Etwa seit den 1930er Jahren wurde auch das Gebiet bis zur Oranienburger Straße fälschlicherweise gelegentlich in diese Bezeichnung einbezogen, da dort einige jüdische Einrichtungen waren.
Allgemeine Entwicklung
17. und 18. Jahrhundert
Im Jahr 1670 hatte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm den Unterhalt von Scheunen innerhalb des Stadtgebietes untersagt, um 1672 ordnete er den Bau von 27 Scheunen im Gebiet hinter der damaligen Stadtmauer an.[1]
Der Alexanderplatz war zu jener Zeit ein Viehmarkt, für dessen Betrieb große Mengen Heu und Stroh benötigt wurden.
1737 war die Lange Scheunengasse (jetzt Kleine Alexanderstraße) auf dem Stadtplan von Johann Friedrich Walter eingezeichnet.
1799 gab es acht Scheunengassen:
Erste Scheunengasse, jetzt überbaut
Zweite Scheunengasse, jetzt Rosa-Luxemburg-Straße, mit verändertem Straßenverlauf
Dritte Scheunengasse, jetzt Zolastraße, mit verkürztem Verlauf
Vierte Scheunengasse, jetzt Weydingerstraße
Lange Scheunengasse, jetzt Kleine Alexanderstraße
Kleine Scheunengasse
Kleine Scheunen-Queer-Gasse
Kurze Scheunengasse
In dieser Zeit waren einige Grundstücke schon bebaut, in einigen waren Gärten, in einigen weiteren standen noch Scheunen.[2]
19. und frühes 20. Jahrhundert
Nach der deutschen Reichsgründung 1871 wurde Berlin zur größten Industriestadt Europas. Die Bevölkerungsdichte stieg innerhalb weniger Jahre rapide an, der Wohnraumbedarf der zuziehenden Arbeiter wurde nur verspätet und unzureichend durch den Bau von Mietskasernen in den neu entstehenden Stadtteilen gemindert. In den kleinteiligen Altbauten des Scheunenviertels herrschte drangvolle Enge.
Viele neu angekommene deutsche Arbeitskräfte fanden hier ihre erste Wohnstatt. Die knappen Schlafplätze in den untervermieteten Wohnungen wurden oftmals (analog zu den Schichten in den nahegelegenen Borsigwerken) geteilt. Wer weder schlief noch arbeitete, hielt sich in den Straßen auf oder verbrachte die wenige Freizeit in einer der zahlreichen Kneipen des Viertels (beispielsweise in der um die Mulackstraße gelegenen Mulackei oder Mulackritze).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Scheunenviertel zu einem sozialen Brennpunkt geworden. Es war durch Armut, Prostitution und Kleinkriminalität geprägt und bei der Berliner Bevölkerung dementsprechend übel beleumdet. Im Scheunenviertel wurde 1891 auch der erste Ringverein, eine kriminelle Organisation, gegründet.[3]
1906 wurde das Gebiet des ursprünglichen Scheunenviertels grundlegend umgestaltet. Es entstand der Babelsberger Platz (jetzt Rosa-Luxemburg-Platz), einige Straßenverläufe wurden dabei verändert.
Wegen des beginnenden Ersten Weltkriegs wurde die Umgestaltung 1914 jedoch abgebrochen, sodass im westlichen Bereich noch die alte Bausubstanz vorhanden ist.
In den folgenden Jahren nahm der Anteil der jüdischen Bewohner vor allem im Gebiet westlich der Alten Schönhauser Straße stark zu, während in den übrigen Straßen die bisherige Sozialstruktur bis in die 1940er Jahre weitgehend erhalten blieb.
In den nächsten Jahrzehnten siedelten sich arme Juden in verschiedenen Teilen der Spandauer Vorstadt an, auch in den Straßen südlich des ursprünglichen Scheunenviertels.
Seit dem 19. Jahrhundert kamen zahlreiche Juden aus dem Russischen Reich nach Pogromen, von denen sich die ärmeren ebenfalls in diesem Gebiet niederließen. Diese machten zu dieser Zeit aber nur einen kleinen Teil der Bevölkerung aus.
Seit 1914 wuchs der Anteil der ostjüdischen Einwanderer im Scheunenviertel stark an. Diese waren durch Pogrome, die russische Revolution und die neuen Staatenbildungen im östlichen Europa hierher vertrieben worden.
Antijüdische Ausschreitungen 1923
In den 1920er und 1930er Jahren wurde das Scheunenviertel mehrfach zum Ziel polizeilicher Razzien und antisemitischer Ausschreitungen. Um 1922 ordnete der Berliner Polizeipräsident Wilhelm Richter eine Großrazzia gegen die jüdische Bevölkerung im Scheunenviertel an, bei der rund 300 jüdische Männer, Frauen und Kinder von der Polizei aufgegriffen und in einem „Judenlager“ bei Zossen interniert wurden.[4][5]
Am 5. November 1923 kam es zu größeren Ausschreitungen von Erwerbslosen gegen jüdische Bewohner im Scheunenviertel.
Diese hatten vor dem Arbeitsamt in der Gormannstraße gewartet, um Unterstützungsgelder zu erhalten. Ihnen wurde aber schon nach kurzer Zeit mitgeteilt, es wäre kein Geld mehr zur Auszahlung vorhanden, wahrscheinlich da wegen der starken Inflation keines mehr zur Verfügung stand. Hierauf wurde von einigen Personen verbreitet, galizische Juden aus dem Scheunenviertel hätten das vorhandene Geld planmäßig aufgekauft. Bald begannen dort Ausschreitungen, die sich gegen alle Personen und Geschäfte richteten, die der Menge „jüdisch“ erschienen. Dabei wurden Menschen aus ihren Wohnungen herausgezerrt und verprügelt und Geschäftseinrichtungen verwüstet.[6] In zeitgenössischen Zeitungen wie der Vossischen Zeitung war zu lesen, die Polizei habe sich bei den Ausschreitungen auffallend zurückgehalten, wo es ihr doch ein Leichtes gewesen wäre, der Menge Einhalt zu gebieten.
