Lebende Fossilien sind Arten oder Artengruppen (Taxa), die sich mehr oder weniger unverändert über geologisch lange Zeiträume erhalten haben.[1] Der Ausdruck geht auf Charles Darwin, den Vater der Evolutionstheorie, zurück. Aufgrund einer fehlenden einheitlichen Definition und häufigen Missverständnissen werden der Begriff und das Konzept zunehmend in Frage gestellt.
Sowohl pflanzliche als auch tierische Organismen, die über Millionen von Jahren nachweisbaren Strukturen unverändert geblieben sind, was durch fossile Funde belegt werden kann, gelten als lebende Fossilien. Oft handelt es sich um Arten, die in Habitaten vorkommen, in denen sie über lange Zeiträume wenig Veränderung und somit einem geringen Selektionsdruck ausgesetzt waren. Jedoch spielt die Abwesenheit von Nahrungskonkurrenten oder Feinden ebenfalls eine Rolle.[2]
Der Terminus „lebendes Fossil“ wurde von Charles Darwin in die Literatur eingeführt. In seinem Hauptwerk Über die Entstehung der Arten (S. 107 in der ersten Auflage) sagt er über im Süßwasser lebende Formen wie Ornithorhynchus (Schnabeltier) und Lepidosiren (Südamerikanischer Lungenfisch): „..., which, like fossils, connect to a certain extent orders now widely separated in the natural scale. These anomalous forms may almost be called living fossils; they have endured to present day, from having inhabited a confined area, and from having thus been exposed to less severe competition.“ (… die, wie Fossilien, in gewissem Maß verschiedene Ordnungen miteinander verbinden, die nun im natürlichen System weit voneinander getrennt sind. Diese abweichenden Formen könnte man beinahe lebende Fossilien nennen. Sie haben bis zum heutigen Tag überlebt, da sie ein beschränktes Areal besiedelten und dort weniger harter Konkurrenz ausgesetzt waren"). In Darwins Korrespondenz findet sich der Ausdruck schon etwas früher, beispielsweise in einem Brief an Joseph Dalton Hooker 1858, wo er ebenfalls betont, es seien aus dem Meer in Süßwasser-Lebensräume abgedrängte Reliktformen.[3]
Heutige Autoren führen oft dieselben Beispiele an, wenn sie von lebenden Fossilien sprechen[4], nur wenige geben aber eine Definition. Thomas Schopf nennt, in einem Review von 1984[5] die folgenden:
Ähnliche Definitionen, die meist einer der aufgeführten ähneln, sich aber untereinander jeweils unterscheiden, gibt es in großer Zahl. Erich Thenius kombiniert diese Faktoren: Lebende Fossilien besäßen demnach sowohl eine isolierte Stellung im biologischen System mit einer oder nur wenigen Arten, eine Reliktverbreitung, gegenüber einstiger weiter Verbreitung und außerdem altertümliche Merkmale durch langsame Evolutionsgeschwindigkeit.[7]
Niles Eldredge und Steven M. Stanley nennen, wie Thenius und viele andere, als ein wesentliches Merkmal eine „arrested evolution“, die Formen haben sich demnach seit ihrer Entstehung nicht wesentlich morphologisch verändert und besäßen auch eine geringere Evolutionsgeschwindigkeit[4], diese Definition wird von Schopf nicht berücksichtigt. Eine niedrige Evolutionsgeschwindigkeit wird von einigen Autoren mit dem speziellen Ausdruck „Bradytelie“ umschrieben (der Ausdruck wurde durch den Paläontologen George Gaylord Simpson in Tempo and Mode in Evolution 1944 eingeführt).
