Reichel, die aus einfachen Verhältnissen stammte, wuchs in Berlin-Mitte in einem Hinterhof auf. Ihre Eltern gehörten der Arbeiterschicht an; in ihrer Jugend musste sie oft Hunger leiden.[3] Als Kind verkaufte sie Fisch in der Markthalle. Ihr Vater wurde im KZ Dachau ermordet. Nach ihrer Schulzeit lernte sie den Beruf einer Textilkauffrau. Im Anschluss an ihre kaufmännische Lehre begann sie ohne Schauspielausbildung mit ersten Engagements am Theater Greiz, am Gothaer Stadttheater und am Volkstheater Rostock. In der Spielzeit 1949/1950 spielte Reichel am Volkstheater Rostock die Rolle der Telefonistin in Bertolt Brechts Stück Herr Puntila und sein Knecht Matti (Gastregie: Egon Monk); Brechts Ehefrau Helene Weigel besuchte im Februar 1950 eine Aufführung der Inszenierung und machte Brecht auf die junge Schauspielerin Waltraut Reichelt aufmerksam.
Berliner Ensemble
Im Oktober 1950 wurde Reichelt von Brecht an das Berliner Ensemble (BE) engagiert. Reichelt nannte sich fortan Käthe Reichel. Brecht erkannte ihr Talent und förderte ihre berufliche Entwicklung. Dabei entstand eine Liebesbeziehung zwischen Brecht und Reichel; sie war Brechts letzte Geliebte.[3][4] Brecht schrieb für Reichel im Jahre 1950 vier Liebeslieder; die Lieder wurden im Oktober 1951 von Paul Dessau als Lied-Zyklus Vier Liebeslieder vertont. Brecht besetzte Reichel in seinem Theaterstück Die Mutter (als Dienstmädchen in Szene 13: Vor einer Vaterländischen Kupfersammelstelle); die Premiere fand im Januar 1951 unter seiner Regie statt.
Reichel trat am Berliner Ensemble in vielen Inszenierungen Brechts und Benno Bessons auf. Wichtige Rollen dort waren: Gustchen in Brechts Bearbeitung von Lenz’ Der Hofmeister (1950, Regie: Brecht/Caspar Neher), Gretchen in Urfaust (Premiere: April 1952 am Landestheater Potsdam; Übernahme ans BE ab März 1953; Regie: Egon Monk), die Titelrolle in Brecht/Seghers Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431 (Premiere: November 1952; Regie: Benno Besson), Mathurine in Don Juan (Premiere: März 1954 im Theater am Schiffbauerdamm; Regie: Benno Besson), die Gouverneursfrau Natella Abaschwili in Der kaukasische Kreidekreis (1954; Regie: Bertolt Brecht) und die Doppelrolle Shen Te/Shui Ta in Der gute Mensch von Sezuan (1957; Regie: Benno Besson).
Weitere Theaterrollen
1955 spielte sie (als Gast) an den Städtischen Bühnen Frankfurt ebenfalls die Rolle der Magd Grusche in Der kaukasische Kreidekreis.[5] Regie führte Harry Buckwitz. In der Spielzeit 1955/1956 gastierte sie am Volkstheater Rostock als Shen Te/Shui Ta (Premiere: Januar 1956). 1956 spielte sie an den Städtischen Bühnen Wuppertal die Titelrolle in Shaws Schauspiel Die heilige Johanna; 1965 gastierte sie mit dieser Rolle nochmals im Westen, am Nationaltheater Mannheim. 1959 trat sie am Volkstheater Rostock als Polly in Brecht/Weills Die Dreigroschenoper auf. 1961 spielte sie am Schauspielhaus Stuttgart erstmals die Titelrolle in Brechts (wegen seines Antiamerikanismus auf westdeutschen Bühnen selten gespielten) Stück Die heilige Johanna der Schlachthöfe; sie wurde in der Rolle der Johanna Dark in Stuttgart ausgebuht.[6] Im selben Jahr trat sie in dieser Rolle auch am Volkstheater Rostock auf. Ab 2000/2001 trug Reichel Brechts Johanna der Schlachthöfe in einer eigenen Lesefassung für eine Person vor.
