Tilman Riemenschneider wurde zwischen 1459 und 1462 in Heiligenstadt im Eichsfeld geboren. Als er etwa fünf Jahre alt war, musste sein Vater wegen früherer Verwicklungen in die Mainzer Stiftsfehde Heiligenstadt verlassen und verlor außerdem seinen Besitz. Die Familie zog nach Osterode um, wo sich der Vater als Münzmeister niederließ und Tilman seine Kinder- und Jugendjahre verbrachte.
Aufgrund der schlechten Quellenlage ist zu Riemenschneiders Ausbildungszeit in den 1470er Jahren nichts belegbar. Über allein stilistische Analysen wird allgemein davon ausgegangen, dass seine Lehre hochwahrscheinlich in Straßburg, bei Nachfolgern des stilprägenden Niclas Gerhaert van Leyden, und Ulm, möglicherweise bei Michel Erhart, erfolgte. Die Maria der Verkündigung im Louvre etwa weist mit ihrer raumgreifenden Energie auf Gerhaert, während die, aus der Marienkapelle in Würzburg stammende Verkündigungsmaria aus der gleichen Zeit um 1495 Einflüsse Erharts zeigt.[1] Riemenschneider kam in seinen Lehrjahren vermutlich auch bereits mit der Kunst Martin Schongauers in Berührung, durch den er mittelbar auch die flämische Kunst eines Rogier van der Weyden kennenlernte. Kupferstiche Schongauers dienten ihm später als Vorlagen.[2]
Würzburger Zeit
Für seinen Weg nach Würzburg ist vermutlich sein Onkel Nikolaus verantwortlich, ein Rechtsgelehrter in hohen Ämtern und Beziehungen zum FürstbischofRudolf II. von Scherenberg. Dieser mag ihm eine Anstellung im WürzburgerKollegiatstift Haug verschafft haben, die Riemenschneider nach dem Tod des Onkels 1478 verließ. Der Name Tilman Riemenschneider war allerdings nicht einzigartig, so dass die Identität mit dem Angestellten im Stift offen bleibt.[3] Sicher ist, dass Riemenschneider am 7. Dezember 1483 als „Malerknecht“ in die Sankt-Lucas-Gilde der Maler, Bildhauer und Glaser aufgenommen wurde.
Nachdem er am 28. Februar 1485 Anna Schmidt, die Witwe eines Goldschmiedemeisters, geheiratet hatte, endete sein Gesellendasein. Ihm wurden die Würzburger Bürgerrechte verliehen, und er kam zu Meisterehren. Dieser Weg des gesellschaftlichen Aufstiegs war im Spätmittelalter üblich. Die starre Zunftordnung ließ Ortsfremden oft gar keine andere Möglichkeit, in die Reihen der einheimischen Handwerksmeister aufgenommen zu werden. Außer Status und Vermögen, unter anderem den „Hof zum Wolfmannszichlein“ in der Franziskanergasse, brachte Tilman Riemenschneiders erste Ehefrau drei Söhne in die Ehe mit. Sie starb nach fast zehn Ehejahren und hinterließ ihm eine gemeinsame Tochter.
1497 heiratete Tilman Riemenschneider zum zweiten Mal. Mit Anna Rappolt hatte er drei Söhne, Georg (auch Jörg), der später die Werkstatt des Vaters übernahm, Hans (um 1500–1582), der als Bildschnitzer nach Nürnberg ging, und der Südtiroler Maler Bartlmä (Bartholemäus) Dill Riemenschneider. Ihre Mutter starb um 1506/1507 im neunten Ehejahr. Ein Jahr nach ihrem Tod heiratete Tilman Riemenschneider 1507 zum dritten Mal, Margarete Wurzbach. Nachdem auch diese verstorben war, heiratete er um 1520 Margarete, Witwe des Kilian Thurner, Tochter des Viertelmeisters Hans Schirmer, die ihn überlebte. Während die Ehefrauen immer jeweils den großen Meisterhaushalt führten, in dem auch die Lehrlinge lebten, betrieb Tilman Riemenschneider sein Gewerbe mit viel Geschäftssinn und Kunstfertigkeit. Um 1500 hatte er als Künstler einen hervorragenden Ruf, er war zum wohlhabenden Bürger und Vorsteher seiner Zunft geworden. Er besaß in Würzburg mehrere Häuser, reichlich Grundbesitz mit eigenen Weinbergen und eine florierende Werkstatt, in der er viele, teils sehr begabte Gesellen beschäftigte.