Weitere Entwicklung
In den folgenden Jahren wandelte sich das Gebiet um die Grenadierstraße (östlich der Alten Schönhauser Straße) durch den Zuzug weiterer osteuropäischer Zuwanderer bald zu einem fast ausschließlich jüdischen Viertel. Dort befanden sich mehrere Bethäuser, verschiedene jüdische Organisationen und viele jüdische Händler und kleine Gewerbetreibende wie Bäcker, Schuster usw.[7]
In den 1930er und frühen 1940er Jahren emigrierten viele jüdische Bewohner in das Ausland oder wurden deportiert.
Darstellungen in der Literatur
Das Scheunenviertel wurde besonders seit den 1920er Jahren mehrfach literarisch beschrieben.
Walter Mehring, Der Kaufmann von Berlin, 1928/29, Theaterstück, handelt von einem ostjüdischen Ankömmling im Scheunenviertel, der rasch zu Reichtum kommt
Fischl Schneersohn, Grenadierstraße, Roman, beschreibt das jüdische Leben im Scheunenviertel
Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, 1927, Essay, erwähnt auch das Scheunenviertel
Martin Beradt, Die Straße der kleinen Ewigkeit, 1940 (ungedruckt), 1965 (posthum), kommentierte Neuauflage 2000, Roman, beschreibt detailliert das jüdische Leben im Scheunenviertel[8][9]
Mischket Liebermann, Vom Ghetto in die Welt, Autobiographie, 1977, berichtet von Kindheitserlebnissen im jüdischen Scheunenviertel[10]
Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger, 1997, S. 71–90; mit vier Artikeln über das Scheunenviertel
Auch Klaus Mann beschrieb Eindrücke aus dem Scheunenviertel in seiner Autobiographie.
Literatur
Überblicksdarstellungen
Rainer Haubrich: Das Scheunenviertel. Kleine Architekturgeschichte der letzten Altstadt von Berlin. Suhrkamp/Insel, Berlin 2019, ISBN 978-3-458-36462-7.
Wolfgang Feyerabend u. a.: Das Scheunenviertel und die Spandauer Vorstadt. L&H Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-939629-38-2.
Eike Geisel: Im Scheunenviertel. Bilder, Texte und Dokumente. Mit einem Vorwort von Günter Kunert. Severin & Siedler, Berlin 1981, ISBN 3-88680-016-4., mit vielen historischen Fotos zum jüdischen Leben im Scheunenviertel
Erwähnungen des Scheunenviertels in weiteren Monographien
Anne-Christin Saß: Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik. Wallstein, Göttingen 2012, mit vielen Beschreibungen aus dem Scheunenviertel[11]
Horst Helas: Juden in Berlin-Mitte. Biografien – Orte – Begegnungen. (Hrsg. vom Verein zur Vorbereitung einer Stiftung Scheunenviertel Berlin e. V.). trafo verlag Wolfgang Weist, Berlin 2000, ISBN 3-89626-019-7.
Karsten Krampitz: Pogrom im Scheunenviertel. Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Berliner Ausschreitungen 1923. Verbrecher Verlag, Berlin 2023, ISBN 978-3-95732-567-9.
Ulrike Steglich, Peter Kratz: Das falsche Scheunenviertel – Ein Vorstadtverführer. Altberliner Bücherstube, Verlagsbuchhandlung Oliver Seifert, Berlin 1993, ISBN 3-930265-00-1.
Aufsätze und Zeitungsartikel
Anne-Christin Saß: Scheunenviertel. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 5: Pr–Sy. Metzler, Stuttgart/Weimar 2014, ISBN 978-3-476-02505-0, S. 352–358.
Karl Heinz Krüger: Im Kiez der armen Schlucker. In: Der Spiegel. Nr.7, 1991 (online).
↑Scheunenviertel WBM und Verein zur Gründung der Stiftung Scheunenviertel (PDF), mit kurzen Informationen
↑Erste Scheunengasse. In: Karl Neander von Petersheiden: Anschauliche Tabellen, 1799, S. 154–156., erstes Berliner Straßenverzeichnis mit allen Nutzern der acht Scheunengassen
↑Martin H. Geyer: Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit oder: Wer war Julius Barmat? Hamburger Edition, Hamburg 2018, ISBN 978-3-86854-319-3.
↑MDR Zeitreise: Buchenwald – Ein Konzentrationslager mitten unter uns. MDR Fernsehen, 2020.
↑Grensdierstraße. In: Berliner Adreßbuch, 1928, 4. Teil, S. 382–383., mit vielen Mietern, zum Beispiel, Nr. 32/33, auch in anderen Jahren (viele deutsche Namen aufgeführt)
↑Hans Jörgen Gerlach: Krankheitsherd oder Märchen-Schtetl. Martin Beradt blickt auf beide Seiten einer Straße. In: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands, 20. Jg., Nr. 2; Wien September 2003, S. 74/75. ISSN1606-4321, Rezension
↑Das Berliner Scheunenviertel Lpb Baden-Württemberg, mit Zitaten aus Mischket Liebermann und Joseph Roth (1927), ganz unten
↑Thomas Medicus, Wenn ich dich je vergesse, Scheunenviertel, in Die Welt vom 24. März 2012 Text-, Rezension, mit einigen Informationen zum jüdischen Scheunenviertel