Hilde Benjamin wuchs als Tochter von Walter Moritz Lange und seiner Frau Adele Elsbeth Minette Julie geb. Böhme[1] in Berlin auf.[2]
Ihr Vater arbeitete als kaufmännischer Angestellter[3] für die Solvay-Werke in Bernburg (Saale), bevor er mit seiner Familie nach Berlin verzog und dort Leiter einer Tochterfirma wurde.[4]:S. 38, 43 ff. Die Schwester Ruth stieß mehrfach Weltrekord im Kugelstoßen und wurde 1927 Deutsche Meisterin, der Bruder Heinz arbeitete als Ingenieur in der DDR. Die Mutter, zu der Benjamin zeitlebens ein gutes Verhältnis unterhielt, lebte bis zu ihrem Lebensende 1952 in West-Berlin.[4]
Benjamin war Schülerin des Bismarck- und des Kaiserin Auguste Victoria-Lyceums in Berlin-Steglitz und bestand 1921 das Abitur. Ihr in einem evangelischen, kulturell interessierten Elternhaus schon früh gewecktes Interesse für klassische Musik und Literatur pflegte sie während ihres gesamten Lebens.[3] Sie war Mitglied der Wandervogel-Bewegung, die 1896 in Steglitz gegründet worden war.[3]:S. 64
Nach Referendars- und Assessorexamen ließ sie sich 1928 als Rechtsanwältin im Berliner Arbeiterbezirk Wedding nieder, wo ihr sieben Jahre älterer Mann Georg Benjamin, den sie 1926[3]:S. 64 geheiratet hatte, bereits als Arzt wirkte. Sie trat aus der SPD aus und folgte ihrem Mann in die KPD. Benjamin unterrichtete neben ihrer Arbeit in der Marxistischen Arbeiterschule und engagierte sich in der Straßenzelle, einer Grundorganisation der KPD. 1929 war sie nebenberuflich im Zentralvorstand der Roten Hilfe Deutschland tätig.[6] Als Rechtsanwältin in einer Laufpraxis[3]:S. 65 vertrat sie Streitfälle, meist Scheidungssachen, Mietstreitigkeiten und Beleidigungsklagen, aber auch Kündigungsschutzklagen vor den Arbeitsgerichten und Strafsachen von Arbeitern wegen Streikbeteiligung. Größere Aufmerksamkeit erregte sie 1931 im Sensationsprozess um den tödlichen Überfall auf den Berliner SA-FührerHorst Wessel, als sie im Auftrag der KPD dessen ehemalige Zimmerwirtin verteidigte.[7]
Ihr Mann war der Bruder des Schriftstellers und Philosophen Walter Benjamin und ihrer Freundin Dora Benjamin. 1932 wurde ihr Sohn Michael geboren.
Zeit des Nationalsozialismus
Nach der Verschleppung ihres Mannes in das Konzentrationslager Sonnenburg direkt nach dem Reichstagsbrand 1933 und einem Berufsverbot zog Benjamin mit ihrem Sohn arbeitslos zu ihren Eltern in die Dünther Straße in Berlin-Steglitz. Jede anwaltliche Tätigkeit war ihr durch ein Vertretungsverbot untersagt, unterschrieben vom Staatssekretär des preußischen Justizministeriums, dem späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs Roland Freisler. Kurz vor Weihnachten 1933 wurde ihr Mann Georg freigelassen. Es gelang ihr, als juristische Beraterin der sowjetischen Handelsgesellschaft in Berlin Arbeit zu finden.
Von 1939 bis 1945 war sie in der Konfektionsindustrie dienstverpflichtet. Da ihr Sohn nach den Nürnberger Gesetzen als „jüdischer Mischling“ galt, durfte er keine höhere Schule besuchen und wurde von seiner Mutter unterrichtet. Ihr Mann wurde am 14. Mai 1936 erneut verhaftet und wegen Übersetzung ausländischer Pressetexte vom Berliner Kammergericht wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu sechs Jahren Haft in der Strafanstalt Brandenburg-Görden verurteilt. Ihr Schwager, der Philosoph Walter Benjamin, beging 1940 auf der Flucht vor der Geheimen Staatspolizei an der französisch-spanischen Grenze Suizid. Ihr Mann starb 1942 im KZ Mauthausen. Ihre Schwägerin und Jugendfreundin Dora Benjamin starb 1946 im Schweizer Exil.