Öffentliche Ämter
Würzburg wurde seit dem 13. Jahrhundert von dem Bischof, dem Domkapitel und dem Unteren Rat und dem Oberen Rat regiert. Im November 1504 wurde Tilman Riemenschneider in den Unteren Rat der Stadt Würzburg berufen, dem er danach über 20 Jahre angehörte. Er bekleidete in dieser Funktion die Ämter eines Baumeisters und Fischereimeisters sowie eines Pflegers und Vermögensverwalters der Würzburger Marienkapelle.
Viermal wurde Riemenschneider in den übergeordneten Oberrat entsandt. Hier vertrat er gegenüber dem Bischof und den Domherren die Interessen der Stadt.
Durch die öffentlichen Ämter und Privilegien als Ratsherr mehrte er nicht nur sein gesellschaftliches Ansehen, sondern erlangte auch viele große, lukrative Aufträge. 1520/1521 wurde er zum Bürgermeister gewählt. Dieses Amt übte er bis 1524 aus. Zu dieser Zeit wehte schon der Geist der Reformation durchs Land und nahm auch viele Würzburger Bürger für sich ein.
Zeit des Bauernkriegs
Der Rat der Stadt führte seit längerem politische Auseinandersetzungen mit dem damaligen mächtigen FürstbischofKonrad II. von Thüngen, der als Landesherr in der Festung Marienberg direkt oberhalb der Stadt residierte. Der Streit eskalierte 1525 während des Deutschen Bauernkriegs, als sich aufständische Bauern vor der Stadt sammelten und die Würzburger Bürger sich mit ihnen gegen den Bischof verbündeten. Die Festung Marienberg hielt der Belagerung und den Angriffen aus der Stadt stand. Der Bischof drohte der Stadt mit Zerstörung, was die Bürger in ihrem Kampfeswillen demoralisierte. Zur entscheidenden Schlacht kam es am 4. Juni 1525 außerhalb der Stadt, wo die anrückenden Landsknechte des Georg Truchsess von Waldburg-Zeil das Bauernheer vernichteten. Da die Bauern am Vortag von ihrem militärischen Führer Götz von Berlichingen verlassen worden waren, mussten sie führerlos in den Kampf und hatten keine Chance. Innerhalb von zwei Stunden wurden 8000 Bauern getötet. Als die gut ausgerüsteten und kampferprobten Truppen des Bischofs zum Angriff auf die Stadt übergingen, endete auch der Aufstand der Bürger in ihrer Niederlage und Unterwerfung.
Die Anführer des Aufstands – unter ihnen alle Würzburger Ratsherren – wurden in den Verliesen der Festung Marienberg eingekerkert, gefoltert und zum Teil grausam bestraft. Auch Tilman Riemenschneider war zwei Monate in Kerkerhaft, in der er „vom hencker hart gewogen und gemartert“ wurde. Lange hielt sich die Legende, dass dem Künstler, der sich in die Politik verstrickt hatte, im Kerker die Hände gebrochen wurden und er danach nie mehr arbeiten konnte. Aber dafür gibt es keine Beweise. Gegen Zahlung der Hälfte seines Vermögens wurde er freigelassen. Die nachtragende Obrigkeit sorgte dafür, dass Tilman Riemenschneider seine politischen Ämter und seine Arbeit verlor und bald in Vergessenheit geriet. Nach seiner Freilassung erhielt er nie mehr einen größeren Auftrag. (Nur eine Ausbesserungsarbeit an einer Retabel in Kitzingen ist für 1527 belegt.)
