Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen (0 °C, 1000 hPa).
Als Entdecker des Atropins gilt der Heidelberger Pharmazeut Philipp Lorenz Geiger (1785–1836).[10] Die Wirkung von Atropin wurde unter anderem von Friedlieb Ferdinand Runge (1795–1867) studiert. Im Jahr 1831 stellte der deutsche Pharmazeut Heinrich F. G. Mein (1799–1864)[11] Atropin in kristalliner Form dar.[12] Ab 1833 produzierte dann die Darmstädter Firma Merck das Atropin aus der Wurzel der Schwarzen Tollkirsche. Die erste Synthese gelang dem Chemiker Richard Willstätter im Jahr 1901.[13][14]
Chemische Struktur
Das (S)-Hyoscyamin ist ein Ester der Tropasäure mit α-Tropin und zählt somit zu den Tropan-Alkaloiden. Atropin ist die racemisierte Form des natürlich vorkommenden (S)-Hyoscyamins. Allein das 1:1-Gemisch von (R)- und (S)-Hyoscyamin wird Atropin genannt (vgl. Cahn-Ingold-Prelog-Konvention zur Benennung). Die Racemisierung findet bereits bei der Isolierung statt, wenn Laugen zum Einsatz kommen; hierbei bildet sich intermediär ein Enolat.[15] Durch eine Aufarbeitung unter neutralen Bedingungen (pH-Wert 7) kann die Racemisierung von (S)-Hyoscyamin unterdrückt werden. Der Bedeutung der Enantiomerenreinheit von Arzneistoffen wird zunehmend Beachtung geschenkt, denn die beiden Enantiomere eines chiralen Arzneistoffes zeigen fast immer eine unterschiedliche Pharmakodynamik und Pharmakokinetik. Dies wurde früher aus Unkenntnis über stereochemische Zusammenhänge oft ignoriert.[16] Arzneimittel enthalten den Arzneistoff Atropin als Racemat (1:1-Gemisch der Enantiomere); aus grundsätzlichen Überlegungen wäre die Verwendung des besser bzw. nebenwirkungsärmer wirksamen Enantiomers zu bevorzugen.
Ein dem Hyoscyamin strukturell nah verwandtes Alkaloid ist das Scopolamin (Hyoscin).
Atropin wird in der Anästhesie, Intensiv- und Notfallmedizin bei der symptomatischen Behandlung einer zu niedrigen Herzfrequenz (Bradykardie) verwendet.[17] Insbesondere durch den N. Vagus ausgelöste Bradykardien (z. B. Okulokardialer-Reflex, Bradykardie im Rahmen der Intubation, Bradykardien als Nebenwirkung anderer Medikamente) können mit Atropin therapiert werden. Häufig findet sich die Angabe einer Mindestdosis insbesondere bei der Therapie von Säuglingen und Kleinkindern, da es ansonsten zu paradoxen Bradykardien kommen könne. Diese Behauptung ist wissenschaftlich nicht begründet und wurde in einigen Studien sogar widerlegt und sollte nicht weiterverbreitet werden, da es aufgrund dieser Mindestdosis bereits bei Frühgeborenen zu gefährlichen Überdosierungen mit Atropin kam.[18]
Augenheilkunde
Atropin wird in der Augenheilkunde zur diagnostischen und therapeutischen Lähmung der Fokussierung des Auges (Akkommodation) eingesetzt. Als Pupillen erweiterndes Mittel (Mydriatikum) wird Atropin aufgrund seiner langen Wirkdauer zur therapeutischen, jedoch nicht zur kurzzeitigen Erweiterung der Pupillen für eine Augenuntersuchung verwendet.
