhaften) Epochen zu Epochen des Verfalls (männischen) Epochen kommen würde. Die Zeiten der höchsten Blüte würden dabei um 1200 und um 1800 sein. Blüteepochen wären damit die Zeiten von 1050 bis 1350 und 1650 bis 1950. Perioden des Verfalls wären 750 bis 1050 und 1350 bis 1650 gewesen. Die Trennung erfolgte jedoch nicht so streng, sondern relativ, da sich etwas von einer vergangenen Epoche auf die folgende vererben würde. In diese Periodisierungstheorie flossen Reste einer biologisch determinierten Deutung von Literatur ein, die sich an Lebensalter und Wechsel der Jahreszeiten, also an der Natur, orientierte.[2]
Scherer betrieb maßgeblich die Ausstattung der geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten mit Seminarbibliotheken als Präsenzbibliotheken. Infolgedessen mussten Seminare nicht mehr in den Wohnungen, d. h. in den Privatbibliotheken der Professoren abgehalten werden. Dank der Seminarbibliotheken wurden die wichtigsten Bücher des jeweiligen Faches am Ort von Lehre und Forschung allgemein verfügbar.[3]
Leben Willirams Abtes von Ebersberg in Baiern, 1866.
Zur Geschichte der deutschen Sprache, 1868.
Deutsche Studien:
Bd. I: Spervogel, 1870.
Bd. II: Die Anfänge des Minnesanges, 1870.
zusammen mit Ottokar Lorenz: Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bilder aus dem politischen und geistigen Leben der deutschen Westmark. Zweite Auflage, Duncker, Berlin 1872 (Google Books).
Geistliche Poeten der deutschen Kaiserzeit. Studien, 1874.
Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich, 1874.
Geschichte der deutschen Dichtung im elften und zwölften Jahrhundert, 1875.
Anfänge des deutschen Prosaromans und Jörg Wickram von Colmar, 1875.
Peter Salm: Drei Richtungen der Literaturwissenschaft: Scherer, Walzel, Staiger. Niemeyer, Tübingen 1970 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. 2), ISBN 3-484-22002-3.
Uta Dobrinkat: Vergegenwärtigte Literaturgeschichte. Zum Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit in der Literaturgeschichtsschreibung Wilhelm Scherers am Beispiel der Skizzen aus der älteren deutschen Literaturgeschichte und der Geschichte der deutschen Literatur. Diss. FU Berlin 1979.
Jürgen Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgruendung. Die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer ; eine Biographie nach unveröffentlichten Quellen. Lang, Frankfurt am Main u. a. 1979 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1, Deutsche Literatur und Germanistik), ISBN 3-8204-6632-0.
Wolfgang Höppner: Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte“ im Werk Wilhelm Scherers. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik. Böhlau, Köln u. a. 1993 (= Europäische Kulturstudien. 5), ISBN 3-412-03893-8.
Herbert Zeman: Wilhelm Scherer (26.4.1841 – 6.8.1886). Aufbruch der Goethe-Forschung. Düsseldorf 2013 (= Düsseldorfer Goethe-Vorträge. 3), ISBN 978-3-9811005-3-2.
Bernhard Lauer: Von Wien nach Straßburg – Wilhelm Scherer (Zwei Alben mit 150 Visitbildern). In: Brüder Grimm-Journal 12 (2022), S. 16–17 (Abb.).