Lebensende
Riemenschneider führte mit seiner vierten Ehefrau nach der Haftentlassung in Würzburg ein zurückgezogenes Leben. Er wohnte und arbeitete im von seiner ersten Frau mit in die Ehe eingebrachten Hof zum Wolfmannszichlein, Franziskanergasse 1[4] und starb dort am 7. Juli 1531. Er wurde auf dem Friedhof zwischen dem Würzburger Dom und dem Kollegiatstift Neumünster beigesetzt. Als Nachfolger Tilmans übernahm sein Sohn aus zweiter Ehe Georg Riemenschneider, auch als Jörg bekannt, die Werkstatt.
In Vergessenheit geraten, fand man 1822 bei Straßenarbeiten die Grabplatte Riemenschneiders wieder, die sein Sohn Jörg angefertigt haben soll. Ein Abguss ist heute in der Nähe des Fundorts an der Außenmauer des Würzburger Doms gegenüber dem Eingang zum Dom-Museum befestigt. Das Original befindet sich im Museum für Franken auf der Festung Marienberg. Danach setzte die Forschung über sein Leben und Werk ein und etablierte ihn bald als einen der herausragendsten Bildschnitzer in Deutschland um 1500.
Aufträge und Auftraggeber
Riemenschneider schuf neben wenigen profanen Arbeiten in der Hauptsache Bildwerke religiösen Inhalts. Seine Kunden waren der Klerus, aber auch die bürgerliche Gesellschaft. Die Aufträge für Riemenschneiders Altarschreine waren meistens in Form, Thema, Aufteilung, Figurenprogramm und Größe genau vorgegeben und ließen nicht viel Raum für künstlerische Freiheiten. Der Meister bewarb sich mit einer sogenannten Visierung, einer Präsentationszeichnung. Von Riemenschneider sind keine Zeichnungen erhalten.[5]Kistler besorgten das Altargehäuse, das heißt den Unterbau und die Altarrahmung.[6] In Würzburg war es etwa Erhart Harschner, der für das Gehäuse kaum weniger Lohn erhielt als Riemenschneider für das gesamte Figurenprogramm.[7]
Zu Riemenschneiders frühen Aufträgen zählen die Arbeiten für die Portalskulpturen der Marienkapelle (Würzburg) (um 1490). Von der Stadt Würzburg blieb dieses sein einziger Großauftrag. Allerdings erhielt er von der Stadt den Auftrag für einen Ratstisch. Gabriel von Eyb, der Bischof von Eichstätt, hatte den Würzburgern eine Platte aus Solnhofener Kalkstein geschenkt. Riemenschneider sollte hierfür ein Tischgestell anfertigen und die Platte mit dem Wappen der Stadt Würzburg, dem des Bischofs Gabriel von Eyb und dem des FürstbischofsLorenz von Bibra versehen. Auflage war, dass „wie man den disch kere, das iglichs wappen oben stehen solle“ (wie man den Tisch auch dreht, die Wappen sollten oben stehen). Riemenschneider löste das Problem, indem er die Wappen in konzentrischer Anordnung alternierend um den Mittelpunkt der runden Platte einfügte.[8]
Der Würzburger Fürstbischof Lorenz von Bibra wurde einer der wichtigsten Auftraggeber Riemenschneiders. Unter anderem arbeitete er an dem Tabernakel des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Hochaltars im Würzburger Dom. Außerdem schuf er die Grabdenkmale des Lorenz von Bibra und in dessen Auftrag für seinen Vorgänger, Fürstbischof Rudolf von Scherenberg. Beide sind noch heute im Dom zu sehen. Das jüngere Epitaph zeigt erstmals in Riemenschneiders Werk Renaissance-Ornamentik.
Material und Stil
Riemenschneider wurde stark durch den neuen raumhaltigen und lebendig naturalistischen Stil des Niclas Gerhaert van Leyden beeinflusst, den dieser in den 1460er Jahren in seiner Straßburger Werkstatt entwickelt hatte und der breiten Anklang bei den Auftraggebern, darunter Kaiser Friedrich III., fand.[9] In Ulm wurde dieser Stil durch Michel Erhart gepflegt, der vielleicht sogar in der Straßburger Werkstatt gearbeitet hatte. Neben Erhart in Ulm, Veit Stoß in Nürnberg (und Krakau) und Michael Pacher in Tirol gehört Riemenschneider zur ersten Generation, deren Werk den spezifisch süddeutschen Lindenholzaltar definierten, der dort zwischen 1475 und 1525 dominierend war. Riemenschneider war der Erste, der diesen auch ungefasst ließ.[10] Ihnen ist auch gemeinsam, dass sie ebenso in Sandstein, Kalkstein und Marmor arbeiten konnten und dabei teilweise der Lindenholzskulptur eigene Formen in Stein übertrugen und damit konsistente Stile entwickelten, die vom Material Lindenholz geprägt waren.