Weite Pupillen galten besonders während der Renaissance bei Frauen als schön (ital.bella donna „schöne Frau“). Das Einträufeln der (S)-Hyoscyamin enthaltenden Tollkirschen-Extrakte in die Augen bewirkte eine bis zu mehreren Tagen anhaltende Pupillenerweiterung („feuriger Blick“).[1]
Außerdem zeigen Studien die Wirksamkeit von niedrigdosiertem Atropin zur Bremsung einer fortschreitenden Kurzsichtigkeit im Kindesalter.[19]
Atropin hemmt vor allem die M1-, M2- und M3-Rezeptoren und verursacht so eine Steigerung der Herzfrequenz (M2), eine Reduktion der Magensäureproduktion (M1) sowie eine Speichelreduktion (M3). Zusammen mit einer dezenten Bronchodilatation (M3) sind diese Wirkungen auch von Vorteil für eine Narkoseeinleitung. Ein genereller Einsatz in der Prämedikation (medikamentöse Vorbereitung) von Narkosepatienten wird jedoch heute nicht mehr empfohlen, da das Nutzen-Nebenwirkungs-Verhältnis von Atropin-Sulfat schlecht ist.
Seltene Anwendungsgebiete
Seltener findet Atropin Anwendung bei der glatten Muskulatur im Bereich des Magen-Darm-Trakts. Auch kann Atropin bei Harninkontinenz und zur Behandlung einer Reizblase gegeben werden. Selten wurde Atropin in der Frauenheilkunde bei Dysmenorrhoe (schmerzhafte Regelblutung) eingesetzt. Den gleichen Effekt erzielt man heute mit Butylscopolamin, einem chemisch weiterentwickelten Derivat des Scopolamins, das entspannend auf die verkrampfte glatte Muskulatur wirkt und aufgrund der geringeren Nebenwirkungen rezeptfrei erhältlich ist. Als Asthmamittel wird Atropin nicht mehr verwendet, stattdessen werden besser verträgliche Arzneistoffe eingesetzt. Der Atropintest kann zur kardiologischen Diagnostik und als Hilfestellung bei der Feststellung des Hirntodes verwendet werden.
Atropin vermindert die Speichel- und Schleimsekretion, daher kann es zum Verhindern einer übermäßigen Speichelproduktion als Nebenwirkung bei Einsatz von Ketamin sowie zur Reduktion der Speichel- und Schleimsekretion vor Operationen im Mund und Rachenbereich sowie bei fiberoptischen Intubationen und Bronchoskopien genutzt werden
Die Wirkungen auf Herz und Kreislauf stehen schon bei geringen Dosen im Vordergrund (z. B. zur Narkoseeinleitung). Psychische („berauschende“) Wirkungen sind erst bei hohen Dosen zu erwarten, bei denen unangenehme und gefährliche körperliche Nebenwirkungen auftreten.
Als Vergiftungssymptome wird bei hohen Dosen (siehe anticholinerges Syndrom) von Rötungen der Haut, Mydriasis, Herzrasen und Verwirrtheit wie Halluzinationen berichtet. Bei noch höheren Dosen tritt Bewusstlosigkeit ein, die von Atemlähmung gefolgt sein kann; bei einer Atemlähmung sind die Vergiftungen in der Regel tödlich. Die LD50 (oral) wird für den Menschen auf 335 bis 612 mg geschätzt.[21] Ab 10 mg treten Delirien und Halluzinationen auf. Ab 100 mg kann beim Erwachsenen eine tödliche Atemlähmung einsetzen.[22][23][24] Kinder sind schon bei geringeren Dosen von 2 bis 10 mg in Lebensgefahr.[23][22]
Neben Vergiftungen durch freiwilligen oder unfreiwilligen Verzehr von Pflanzenteilen (zum Beispiel Tollkirsche) kommen medizinale Vergiftungen infolge Überdosierung, Verwechslung oder falscher Anwendung vor. Z. B. hat die Food and Drug Administration (FDA) im Jahre 2016 Globuli im Zusammenhang mit zehn Todesfällen in den USA von Kleinkindern untersucht, die nach der Verabreichung dieses Mittels, das Atropin enthielt, starben. Das Atropin war offenbar in zu hoher Konzentration in den Globuli enthalten. Die Behörde wies die Hersteller an, die Tabletten zurückzurufen.[25]
Die Erste Hilfe bei Atropinvergiftung besteht in sofortiger Entleerung des Magen-Darm-Traktes (Erbrechen, Magenspülung) sowie erforderlichenfalls künstlicher Beatmung bzw. Atemspende. Die erweiterten Maßnahmen zielen auf die medikamentöse Hemmung der Acetylcholinesterase, durch Physostigmin als Antidot, wodurch der Abbau des Acetylcholins verzögert wird. Folglich erhöht sich die Konzentration im synaptischen Spalt. Am Rezeptor selbst wird somit indirekt eine parasympathische Wirkung erzielt. Das Atropin wird aus dem Bereich der Rezeptoren verdrängt und die Reizleitung ist wiederhergestellt.
