Hans Zender absolvierte an den Musikhochschulen in Frankfurt und Freiburg Meisterklassen in den Fächern Komposition, Klavier und Dirigieren. Schon zu Studienzeiten arbeitete er als Kapellmeister an den Städtischen Bühnen Freiburg und wurde bereits im Alter von 27 Jahren Chefdirigent der Oper Bonn (1964–1968).
2004 gründete das Ehepaar Zender die „Hans und Gertrud Zender-Stiftung“. Diese vergibt in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Musica Viva München und BR-Klassik des Bayerischen Rundfunks seit 2011 alle zwei Jahre Preise, die der Förderung und Unterstützung der Neuen Musik dienen sollen.[3]
Zender starb im Oktober 2019 im Alter von 82 Jahren an seinem Wohnort Meersburg am Bodensee. Dort wohnte er in seinen letzten Jahren mit seiner Frau Gertrud im „Glaserhäusle“, das einmal dem Philosophen Fritz Mauthner gehört hatte.[4]
Wirken
Dirigent
Zenders jahrzehntelange internationale Dirigententätigkeit hat sich durch Wagemut und Breite des Repertoires ausgezeichnet. Seine Diskographie reicht von Bach bis Lachenmann, Mozart bis Feldman, Bruckner bis Yun, Riehm bis Rihm. Er liebte Schubert, Mendelssohn und Debussy, engagierte sich für Messiaen, Nono, Varèse und Bernd Alois Zimmermann, verlor dabei Reger und Hindemith nicht aus dem Blick; er engagierte sich für die „New York School“ und war Vorkämpfer der Musik Giacinto Scelsis. Zender sympathisierte sowohl mit Komponisten musikalischer „Architektur“ als auch mit Non-Konstruktivisten. Zender gastierte bei Festivals in Berlin und Wien, dirigierte „Parsifal“ bei den Bayreuther und Dallapiccolas „Ulisse“ bei den Salzburger Festspielen.
Komponist
Hans Zenders kompositorische Tätigkeit ist einerseits nicht ohne seine Einsichten als Interpret denkbar, andererseits von großer Eigenständigkeit. Er schrieb in den frühen sechziger Jahren zunächst zwölftönige und serielle Musik, die er in seinen Drei Rondels nach Mallarmé (1961) und den Drei Liedern nach Gedichten von Joseph von Eichendorff (1964) mit Prinzipien der mittelalterlichen Isorhythmie verband. Bald entstanden Partituren, die schon im Titel variable und offene Formen signalisierten (Schachspiel, 1969; Modelle, 1971–1973).
Anfang der 1970er Jahre war Zender mit seinen Cantos – einer Werkreihe, die bis zu seinem Lebensende (Logos-Fragmente = Canto IX) sein Werk durchzog – bei der Nummer V angekommen. Das Denken in schöpferischen Zyklen ist typisch für Zender: andere seiner Werkserien heißen – im Ober- oder Untertitel – Hölderlin lesen (fünf Kompositionen), Kalligraphien (ebenfalls fünf) oder Lo-Shu (sieben). Der letztgenannte Zyklus gehört zur Gruppe der vom Komponisten abkürzend und nicht ohne Selbstironie so genannten „japanischen“ Stücke. Zender war auf Gastspielreisen mit fernöstlichem Denken in Berührung gekommen, einem vom Zen-Buddhismus herrührenden Zeitempfinden, das, auf die Musik übertragen, den Verzicht auf die abendländischen Traditionen strenger Werklogik zugunsten voneinander unabhängiger, nicht-linearer „Momentformen“ und den stärkeren Einbezug kontemplativer Strecken nahelegt – allerdings ohne Zugeständnisse an einen asiatischen Folklorismus.
Die Dialektik von strengem Formbewusstsein und einer „musique informelle“ im Sinne von Adorno ist eine Konstante in Zenders Musikdenken. Er hat vor allem darüber nachgedacht, wie man heute noch komponieren kann, ohne sich (oder andere) zu wiederholen. Heute, das heißt in einer Zeit nach der Postmoderne, in der Mottos wie „anything goes“ ebenso viel Freiheit gebracht wie Unheil gestiftet hatten. Einheitliche Zeitstile oder Ästhetiken scheinen mit einer solchen Unwiderruflichkeit suspendiert, dass Zender zu dem Schluss kommt, Kunstausübende müssten sich heute radikaler und gründlicher als je zuvor neu und selbst definieren.
Neue Harmonielehre, Literatur, Musiktheater
Zu seiner persönlichen Neudefinition gehört der Entwurf einer mikrotonalen „gegenstrebigen Harmonik“, einer Art Harmonielehre, die die Oktave nicht in zwölf, sondern in 72 Kleinstintervalle dividiert. Die daraus resultierende subtile harmonische Farbigkeit kennzeichnet auch seine großangelegten, kantatenhaften „Opera magna“: die Vertonung des alttestamentlichen Hohelieds (Shir Hashirim; 1995–1997) und die Logos-Fragmente (2006–2009), eine Raumklangmusik als biblische und gnostische Texte deutende „Archäologie des Bewusstseins“.
