Nach seiner Rede zur „Neuordnung der ethnographischen Verhältnisse“ in Europa hatte Hitler am 7. Oktober 1939 Heinrich Himmler zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) ernannt. Dieser erweiterte in den Folgejahren seinen Auftrag in stetiger Abstimmung mit Hitler bis hin zu einem Plan zur Schaffung eines „großgermanischen Europas“ unter deutscher Führung. Die Anwendung der weltanschaulichen Prinzipien der „rassischen Homogenität“ und der „Gewinnung von Lebensraum“ erfolgten ohne Rücksicht auf die betroffenen Menschen. Die schrittweise volkstumspolitische Neuordnung Europas stützte sich dabei auf Zwangsmaßnahmen von rassenanthropologischen Untersuchungen an volksdeutschen und nichtdeutschen Zivilisten, Vertreibung, Enteignung, Zwangsumsiedlung, Zwangsarbeit, Kindeswegnahme, Zwangsabtreibungen und schließlich Massenmord.[1]
Die Anklage bot 32 Zeugen auf und setzte hauptsächlich auf die Beweiskraft von Beutedokumenten aus den betroffenen SS-Hauptämtern.[3]
Der ehemalige Höhere SS- und PolizeiführerErich von dem Bach-Zelewski belastete als Zeuge der Anklage die Angeklagten aus RKF und RuSHA schwer, indem er ihnen die Verantwortung für die Planung und Durchführung von Rassenmusterungen, Vertreibungen, Umsiedlungen und Einweisungen in Konzentrationslagern zuschrieb.[4]
Die Verteidiger erklärten, die Raumplaner, Umsiedlungs- und Rasseexperten hätten zur Befriedung Europas nur „volkstumspolitische Probleme“ entflechten wollen.[5] Wie allgemein in NS-Prozessen üblich leugneten die Angeklagten, die Ziele der nationalsozialistischen Politik gekannt zu haben. Gleichzeitig versuchten sie andere für die von den SS-Hauptämtern begangenen Untaten verantwortlich zu machen: Himmler, Heydrich, Kaltenbrunner aber auch ehemalige Kollegen, die mittlerweile verstorben oder unauffindbar waren. Sie selbst wären Befehlsempfänger gewesen.[6] Der Generalplan Ost und die Vorarbeiten zum Generalsiedlungsplan wären theoretische Grundlagenforschung gewesen, wie Zeugen behaupteten.[7] Die Zwangsgermanisierung wurde als eine „großzügige Entflechtung“ verfahrener volkstumspolitischer Probleme dargestellt, die eindeutschungsfähigen Familien die Segnungen der deutschen Sozialpolitik gebracht habe. Wo sie ihre Verantwortung etwa für die Ermordung rassisch unerwünschter Zwangsarbeiter nicht leugnen konnten, betonten sie, durch positive Rassegutachten viele Zwangsarbeiter gerettet zu haben. Das RuSHA wurde in einem Plädoyer zum Träger „positiver Aufgaben“ in Form eugenischer Maßnahmen im Gegensatz zum Reichssicherheitshauptamt als Instanz der negativen Bevölkerungspolitik stilisiert. Die „Absiedlungen“ rassisch unerwünschter Polen in den annektierten Gebieten wurde mit der Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa verglichen. Die im Sippenamt geführte Judenmischlingskartei wäre nicht zur Verfolgung von Juden missbraucht worden, sondern hätte nur zur Beratung von SS-Bewerbern und für Auskünfte bei der Familienforschung gedient.[8]
Den Angeklagten gelang es, die Verantwortung für das volkstumspolitische Programm der SS und die zugrunde liegende Ideologie abzuwälzen, obwohl die meisten Angeklagten wesentlich an dem Vertreibungs-, Vernichtungs- und Germanisierungskonzept mitgewirkt hatten.[9]
Die Verbrechen der Angeklagten
Das Germanisierungsprogramm der Nationalsozialisten verstand die „Eindeutschung“ der annektierten Gebiete als „Festigung deutschen Volkstums“, die administrativen Maßnahmen wurden unter dem Begriff der Volkstumspolitik zusammengefasst.
Am Beispiel der annektierten Teile Polens umfasste diese Volkstumspolitik:
Die Richter verurteilten Ulrich Greifelt als Hauptverantwortlichen für die „Absiedlung“ von Menschen aus Slowenien, Elsass, Lothringen und Luxemburg in das Reich, die unter Androhung von KZ-Haft und Abschiebung aus dem Staatsgebiet erzwungen wurde. Den Angeklagten wurde die Beteiligung an Deportationen von Juden, Polen, Jugoslawen, Elsässern und Luxemburgern nachgewiesen, wobei sie die Aufgabe der rassischen Überprüfung erledigt hatten. Die Leiter des RuSHA, Otto Hofmann und Richard Hildebrandt, wurden außerdem in den Anklagepunkten der erzwungenen Schwangerschaftsabbrüche an Ostarbeiterinnen und der Verfolgung von sexuellen Beziehungen zwischen Zwangsarbeitern und Deutschen (sog. Rassenschande) schuldig gesprochen. Hildebrandt wurde außerdem wegen seiner Teilnahme am Euthanasie-Programm verurteilt.