Je nach verwendeter Definition schließen einige Autoren bestimmte einzelne Taxa aus den lebenden Fossilien aus, die von anderen als solche akzeptiert werden. Ein Problem aller Definitionsversuche ist, dass die zugrunde liegenden Terme in sich vage sind (wie alt muss eine Art sein, damit sie das Kriterium erfüllt? Wie groß darf ein Reliktareal sein? usw.). So besitzen die „Urzeit-Krebse“ oder Notostraca mit der Gattung Triops, für viele ein Musterbeispiel lebender Fossilien, offensichtlich trotz ihres über lange Zeiträume konservierten Bauplans rezent eine hohe Rate der Artbildung, mit zahlreichen erst vor kurzer Zeit entstandenen Arten in verschiedenen Gebieten.[8] Auch bei einer anderen der klassischen Reliktgruppen, den Perlbooten (Nautilidae) gibt es Hinweise auf eine erneuerte Artbildung in relativ geringer Vergangenheit.[9] Die Palmfarne (Cycadales) gelten als typische Reliktgruppe, seit einer Radiation im Jura und der Kreidezeit hätten nur wenige Arten bis heute überlebt. Tatsächlich zeigte die Gruppe unerwarteterweise im Miozän eine erneute Radiation, die heutigen Arten sind nicht älter als etwa 12 Millionen Jahre.[10] Die berühmte Brückenechse oder Tuatara (Sphenodon punctatus) Neuseelands, morphologisch seit der Kreidezeit fast unverändert, besitzt unerwarteterweise eine der höchsten molekularen Evolutionsgeschwindigkeiten aller Wirbeltiere.[11] Eine unerwartet hohe genetische Diversität zeigt auch ein anderes Paradebeispiel für lebende Fossilien, die Pfeilschwanzkrebse (Limulidae).[12] Diese Beispiele zeigen, dass eine bestimmte Form, die ein Merkmal zeigt, das für lebende Fossilien als kennzeichnend gilt, nicht unbedingt in den anderen Merkmalen den Definitionen entsprechen muss.
In anderen Fällen wird die morphologische Stasis in der fossilen Überlieferung auch nur vorgetäuscht. So galt der Armfüßer Lingula lange Zeit als das möglicherweise älteste lebende Fossil. Inzwischen konnte glaubhaft gemacht werden, dass die merkmalsarme glatte Schale dazu verführt hat, hier zahlreiche vermutlich nicht besonders nahe verwandte Formen irrtümlich in eine einzige Gattung zu stellen.[13]
Anhand des bekanntesten aller lebenden Fossilien, des Quastenflossers Latimeria, haben Didier Casane und Patrick Laurenti 2013[14] auf die Widersprüche innerhalb des Konzepts aufmerksam gemacht. Die geringe Evolutionsgeschwindigkeit dieser Art sei zweifelhaft, ihre morphologische Stasis beruhe auf falschen Voraussetzungen: Die Quastenflosser hätten in der Vergangenheit eine große Formenfülle besessen, und von Latimeria selbst gäbe es überhaupt keine Fossilien. Das Denken in „urtümlichen“, „basalen“, „plesiomorphen“ Formen sei ein Rückfall in das überholte Konzept der Scala Naturae, es solle deshalb vermieden werden, überhaupt noch von lebenden Fossilien zu sprechen. Diesem radikalen Ansatz wurde allerdings von anderen Evolutionsbiologen widersprochen.[15] Die langsame morphologische Evolution der Quastenflosser sei real nachweisbar, was von ihren Opponenten, die rein auf die kladistische Merkmalsausprägung fixiert seien und deshalb die zeitliche Dimension vernachlässigt hätten, schlicht übersehen worden sei. Diese Kontroverse zeigt, dass trotz der methodischen Probleme und der schwierigen Abgrenzbarkeit das Konzept der lebenden Fossilien auch heute noch Anhänger besitzt. Einige Autoren haben daraufhin versucht, dem Problem der zu vagen Definition durch Quantifizierung abzuhelfen und zur Abgrenzung der lebenden Fossilien einen sogenannten Evolutionary Performance Index (EPI) entwickelt.[16]
Tertiärrelikte werden Pflanzen genannt, die im Warmklima des Tertiärs häufig waren und die letzte Kaltzeit in Restpopulationen in Refugien überdauerten und genetisch weitgehend unverändert geblieben sind:
Die folgende Aufzählung wurde ohne Anspruch auf Vollständigkeit zusammengestellt.
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