Seine intellektuelle Regsamkeit machte ihn zu einem besonders geschichtsbewussten Künstler, den es, vergleichbar Bernd Alois Zimmermann, zu pluralistischen, mehrdimensionalen Konzepten drängte. Seine drei Werke fürs Musiktheater bieten komplexe Verschränkungen von Räumen, Zeiten und theatralischen Aktionen: Stephen Climax (1979/84) bringt simultan den Säulenheiligen Simeon und Stephen Daedalus aus Joyce’ „Ulysses“ auf die Bühne und durchquert anspielungsreich die Musikhistorie; Don Quijote de la Mancha (1989/81) ordnet „31 theatralische Abenteuer“ nach Cervantes in einer Art raffinierten Baukastenprinzips, und die „Indianeroper“ Chief Joseph (2005) ist eine Parabel auf die Unfähigkeit westlicher Zivilisationen zur Akzeptanz des Fremden.
Musikvermittlung: „Komponierte Interpretation“ und Essayistik
Eine Gattung hat Zender geradezu erfunden: die „komponierte Interpretation“, die instrumental-gedankliche Umwandlung und Neudeutung bedeutender Musik der Vergangenheit. Schuberts „Winterreise“ (1993), Schumann-Phantasie (1997) und 33 Veränderungen über 33 Veränderungen (2011) verbinden Liebeserklärungen ans Original mit dialektischem „Weiterdenken“ in die Neuzeit: historische Abstände werden aufgehoben und gleichzeitig klargemacht, Konturen geschärft und verschleiert, Formen dekonstruiert und neugeschaffen. Diese schöpferischen Veränderungen sind imstande, nachdrücklich auf die einstmals beunruhigende Wirkung der Originale hinzuweisen und damit auf die im heutigen „Musikbetrieb“ allzeit lauernde Gefahr, große Musik zu verharmlosen und zum Genussmittel zu degradieren.
Der Essayist Hans Zender widmete sich musikexegetischen und -philosophischen Fragen, wobei seine Rhetorik an Schärfe gewann, wenn er den Malaisen und Miseren von Kunstbetrieb und -politik oder den deprimierendsten Äußerungen des globalen Unterhaltungsdeliriums zu Leibe rückte. Eine umfangreiche Sammlung seiner Texte erschien 2004 unter dem Titel Die Sinne denken; weitere Schriften: Waches Hören (2014), Denken hören, Hören denken (2016, 2020), Mehrstimmiges Denken (2019).
Happy New Ears. Das Abenteuer, Musik zu hören. Herder, Freiburg im Breisgau 1991, ISBN 3-451-04049-2.
Wir steigen niemals in denselben Fluß. Wie Musikhören sich wandelt. 2. Aufl. Herder, Freiburg im Breisgau 1998, ISBN 3-451-04511-7.
Hans Zender. Die Sinne denken. Texte zur Musik 1975–2003. Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2004, ISBN 3-7651-0364-0. (Nahezu eine Gesamtausgabe der Texte Zenders) 2., revidierte und erweiterte Auflage: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-7651-0364-3.
Denken hören – Hören denken. Musik als eine Grunderfahrung des Lebens. Verlag Karl Alber, Freiburg 2016, ISBN 978-3-495-48863-8.
Hans Zender Essais sur la musique, Editions Contrechamps, Genf 2016, ISBN 978-2-940068-50-0
Michael von Brück / Hans Zender. Sehen Verstehen SEHEN. Meditationen zu Zen-Kalligraphien. Verlag Karl Alber, Freiburg/München, 2019, ISBN 978-3-495-49022-8
Mehrstimmiges Denken. Versuche zu Musik und Sprache. Verlag Karl Alber, Freiburg/München, 2019, ISBN 978-3-495-49099-0.
Interviews
Musik ist für mich sehr stark musikalisiertes Wort – Hans Zender zu seinen Kompositionsweisen, den „Cantos“ und den „Logos Fragmenten“. Ein Interview von Dietrich Heißenbüttel. In: Neue Zeitschrift für Musik. 2013, Nr. 5, S. 8–11, JSTOR:23995045.
Literatur
Wilfried Gruhn: Musik über Musik. Vermittlungsaspekte des Streichquartetts „Hölderlin lesen“ von Hans Zender. In: Musik und Bildung.ISSN0027-4747, Jg. 17, 1985, S. 598–605.
Wilfried Gruhn: Hans Zender. In: Hanns-Werner Heister, Walter-Wolfgang Sparrer (Hrsg.): Komponisten der Gegenwart. Loseblattlexikon. München 1992, 33. Nachlieferung 2020.
Wilfried Gruhn: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme? Zu Hans Zenders komponierter Interpretation von Schuberts „Winterreise“. In: Musica.ISSN0027-4518, Jg. 48, 1994, S. 148–154.
Volker Wacker: Hans Zenders Oper „Stephen Climax“. Betrachtungen und Aspekte. In: Constantin Floros, Hans Joachim Marx, Peter Petersen (Hrsg.): Musiktheater im 20. Jahrhundert. (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, 10). Laaber 1998, S. 239–258.
Pierre Michel, Marik Froidefond, Jörn Peter Hiekel: Unité-pluralité: La musique de Hans Zender. Hermann 2015, ISBN 978-2-7056-8994-0.
Film
Hans Zender – Mit den Sinnen denken. Dokumentarfilm, Deutschland, 2020, Kurzfassung: 30:08 Min. (SR), Langfassung: 56:42 Min. (SWR), Buch und Regie: Reiner E. Moritz, SR, SWR, Reihe: kulturmatinée[8].
↑Wie man Beethoven überbietet. Hans Zenders „komponierte Interpretation“ der „Diabelli-Variationen“ in Frankfurt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. November 2011, S. 27, Artikelanfang bei Genios.