Das Verbreitungsgebiet der „zarten“, großblättrigen Sommerlinde (tilia platyphyllos) stimmt dabei mit der Verwendung von Lindenholz für Skulpturen überein, ungefähre Grenzen bilden die Mittelgebirgszüge nördlich von Mainz und westlich die Vogesen, nach Süden bis Tirol, nach Osten hin parallel zur Ausbreitung süddeutscher Handelsniederlassungen. Die, im Vergleich zu Eiche, Walnuss oder Buche, vorzügliche Eigenschaft leichter Bearbeitbarkeit aufgrund der homogenen Zellstruktur der Linde, steht eine höhere Feuchtesensibilität gegenüber, die zu (Stern-)Rissbildungen führen kann. Auch deswegen sind Lindenholzskulpturen überwiegend nicht rundum vollplastisch gestaltet, was für Altar- und Wandfiguren auch nicht nötig war. Sie wurden hinten ausgehöhlt (was, neben einer Gewichtsreduzierung, vor allem das Spannung erzeugende, tote Hirnholz beseitigte) und bildeten so eine mehr oder weniger massive C-Form.[11] Es ist möglich, dass auch Steinskulpturen zunächst als Modell in Lindenholz geschnitten wurden, zumindest gibt es Repliken von Holzarbeiten in Stein.[12]
Typische Lindenholzaltäre stellen Riemenschneiders Heilig-Blut-Altar in der Jakobskirche in Rothenburg ob der Tauber (1501/1505) und der CreglingerMarienaltar (um 1505/1508) dar, Flügelaltäre mit einer vielfigurigen Szene im Mittelteil, Reliefs (manchmal auch gemalten Tafeln) auf den Flügeln und darüber extrem hoch aufragendem gotischen Gesprenge, in dessen filigranen Strukturen weitere Figuren, häufig eine Verkündigung, kleine Engel und eine Jesusfigur in der Spitze Aufstellung fanden. Der Mittelteil, wie die einzelnen Szenen auf den Flügeln, sind zusätzlich von Rankenwerk bekränzt. Aufmontiert ist das Ganze auf eine Predella, die vermittelnd auf dem Altartisch steht und weitere Szenen in Relief oder, wie im Fall des Heilig-Blut-Altars, eine einzige, vollplastisch gestaltete Szene zeigt (hier eine Kreuzigung).
Eine besondere Fähigkeit Riemenschneiders besteht in der ortsspezifischen Anlage seiner Werke. Riemenschneider war ein Meister der Lichtführung.[13] Die beiden genannten Altäre bilden insofern Sonderfälle, als dass ihre zentralen Figurengruppen beide von verglasten gotischen Fensterreihen hinterstellt sind, die zusätzlich Licht von hinten einfließen lassen. So wie der Altar in einem durchfensterten Chor steht und der Betrachter davor im Kirchenraum, so findet die dargestellte Szene in einer ebensolchen Architektur statt. Die Rothenburger Reliquie des Blutes Christi dessen eucharistische Bedeutung in der Abendmahlsszene zum Ausdruck kommt, tat sein Übriges für die Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens und sorgte für ordentliche Ablassspenden von Wallfahrern wie Einheimischen, trotzdem die Figuren für ihre Wirkung keine Unterstützung durch eine leichter zugängliche farbige Fassung erhielten.[14]
Die von Riemenschneider geschaffenen Holz- und Steinskulpturen zeichnen sich durch ausdrucksstarke, detailliert gezeichnete Gesichter aus, oft mit einem „nach innen gekehrten Blick“, und durch dagegen glatt gearbeitete Gewänder mit reichem Faltenwurf. Nur die Gewandborten wie auch die Heiligenattribute sind häufig mit Mustern dekoriert, die einfachen meist gepunzt. Das Magdalenenretabel vom Münnerstädter Hochaltar weist z. B. fünf verschiedene Muster auf, der Creglinger Altar sogar acht. Solche Muster können dabei ein Indiz dafür sein, dass die Skulptur ursprünglich holzsichtig blieb.[15] Grundsätzlich forderte Holzsichtigkeit einen größeren Reichtum an ausgearbeiteten Details und in der Oberflächenbehandlung, um Haut von Kleidung, deren unterschiedliche Textilien, und die Figuren vom Hintergrund differenzieren zu können, was sonst durch die farbige Fassung besorgt wurde. Doch schon nach 1500 ist eine Vereinfachung in der Durcharbeitung und damit ein weniger expressiver Stil zu beobachten, im Spätwerk, wie dem Sandsteinaltar in Maidbronn (1519–1521) werden die Formen noch abstrakter. Der einmal entwickelte Stil bleibt trotzdem im Wesentlichen unverändert und eindeutig erkennbar.[16]