Die Richter beurteilten die Lager der VoMi als Orte der Vermittlung von „Umgesiedelten“ und „Abgesiedelten“ zur Zwangsarbeit und zur Zwangsrekrutierung für Wehrmacht und Waffen-SS. Dass es sich dabei um verbrecherische Deportationen handelte, sahen sie durch einen Befehl Himmlers vom 21. September 1942 als bewiesen an. Diesem Befehl zufolge sollten alle Angehörige von Slowenen, die aus einem VoMi-Lager geflohen waren, in ein Konzentrationslager gebracht und ihnen die Kinder weggenommen werden. Alle Mitwisser der Flucht sollten zudem erhängt werden.
Dem Lebensborn e. V. wurde kein Verbrechen nachgewiesen, Inge Viermetz wurde freigesprochen, die angeklagten männlichen Mitarbeiter nur wegen ihrer Mitgliedschaft in der SS verurteilt.
Aufgrund finanzieller Unregelmäßigkeiten im Dezember 1943 fristlos entlassen
s – schuldig; u – unschuldig im Sinne der Anklage
Geschichtswissenschaft
Der Prozess erbrachte ein Fülle historischer Erkenntnisse über Intention und Durchführung der NS-Volkstumspolitik. Die Verantwortung Hitlers und Himmlers wurde zugunsten der Angeklagten und ihrer SS-Ämter fälschlich überbetont und die Umsiedlungsplanungen aus dem Umfeld des Generalplans Ost fälschlich als Theoriekonstrukte angesehen und der SS-Verein Lebensborn als rein karitative Organisation angesehen. Die Verantwortung des Wannseekonferenz-Teilnehmers Otto Hofmann für die Planung und Durchführung des Holocaust wurde im Prozess wahrscheinlich aus zeit- und verfahrensbedingten Gründen nicht ansatzweise gewürdigt. Die Geschichtswissenschaft benötigte nahezu 50 Jahre, um den von der Anklage erarbeiteten Kenntnisstand angemessen zu würdigen, zu erweitern und zu kontrastieren.[11]
Literatur
Trials of War Criminals Before the Nuernberg Military Tribunals Under Control Council Law No. 10., Vol. 4: United States of America vs. Ulrich Greifelt, et al. (Case 8: „RuSHA Case“). US Government Printing Office, District of Columbia 1950, S. 597–1185. (Band 4 der 15-bändigen „Green Series“ über die Nürnberger Nachfolgeprozesse. Der Band enthält u. a. Anklage, Urteil und Auszüge aus den Prozessunterlagen. Der Band enthält ebenfalls die Unterlagen zum Einsatzgruppen-Prozess.)
Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas. Wallstein Verlag, Göttingen 2003, ISBN 3-89244-623-7.
Rasse, Lebensraum, Genozid: Die nationalsozialistische Volkstumspoilitik im Fokus von Fall 8 der Nürnberger Militärtribunale. In: NMT: Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung. Hrsg.: Kim Christian Priemel, Alexa Stiller: Hamburger Edition 2013, ISBN 978-3-86854-278-3.
Kevin Jon Heller: The Nuremberg Military Tribunals and the Origins of International Criminal Law. Oxford University Press, 2011, ISBN 978-0-19-955431-7.
Film
Blutiger Boden, deutscher Raum. Die Siedlungspläne der SS, Dokumentarfilm, 52 min, ORF/3sat/Hengster Filmproduktion 2024, Buch und Regie: Andreas Kurz.
↑Isabel Heinemann: Rasse, Lebensraum, Genozid: Die nationalsozialistische Volkstumspolitik im Fokus von Fall 8 der Nürnberger Militärtribunale. S. 101.
↑Kevin Jon Heller: The Nuremberg Military Tribunals and the Origins of International Criminal Law. S. 98.
↑Isabel Heinemann: Rasse, Lebensraum, Genozid: Die nationalsozialistische Volkstumspolitik im Fokus von Fall 8 der Nürnberger Militärtribunale. S. 118.
↑Isabel Heinemann: Rasse, Lebensraum, Genozid: Die nationalsozialistische Volkstumspolitik im Fokus von Fall 8 der Nürnberger Militärtribunale. S. 120.
↑Isabel Heinemann: Rasse, Lebensraum, Genozid: Die nationalsozialistische Volkstumspolitik im Fokus von Fall 8 der Nürnberger Militärtribunale. S. 104.
↑Isabel Heinemann: Rasse, Lebensraum, Genozid: Die nationalsozialistische Volkstumspolitik im Fokus von Fall 8 der Nürnberger Militärtribunale. S. 117.
↑Isabel Heinemann: Rasse, Lebensraum, Genozid: Die nationalsozialistische Volkstumspolitik im Fokus von Fall 8 der Nürnberger Militärtribunale. S. 119.
↑Isabel Heinemann: Rasse, Lebensraum, Genozid: Die nationalsozialistische Volkstumspolitik im Fokus von Fall 8 der Nürnberger Militärtribunale. S. 121 f.
↑Isabel Heinemann: Rasse, Lebensraum, Genozid: Die nationalsozialistische Volkstumspolitik im Fokus von Fall 8 der Nürnberger Militärtribunale. S. 123 f.
↑Kevin Jon Heller: The Nuremberg Military Tribunals and the Origins of International Criminal Law. S. 435 ff.
↑Isabel Heinemann: Rasse, Lebensraum, Genozid: Die nationalsozialistische Volkstumspolitik im Fokus von Fall 8 der Nürnberger Militärtribunale. S. 125 f.