Ab 1951 war Reichel auch im Bereich der Film- und Fernseharbeit tätig. Ihr Filmdebüt gab sie in einer kleinen Rolle unter der Regie von Artur Pohl in dem Spielfilm Corinna Schmidt (1951), der auf Theodor Fontanes Roman Frau Jenny Treibel basierte. Erst Ende der 1950er-Jahre nahm sie ihre Filmtätigkeit wieder auf. In Die Feststellung (1958) war sie als Mechanikerin zu sehen. Fortan wirkte Reichel in mehreren Produktionen der DEFA und des DFF mit. Sie spielte meist „skurrile Gestalten [und] Volksfiguren“, die sie nicht primär realistisch, sondern stets mit einem Hauch von Verfremdung anlegte.[7] Häufig war Reichel dabei auf prägnante Nebenrollen festgelegt: als Bäuerin Ulrike in dem MärchenfilmWie heiratet man einen König? (1969) von Rainer Simon, als Sachbearbeiterin in Nebelnacht (1969), als Wirtin der Studentin Karin in Mein lieber Robinson (1971) von Roland Gräf und als Lucie Matewsky, genannt „Goldlucie“, in Leichensache Zernik (1972).[8] Zu Reichels skurrilen Figuren gehörte auch ihre kleine, aber einprägsame „unverwechselbare Rolle“ als „schrille“ Frau des Schaubudenbesitzers in dem Spielfilm Die Legende von Paul und Paula (1973).[8][9]
In dem Fernsehmehrteiler Daniel Druskat (1976) spielte sie ein einfaches, schlichtes Dienstmädchen mit tragikomischen Zügen; eine Rolle, in der sie die Hauptdarsteller zeitweise in den Hintergrund treten ließ.[6]
1979/1980 hatte sie eine ihrer wenigen Film-Hauptrollen, die Titelrolle in dem Fernsehfilm Muhme Mehle. Der Film lehnt sich an die Lebensgeschichte der Kommunistin und Spionin Ruth Werner an. Reichel spielte unter der Regie von Thomas Langhoff die Rolle der einfachen, unpolitischen Kinderfrau Wilhelmine Kegelang, die im schweizerischen Hochgebirge bei einer Kundschafterin (illegale Kurierin der Kommunistischen Partei) und deren Familie arbeitet; durch ihre Redseligkeit bringt sie ihre Arbeitgeberin und deren Familienmitglieder jedoch in große Gefahr.[10]
Eine weitere bedeutende Rolle hatte sie als Josepha Feller, die Frau des katholischen Predigers Feller, in dem Filmdrama Levins Mühle (1980). Die Filmszene, in der Reichel an der Seite von Andrzej Szalawski das Lied Hei hei hei hei japadei macht das Judchen ein Geschrei. singt, wurde bekannt. In dem Spielfilm Glück im Hinterhaus (1980) verkörperte sie die Nachbarin Frau Wolff, die frühere beste Freundin der Mutter der Praktikantin Frl. Broder.
Für ihre Rolle als Zuchthausleiterin Olser in dem Spielfilm Die Verlobte (1980) erhielt sie 1982 auf dem 2. Nationalen Spielfilmfestival der DDR den Nebendarstellerpreis. In dem DDR-Fernsehfilm Der Schimmelreiter (1984) verkörperte sie die Rolle der Hebamme Trin. In der mehrteiligen Literaturverfilmung Der Laden (1997/1998) hatte Reichel eine ihrer letzten Filmrollen.
2006 erschien das Buch Windbriefe an den Herrn b.b. Darin schreibt Reichel 45 „Windbriefe“ an Bertolt Brecht („an den Herrn b.b.“), in denen sie ungewöhnliche Arbeitsweisen und auch Marotten ihres Geliebten beschreibt. 2011 veröffentlichte sie eine Autobiographie unter dem Titel Dämmerstunde – Erzähltes aus der Kindheit.[12]
Käthe Reichel war unverheiratet. Sie lebte nach dem Suizid ihres einzigen Sohnes (aus einer Beziehung mit dem Maler Gabriele Mucchi) allein in ihrer Wohnung in Berlin, unweit des Deutschen Theaters.[6] Sie verstarb im Alter von 86 Jahren in ihrem Haus in Buckow. Brecht hatte das Anwesen am Buckowsee 1952 für Käthe Reichel gekauft. Am 9. November 2012 wurde sie auf dem I. Französischen Friedhof in Berlin-Mitte beigesetzt.[13]
Politisches Engagement