Farbige Fassung und „Holzsichtigkeit“
Die Bemalung (Fassung) von Skulpturen durch sogenannte Fassmaler war zu Riemenschneiders Zeit üblich. Im Gegensatz zu anderen Bildhauerwerkstätten beschäftigte Riemenschneider keine Maler. Er arbeitete wohl regelmäßig mit Jakob Mülholzer (nachweislich 1490/91–1514/15) und Martin Schwarz (um 1460–1511) zusammen.[17]
Trotz Fortschritten in der Analysetechnik[18] bleibt es schwer zu ermitteln, wie Skulpturen ursprünglich behandelt waren. Es existieren keine Dokumente, die sich bezüglich der Holzsichtigkeit eines Werk äußern, außer der expliziten Verfügung des Sohnes von Veit Stoß, dessen letztes Werk, den Marienaltar für die Nürnberger Karmelitenklosterkirche, wo Andreas Prior war, nicht farbig zu fassen (heute im Bamberger Dom).[19] Sicher ist, dass Skulpturen, die holzsichtig bleiben sollten, nicht unbehandelt blieben. Gewöhnlich malte der Bildschnitzer Augen schwarz und Lippen sowie Blut zum Beispiel mit Krapplack direkt auf das Holz, unabhängig davon, ob eine Bemalung vorgesehen war oder nicht.[20] Sollte eine Skulptur holzsichtig bleiben, wurde sie nach der Aufstellung mit einer pigmentiertenLasur gestrichen, um das Holz leicht schimmern zu lassen und zu schützen.
Sollte das Werk hingegen polychromiert werden, standen dem Fassmaler vielfältigste Mittel zur Verfügung. Zunächst wurde eine Schicht Haut- oder Knochenleim auf das Holz aufgetragen, die Unebenheiten und Poren füllte, über Fehlstellen wurden Tüchlein aufgeleimt. Darauf kam eine Kreidegrundierung, die, zu dick aufgetragen, leicht feine Details zudecken konnte. In Süddeutschland wurden reine Pigmente gegenüber Farbmischungen bevorzugt, die mit Eiweiß und/oder Öl gebunden und, wenn nötig, mehrfach aufgetragen wurden. Matte, eiweißgebundene Tempera kam vor allem bei Hintergründen und Gewandinnenseiten zum Einsatz. Vor allem für Gesichter wurde öl- oder harzgebundene Farbe, wegen ihres lebensnahen leichten Glanzes, verwendet.[23] Die Gewänder wurden den verschiedenen möglichen Textilien entsprechend in unterschiedlichster Form behandelt, die der Hauptfiguren wurden häufig vergoldet.[24] Für Vergoldungen wurde Blattgold und -silber auf eine Schicht von noch feuchtem Bolus (roten Ocker) aufgelegt und anschließend poliert. Schlagmetalle wurden genauso verwendet, ebenso in Pulverform, abschließend verschiedene Lasuren. Eine preiswerte Art Gold zu imitieren, war mit gelbem Lack gestrichenes Zinn, dass auch für textile Muster mit vorgefertigten sogenannten Pressbrokatapplikationen verwendet wurde.[25] Zu den am besten erhaltenen gefassten Skulpturen Riemenschneiders gehören die beiden Passionsfigurengruppen in München[26] und die Trauernden Frauen vom Hochaltar der Franziskanerkirche in Rothenburg (um 1485/1490), deren Fassung Martin Schwarz besorgte.[27]