Während des Aufstands vom 17. Juni 1953 forderten Demonstranten in Sprechchören die Absetzung und Inhaftierung Benjamins.[9]:S. 125 Nachdem sowjetische Panzer den Aufstand erstickt hatten, leitete Benjamin ab dem 20. Juni einen Operativstab, dem in Abstimmung mit dem Politbüro der SED die Überwachung sämtlicher Strafverfahren im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 oblag. Zuständig waren die eigens dafür unter Benjamins Anleitung einschließlich der Pflichtverteidiger aus SED-treuen Juristen gebildeten Strafsenate in den Bezirken der DDR.[9]:S. 248–250
Nach dem Aufstand kam es in der SED zu einer politischen Säuberung: Viele gemäßigte politische Ansichten vertretende Parteimitglieder wurden aus der SED entfernt (viele von ihnen waren frühere SPD-Mitglieder und durch die Zwangsvereinigung von SPD und KPD in die SED geraten). Einigen Parteifunktionären und Angehörigen der Deutschen Volkspolizei warf die SED-Führung versöhnlerisches und kapitulantenhaftes Verhalten vor.[10] Der Justizminister Max Fechner, der nach dem 17. Juni mäßigend auf die Strafjustiz einwirken wollte, wurde am 14. Juli 1953 seiner Funktion enthoben, wegen „partei- und staatsfeindlichen Verhaltens“ aus der SED ausgeschlossen und nach zwei Jahren Untersuchungshaft 1955 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Benjamin bildete gemeinsam mit Anton Plenikowski, Ernst Melsheimer und Herbert Kern die „Justizkommission“ des ZK der SED, die diese Verurteilung herbeiführte.[11] Benjamin wurde am 15. Juli 1953 Fechners Nachfolgerin als „Minister für Justiz“.
Infolge einer zweiten, vom sowjetischen Regierungschef Nikita Chruschtschow im Oktober 1961 angestoßenen Entstalinisierungswelle wurde Benjamin von Ulbricht „fortschrittsfeindlicher Umtriebe“ bezichtigt. Trotz „prinzipieller Korrekturen“ gebe es in der DDR-Justiz „noch immer Erscheinungen des Dogmatismus“. Benjamin wehrte sich und warnte, dass – wie es das bundesdeutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel in einem Kommentar bissig schrieb – der „Verzicht auf stalinistische Rechtspraktiken“ dem westlichen Klassenfeind Tür und Tor öffnen werde. 1962/63 kam es zu einigen Lockerungen und Reformen.[12] Am 2. Juli 1967 erzwang Ulbricht zu ihrer völligen Überraschung ihren Rücktritt als Justizministerin, vorgeblich um den Ministerrat zu verjüngen.[13] Justizminister wurde danach Kurt Wünsche. 1966 wurde dem Ministerium für Staatssicherheit durch Verhöre der enttarnten CIA-Agentin Gertrud Liebing bekannt, dass Benjamin einem lesbischen Kreis angehörte.[14][15]
Tätigkeit als Richterin
Benjamin sorgte mit ihrem Konzept der „Volksrichter“ in der frühen DDR dafür, dass Rechtsprechung, wenn auch zögernd und oft angreifbar, weiter möglich war.[4]:S. 114 Sie berief sich unter anderem auf Andrei Wyschinski, Staatsanwalt der Moskauer Schauprozesse 1936 bis 1938: Seine Reden würden „nicht nur grundlegende Erkenntnisse der Theorie des Staates und des Rechtes, sondern auch der Staats- und Rechtspraxis“ vermitteln.[16] Benjamin war zunächst bei den Waldheimer Prozessen beratend beteiligt. Später war sie Vorsitzende in insgesamt 13 Prozessen gegen Oppositionelle, Sozialdemokraten und andere. Dazu gehören der Solvay-Prozess in Bernburg (Saale) und der Dessauer Schauprozess von 1950. Anders als die Bundesrepublik hatte die DDR die Todesstrafe bis dahin nicht abgeschafft, und Benjamin fällte von 1949 bis 1953, neben Zuchthausstrafen von insgesamt 550 Jahren und 15-mal lebenslänglich, zwei Todesurteile[17][18][19] (gegen Johann Burianek und Wolfgang Kaiser).[13]:381 Deshalb wurde sie in westlichen Zeitschriften auch die „Rote Guillotine“, „Rote Hilde“ oder „Blutige Hilde“ genannt. In der DDR hatte sie den Spitznamen Russin, wegen ihrer für russische Frauen typischen hochgesteckten Zopffrisur.[4]:S. 113
Staats- und Familienrechtlerin
Benjamin schrieb als Leiterin der Gesetzgebungskommission beim Staatsrat der DDR mit dem Gerichtsverfassungsgesetz, dem Jugendgerichtsgesetz und der Strafprozessordnung von 1952 Rechtsgeschichte in der DDR. Sie war 1963 Vorsitzende der Kommission zur Ausarbeitung des neuen Strafgesetzbuches. Bereits seit dem Beginn ihrer Karriere setzte sie sich für die Gleichberechtigung der Frauen ein, etwa als Mitbegründerin des Demokratischen Frauenbunds Deutschlands. Der erste Entwurf eines Familiengesetzbuchs 1965 ging auf sie zurück, worin die Gleichstellung nichtehelicher Kinder hergestellt, das Scheidungs- und Namensrecht reformiert und die Berufstätigkeit der Frauen gefördert werden sollte.