Reichel galt in der DDR aufgrund ihrer non-konformistischen Haltung als kritische Künstlerin. Für das Ministerium für Staatssicherheit galt sie als das „konterrevolutionäre Zentrum des Deutschen Theaters.“ Über den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei im Jahr 1968 äußerte sie sich kritisch in der Öffentlichkeit.[4] 1976 unterschrieb sie einen Protest gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann aus der DDR.[14] Am 4. November 1989 nahm sie an der Alexanderplatz-Demonstration teil; sie gehörte zu den Mitorganisatoren der Kundgebung.[3] Am 5. April 1990 sprach sie im Lustgarten (Berlin) zu rund 100 000 Teilnehmern einer Demonstration gegen den Umtauschkurs 2:1 für die Mark der DDR im Rahmen der geplanten Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion.[15][16] Am 4. November 1990 polemisierte sie gegen „Krause und Maiziere“, die das Land „verkauft, verschachert, verraten“ hätten, und warnte, dass sich das Volk des Satzes erinnern werde, mit dem es ein Jahr zuvor einen Staat gestürzt habe: „Wir sind das Volk“.[17] Im Januar 1991 demonstrierte sie mit einem Plakat „Mütter, versteckt Eure Söhne“ gegen den Golfkrieg.[18] 1993 unterstützte sie den Hungerstreik von Bergleuten der vor der Schließung stehenden Kaligrube Bischofferode unter anderem mit einem offenen Brief an die Präsidentin der TreuhandanstaltBirgit Breuel.[19] 1995/96 kritisierte sie die Kriegführung Russlands in Tschetschenien und schlug das Komitee der Soldatenmütter Russlands für den Friedensnobelpreis vor. 2006 engagierte sie sich für einen Berliner Heinrich-Heine-Preis für Peter Handke, nachdem diesem der Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf, für den ihn die Jury nominiert hatte, wegen seiner Haltung zu Slobodan Milošević verweigert worden war.[20][21] Das 2001 gegründete Internationale Komitee (für die Verteidigung von) Slobodan Miloševic zählte Käthe Reichel zu seinen Unterstützern.[22]
1977: James Thurber: Walter Mittys Geheimleben (Frau Mitty) – Regie: Achim Scholz (Hörspiel – Rundfunk der DDR)
1978: Klaus G. Zabel: Verjährte Fristen – Regie: Achim Scholz (Kriminalhörspiel – Rundfunk der DDR)
1978: Phineas Taylor Barnum: Alles Humbug (Joyce Heth) – Regie: Joachim Staritz (Rundfunk der DDR)
1978: Isaak Babel: Maria (Agascha) – Regie: Joachim Staritz (Rundfunk der DDR)
1978: Helmut Bez: Jutta oder die Kinder von Damutz – Regie: Fritz Göhler (Rundfunk der DDR)
1980: Elisabeth Panknin: Prinz Rosenrot und Prinzessin Lilienweiß oder die bezauberte Lilie (Drache) – Regie: Joachim Staritz (Kinderhörspiel – Rundfunk der DDR)
1981: Joachim Brehmer: Der Doppelgänger (Frau Walter) – Regie: Achim Scholz (Hörspiel – Rundfunk der DDR)
Windbriefe an den Herrn b.b. Faber & Faber, Leipzig 2006, ISBN 3-936618-85-2.
Dämmerstunde. Erzähltes aus der Kindheit. Verlag Neues Leben, Berlin 2011, ISBN 978-3-355-01791-6.
Bertolt Brecht, Käthe Reichel: »Solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich.« Briefwechsel. Mit einer Vorbemerkung von Helene Herold. In: Sinn und Form 2/2024, S. 149–181
C. Bernd Sucher (Hrsg.): Theaterlexikon. Autoren, Regisseure, Schauspieler, Dramaturgen, Bühnenbildner, Kritiker. Von Christine Dössel und Marietta Piekenbrock unter Mitwirkung von Jean-Claude Kuner und C. Bernd Sucher. 2. Auflage. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1999, ISBN 3-423-03322-3, S. 564 f.
↑Herbert A. Frenzel, Hans Joachim Moser (Hrsg.): Kürschners biographisches Theater-Handbuch. Schauspiel, Oper, Film, Rundfunk. Deutschland, Österreich, Schweiz. De Gruyter, Berlin 1956, DNB010075518, S. 584.
↑In den Presseberichten zur Beisetzung ist durchgängig irrtümlich vom Dorotheenstädtischen Friedhof die Rede, wohl weil der (größere und bekanntere) Dorotheenstädtische direkt an den Französischen Friedhof grenzt, möglicherweise auch, um die Nähe zu Brecht zu betonen, der auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben wurde.
↑DRA: Schlagzeilen 1990. In: 1989.dra.de. 25. September 2009, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 12. Juni 2012; abgerufen am 6. Januar 2015.Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/1989.dra.de
↑Deutschland 1990. Presse- und Informationsamt. Zentrales Dokumentationssystem. 1993. S. 19.
↑Käthe Reichel, 1991. In: bsd-photo-archiv.de. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 4. Oktober 2013; abgerufen am 6. Januar 2015.
↑Michael Jürgs: Ein Land im Sonderangebot. In: Der Spiegel. Nr.7, 1997 (online).