Einige von Riemenschneiders Arbeiten wurden erst viel später farbig gefasst. Allein der Münnerstädter Stadtrat entschied sich schon wenige Jahre nach der Aufstellung 1492, das holzsichtige Retabel doch polychromieren zu lassen und beauftragte schließlich 1504 Veit Stoß mit der Ausführung.[28] Bemalungen wurden über die Zeit immer wieder erneuert, (nicht nur) die Farbgebung dem Zeitgeschmack entsprechend neu interpretiert und im 19. Jahrhundert mit seinen Reinheits- und Materialtreuegedanken aller Farbe mittels Natronlauge beraubt und daraufhin nicht selten z. B. mit dunklem Leinöl behandelt, das die Erscheinung völlig veränderte und dem Holz schadete.[29]
Zuordnung der Werke
Die Unterscheidung zwischen vollständig eigenhändiger Arbeit Riemenschneiders und Arbeiten der Mitarbeiter seiner Werkstatt ist sehr schwierig. Auch wenn Riemenschneider seine Werke signiert hätte, was noch nicht üblich war, aber vorkam, hätte es nur bedeutet, dass die Arbeit aus der Werkstatt des verantwortlichen Meisters kam. Lediglich in seiner Frühzeit, als die Werkstatt noch wenig Arbeit hatte, werden die Werke vom Meister selbst hergestellt worden sein. Hierzu zählen unter anderem die Figuren von Adam und Eva am Südportal der Würzburger Marienkapelle. Der Stadtrat forderte von ihm eine „meysterliche“, sprich eigenhändige Fertigung. Die Originale befinden sich heute im Museum für Franken auf der Festung Marienberg.
Riemenschneider und Werkstatt
Als später die Nachfrage nach seinen Werken stark anstieg und Riemenschneider selbst ab 1505 immer mehr durch seine öffentlichen Ämter in Anspruch genommen wurde, oblag die Ausführung der Arbeiten seiner Werkstatt. Hier waren zwischen 1501 und 1507 allein zwölf Lehrlinge beschäftigt, mehr als in jeder anderen Werkstatt der Würzburger Zunft.[30] Dazu kamen ausgelernte Angestellte ohne Meisterbrief und temporäre Kräfte auf Wanderschaft. Zwar beschäftigte er unüblicherweise keine eigenen Fassmaler, doch wies die Werkstatt Spezialisten auf, wie 1508 drei Steinmetze.[31] Wahrscheinlich hat Riemenschneider oft nur die Entwürfe geliefert und die Fertigung beaufsichtigt. Typisierte Einzelfiguren und Objekte wie Kerzen haltende Engel wurden serienmäßig hergestellt. Aber selbst Figurengruppen für größere Altaraufträge scheinen bis zu einem gewissen Grad standardisiert gewesen zu sein. Baxandall beschreibt die Varianzbreite vorgegebener Details wie Augen und Haar so: „Das von Riemenschneider gestaltete Auge – großflächig, nach unten blickend, asymmetrisch angeordnet innerhalb des Augenpaars, das Unterlid deutlich abgesetzt, mit bis zu sechs oder sieben S-förmigen Rillen je nach dem Alter des Dargestellten unterstrichen – existiert zu Hunderten, in Marmor, in Sandstein und Lindenholz, nur geringfügig abgewandelt in den verschiedenen Materialien. Das von Riemenschneider gestaltete Haupthaar bietet ein halbes Dutzend Haartrachten für Männer, wobei zwei oder drei unkomplizierte Schnittverfahren verschiedenartig kombiniert werden; man könnte in seinem Œuvre viele Hundert Köpfe zusammenaddieren, die mehr oder weniger spiralförmig mit einem Stechbeitel gerillt sind, in der Mitte ein mit dem Drillbohrer gefertigtes Loch haben und eine Locke an Kopf oder Bart vorstellen.“[32]
Umkreis Tilman Riemenschneider
Riemenschneiders Werkstatt war großer Fluktuation unterworfen. Lehrlinge begaben sich auf Gesellenwanderung. Gesellen erwarben selbst den Meisterbrief und gründeten eigene Werkstätten. Hieraus gingen Werke hervor, die zwar den deutlichen Einfluss Riemenschneiders zeigen, aber eigene Gestaltungsweisen hervorbrachten. Auch Bildhauer, die nicht aus Riemenschneiders Werkstatt kamen, mochten sich an seinem Stil orientieren und von seinem Erfolg profitieren. Diese werden mit „Umkreis Tilman Riemenschneider“ bezeichnet.