Handelsnamen
Monopräparate: Bellafit (CH), Dysurgal (D), Generika (D, A, CH)
↑Daniel Bovet, Filomena Bovet-Nitti: Structure et Activité Pharmacodynamique des Médicaments du Système Nerveux Végétatif. S. Karger, Basel 1948, S. 482.
↑Carl Hans Sasse: Geschichte der Augenheilkunde in kurzer Zusammenfassung mit mehreren Abbildung und einer Geschichtstabelle (= Bücherei des Augenarztes. Heft 18). Ferdinand Enke, Stuttgart 1947, S. 27.
↑Geiger, Philipp Lorenz. In: Edward Kremers, George Urdang: Kremers and Urdang’s History of Pharmacy. Reprint of the 4th Edition. American Institute of the History of Pharmacy, Madison WI 1986, ISBN 0-931292-17-4, S. 459.
↑Heinrich Friedrich Georg Mein (1831): Ueber die Darstellung des Atropins in weissen Kristallen, In: Annalen der Pharmacie, 6(1): S. 67–72 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
Unabhängig davon wurde Atropin 1833 von Geiger und Hesse isoliert:
Geiger and Hesse (1833): Darstellung des Atropins, In: Annalen der Pharmacie, 5: S. 43–81 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
Geiger and Hesse (1833): Fortgesetzte Versuche über Atropin, In: Annalen der Pharmacie, 6: S. 44–65 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
↑Richard Willstätter (1901) Synthese des Tropidins, Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft zu Berlin, 34: S. 129–144.
↑Richard Willstätter (1901) Umwandlung von Tropidin in Tropin, Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft zu Berlin, 34: S. 3163–3165.
↑ abCharles D. Deakin, Jerry P. Nolan, Jasmeet Soar, Kjetil Sunde, Rudolph W. Koster, Gary B. Smith, Gavin D. Perkins: European Resuscitation Council Guidelines for Resuscitation 2010 Section 4. Adult advanced life support. In: Resuscitation. Bd. 81, Nr. 10, Oktober 2010, S. 1305–1352, PMID 20956049, doi:10.1016/j.resuscitation.2010.08.017.
↑Lara Eisa, Yuvesh Passi, Jerrold Lerman, Michelle Raczka, Christopher Heard: Do small doses of atropine (<0.1 mg) cause bradycardia in young children? In: Archives of Disease in Childhood. Band100, Nr.7, 1. Juli 2015, S.684–688, doi:10.1136/archdischild-2014-307868, PMID 25762533 (bmj.com [abgerufen am 27. Mai 2022]).
↑Ruud Zwart, Henk P. M. Vijverberg: Potentiation and inhibition of neuronal nicotinic receptors by atropine: competitive and noncompetitive effects. In: Molecular Pharmacology. Bd. 52, Nr. 5, November 1997, S. 886–895, PMID 9351980, (Experiment an Frosch-Eizellen).
↑E. Goodman, J. Ketchum, R. Kirby: Historical Contributions to the Human Toxicology of Atropine. In: Eximdyne, 2010, ISBN 978-0-9677264-3-4, S. 120.
↑ abAtropin. In: Spektrum. Abgerufen am 23. Juli 2022.
↑Eucard. (Anzeige der Südmedica GmbH, München) In: Münchener Medizinische Wochenschrift. Jahrgang 1953, Nr. 1 (Januar) 1953, S. CXXXV.
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