Mitte der 1920er-Jahre geriet die italienischeAutomobilindustrie in eine Krise. Viele Unternehmer der Pionierzeit des Automobils waren wieder vom Markt verschwunden und arrivierte Autobauer wie Alfa Romeo standen knapp vor dem finanziellen Ruin. Seit 1925 regierte Benito Mussolini das Land diktatorisch, der in den 1930er-Jahren die Fahrzeugindustrie teilweise verstaatlichte und im Falle von Fiat mit Steuermitteln großzügig unterstützte. Die finanzielle Schwäche der meisten Unternehmen wirkte sich auch auf den Rennwagenbau aus. Gegen die Konkurrenz aus Frankreich, Deutschland und England waren die technisch veralteten Straßenfahrzeuge in Rückstand geraten. Auch im Rennwagenbau war der Aufholbedarf inzwischen groß. Dieser Umstand hatte sich schon 1925 und 1926 auf die Targa Florio ausgewirkt, die in diesen beiden Jahren von Bugatti dominiert wurde.
Trotz der vielen Straßenrennen dieser Zeit hatte die Targa Florio in den 1920er-Jahren ein Alleinstellungsmerkmal. Das lag vor allem an der Popularität von Rennfahrern wie Felice Nazzaro und Giulio Masetti (der bei der Targa Florio 1926 tödlich verunglückte) und der Teilnahme ausländischer Rennteams, die dem Rennen internationale Bedeutung gaben. Das änderte sich ab 1927 mit der Etablierung der Mille Miglia in Oberitalien. Dort war die Targa Florio weit weniger populär als im Süden Italiens und galt als Rennen des armen Siziliens.
Das Rennen
Teams, Hersteller und Fahrer
Diese Umfeld bescherte Vincenzo Florio und seinem Organisationsteam eine Meldeliste ohne große Überraschungen. Weder Alfa Romeo noch Fiat beteiligte sich mit Werkswagen an seiner Veranstaltung. Im Gegenteil: Nachdem Fiat-Testfahrer Cesare Pastore im März auf einem 509M die Straße im Renntempo befahren hatte, sprach er von indiskutablen Zuständen auf dem Medio circuito delle Madonie, vor allem im Streckenabschnitt zwischen Polizzi Generosa und Collesano. Die Ankündigung Florios, sich um die Bereitstellung öffentlicher Mittel zur Fahrbahnsanierung zu kümmern, hatte wenig Erfolg. Fiat, Alfa Romeo und der spanische Hersteller Ricart, die im Vorfeld eine Teilnahme zugesagt hatten, blieben dem Rennen fern. Alfieri Maserati sorgte mit der Teilnahme seines Rennteams für die einzige Repräsentanz der italienischen Hersteller. Die drei Tipo 26 steuerten neben Alfieri, dessen Bruder Ernesto und Aymo Maggi, einer der Gründerväter der Mille Miglia.
Schon nach der ersten der fünf zu fahrenden Runden ergab sich eine klare Favoritenstellung der Bugatti-Piloten, die den Rennsieg unter sich ausmachten. Die große Überraschung war Eliška Junková, die hinter Minoia, Dubonnet und Materassi an der vierten Stelle lag und damit schneller war als Conelli, Boillot im Peugeot und alle drei Maserati. Louis Charavel überlebte den 15-Meter-Sturz seines Bugatti T 35 A in eine Schlucht in der Nähe von Polizzi Generosa unverletzt. Junková kam am Ende der zweiten Runde auf dem Beifahrersitz von Saverio Candrillis Steyr VI zurück zu Start und Ziel. Eine gebrochene Lenksäule am Bugatti hatte einen Unfall ausgelöst, den auch sie unverletzt überstand.
An der Spitze hatte inzwischen Materassi die Führung übernommen. Zweiter war lange Zeit der SchweizerMario Lepori in seinem privaten Bugatti, ehe ihn eine gebrochene Vorderradaufhängung in der vierten Runde aus dem Rennen riss. Der starke Regen, der am Ende des Rennens einsetzte, verhinderte Verschiebungen im Klassement, da die Fahrer ihr Tempo den immer schlechter werdenden Straßenverhältnissen anpassen mussten. Materassi siegte mit einem Vorsprung von fünf Minuten auf seinen Teamkollegen Conelli. Der Drittplatzierte Alfieri Maserati lag schon 25 Minuten zurück. Wie im Vorjahr gewann Baconin Borzacchini das Rennen der 1,1-Liter-Klasse.
Peter Higham: The Guinness Guide to International Motor Racing. A complete Reference from Formula 1 to Touring Car. Guinness Publishing Ltd., London 1995, ISBN 0-85112-642-1.
Pino Fondi: Targa Florio – 20th Century Epic. Giorgio Nada Editore Vimodrone 2006, ISBN 88-7911-270-8.