Nachfolger bzw. Schüler Riemenschneiders waren, neben seinen Söhnen, Peter Breuer, Peter Dell, Hans Fries v. Mergentheim, Hans Gottwalt, Philipp Koch und weitere, die sich namentlich nicht mehr fassen lassen.
Werke (Auswahl)
Holzskulpturen
Heilig-Blut-Altar, Rothenburg ob der Tauber, 1501/1505
Würzburg, Museum für Franken, Staatliches Museum für Kunst- und Kulturgeschichte, hat mit rund 80 Werken Riemenschneiders und solchen aus seiner Werkstatt bzw. seines Umfeldes die weltweit größte Sammlung seiner Werke
Trauernde Frauen einer Beweinung Christi aus dem Sockel des Hochaltarretabels der Franziskanerkirche Rothenburg o. d. T., um 1485/1490, Lindenholz, ursprüngliche Farbfassung von Martin Schwarz (409)
Zum 450. Todestag 1981 wurde Tilman Riemenschneider in der DDR mit einer 5-Mark-Gedenkmünze gewürdigt. Die Deutsche Bundespost brachte eine Briefmarke im Nennwert von 60 Pfennig (Michel-Nr. 1099) mit einer Skulpturengruppe aus einem Kreuzigungsaltar heraus.
Joachim Tettenborn: Tilman Riemenschneider (1981), Auftragsarbeit für die Riemenschneider-Festspiele Würzburg auf der Festung Marienberg, 11. Juli bis 9. August 1981.
Film
Tilman Riemenschneider (DDR 1958), Regie: Helmut Spieß.
Hans-Christian Kirsch: Tilman Riemenschneider. Ein deutsches Schicksal (= 1983 Ullstein-Buch Nr. 27518). Bertelsmann, München 1981, ISBN 3-570-06528-6, ISBN 3-548-27518-4.
Michael Baxandall: Die Kunst der Bildschnitzer. Tilman Riemenschneider, Veit Stoß und ihre Zeitgenossen. C. H. Beck, München 1984, ISBN 3-406-52368-4.
Iris Kalden: Tilman Riemenschneider – Werkstattleiter in Würzburg. Beiträge zur Organisation einer Bildschnitzer- und Steinbildhauerwerkstatt im ausgehenden Mittelalter. Verlag an der Lottbek Jensen, Ammersbek bei Hamburg 1990, ISBN 3-926987-47-2.
Julien Chapuis (Hrsg.): Tilman Riemenschneider: Master Sculptor of the Late Middle Ages. Ausstellungskatalog Washington/New York 1999/2000. Yale University Press, New Haven 1999, ISBN 0-300-08162-6 (Hardcover) und ISBN 0-89468-244-X (Softcover), Digitalisat.
Frank Matthias Kammel, Daniel Hess (u. a.): Enthüllungen. Restaurierte Kunstwerke von Riemenschneider bis Kremser Schmidt. Ausstellungskatalog. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 2008, ISBN 978-3-947449-47-7, Digitalisat.
Hanswernfried Muth (aktualisiert von Iris Kalden-Rosenfeld): Riemenschneider in Franken. Langewiesche, Königstein im Taunus 2009 (= Langewiesche Bücherei), ISBN 978-3-7845-1245-7.
Lucas Dembinsky: Tilman Riemenschneider im Bauernkrieg: Langer Aufstieg und schneller Fall in Würzburg – Legende und Wirklichkeit. In: Der Künstler in der Gesellschaft. Einführungen zur Künstlersozialgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Andreas Tacke und Franz Irsigler. Darmstadt 2011, ISBN 978-3-534-23959-7, S. 303–321.
Stefan Fröhling, Markus Huck: Tilman Riemenschneider. Meister, Ratsherr, Revolutionär (= kleine bayerische biografien). Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2014, ISBN 978-3-7917-2559-8.
Iris Kalden-Rosenfeld: Tilman Riemenschneider und seine Werkstatt (= Die Blauen Bücher). Mit einem Katalog der allgemein als Arbeiten Riemenschneiders und seiner Werkstatt akzeptierten Werke. Einführung von Jörg Rosenfeld. Langewiesche, Königstein im Taunus 2001; 6., aktualisierte und erweiterte Auflage, Verlag Langewiesche, Königstein im Taunus 2019, ISBN 978-3-7845-3227-1 (englische Ausgabe 2004, ISBN 3-7845-3223-3).
C. Sylvia Weber (Hrsg.): Riemenschneider im Chor. Das Bode-Museum Berlin zu Gast in der Johanniterhalle Schwäbisch Hall. Ausstellungskatalog, Swiridoff, Künzelsau, 2011, ISBN 978-3-89929-223-7.
Gregory Bryda: The Trees of the Cross: Wood as Subject and Medium in Late Medieval Germany. Yale University Press, New Haven 2023, ISBN 978-0-300-26765-5; S. 130–161.
↑Bruno Rottenbach: Würzburger Straßennamen. Band 1. Fränkische Gesellschaftsdruckerei, Würzburg 1967, S. 102.
↑Von Veit Stoß ist eine solche für das Hauptaltarretabel der Nürnberger Karmeliterkirche von 1520 erhalten geblieben (Collegium Maius, Krakau). Siehe im Artikel Veit Stoß.
↑Der detaillierte Auftrag für den Heilig-Blut-Altar der Jakobskirche in Rothenburg wird zitiert in Baxandall 1984, S. 181, zuerst in Justus Bier: Tilman Riemenschneider, Band 3: Die späten Werke in Stein, Augsburg 1930, S. 171f.
↑Harschner erhielt 50 Gulden, Riemenschneider 60. Baxandall 1984, S. 181, 195.
↑Schwarz' Art Reflexionen in den Augen in seinen Tafelbildern zu malen, stimmen zum Beispiel mit denen auf manchen von Riemenschneiders Skulpturen überein. Marincola in Chapuis 1999, S. 107f.
↑Verzeichnis der Werke von Tilman Riemenschneider auf einer Landkarte auf der Innenseite des Buchdeckels von Tilman Röhrig: Riemenschneider. Historischer Roman. Piper, München 2007, ISBN 978-3-492-05055-5.
↑Herzlich Willkommen im Würzburger Dom. Faltblatt im Dom von ca. 2009
↑C. Sylvia Weber (Hrsg.), Riemenschneider im Chor. Das Bode-Museum Berlin zu Gast in der Johanniterhalle Schwäbisch Hall. Ausstellungskatalog, Swiridoff, Künzelsau 2011, ISBN 978-3-89929-223-7 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung)
↑Erika Kerestely: Würzburg. Stadtführer mit farbigem Stadtplan. Stürtz Stadtführer. Verlagshaus Würzburg, Würzburg 2008, ISBN 978-3-8003-1929-9, S. 51.
↑Albrecht Schütze: Das Tilman-Riemenschneider-Gymnasium Osterode am Harz. Ein Beitrag zur Geschichte des höheren Schulwesens der Stadt Osterode am Harz. Paul Krösing Verlag, Osterode am Harz 2006, S. 7.
↑Frieder Schulz: Das Gedächtnis der Zeugen – Vorgeschichte, Gestaltung und Bedeutung des Evangelischen Namenkalenders. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie, Band 19. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1975, S. 69–104, Namenliste S. 93–104 (Digitalisat)