Sie setzte sich für eine weitere Verschärfung des politischen Strafrechts und die Beibehaltung der Todesstrafe ein[17] und wurde in der DDR vielfach ausgezeichnet: 1955 und 1962 mit dem Vaterländischen Verdienstorden, 1967 mit der Ehrenbürgerschaft der Stadt Bernburg (Saale),[20] 1972 mit der Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden, 1977 und 1987 mit dem Karl-Marx-Orden, 1979 als Verdiente Juristin der DDR und 1982 mit dem Stern der Völkerfreundschaft. 1952 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität zu Berlin.
Was bedeutet der Verfassungsentwurf der SED für die Frau?, Berlin, Verlag Neuer Weg, 1947
Vorschläge zum neuen deutschen Familienrecht, Berlin, Deutscher Frauen-Verlag, 1949, Reihe Bücherei der deutschen Frau
Die Hauptaufgaben der Justiz bei der Durchführung des neuen Kurses : überarbeitetes und ergänztes Stenogramm einer Rede, gehalten vor Funktionären der Justiz am 29. August 1953, Berlin, Deutscher Zentralverlag, 1953
Grundriss des Strafverfahrensrechts der Deutschen Demokratischen Republik, Hilde Benjamin (Mitverfasserin), Berlin, Deutscher Zentralverlag, 1953, 78 Seiten, Reihe Kleine Schriftenreihe des Deutschen Instituts für Rechtswissenschaft
Karl Liebknecht zum Wesen und zu Erscheinungen der Klassenjustiz, Verlag Dt. Akad. für Staats- und Rechtswissenschaften, Potsdam-Babelsberg, 1976, 112 Seiten
Georg Benjamin. Eine Biographie, Reihe Humanisten der Tat, Leipzig, S. Hirzel Verlag, 1977, ISBN 3-7401-0105-9
Aus Reden und Aufsätzen, Staatsverlag der DDR, Berlin 1982.
Zur Geschichte der Rechtspflege. 3 Bände, Staatsverlag der DDR, Berlin 1976–86 (als Leiterin des Autorenkollektivs):
Heike Amos: Kommunistische Personalpolitik in der Justizverwaltung der SBZ/DDR (1945–1953). Vom liberalen Justizfachmann Eugen Schiffer über den Parteifunktionär Max Fechner zur kommunistischen Juristin Hilde Benjamin. In: Gerd Bender: Recht im Sozialismus. Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944/45–1989). Klostermann, Frankfurt/M. 1999, ISBN 3-465-02797-3, S. 109–145.
Andrea Feth: Hilde Benjamin – Eine Biographie. Verlag Spitz, Berlin 1995, ISBN 3-87061-609-1. (Rezension; PDF; 68 kB).
Andrea Feth: Hilde Benjamin (1902–1989) in: Neue Justiz Online-Ausgabe (PDF; 645 kB) Heft 2/2002, S. 64–67.
Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Essay. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1989, ISBN 3-499-12731-8, (darin wird der Auftritt Benjamins bei einem Schauprozess beschrieben).
Holger Schlüter (Red.): Zwischen Recht und Unrecht. Lebensläufe deutscher Juristen. Justizministerium NRW, Recklinghausen 2004, S. 144–146.
Rolf Steding (Red.): Ein Vorbild der Einheit von Theorie und Praxis. Zum 85. Geburtstag von Prof. Dr. sc. Dr. h.c. Hilde Benjamin. Akademie der Wissenschaften, Potsdam 1987 (Aktuelle Beiträge der Staats- und Rechtswissenschaft; 345).
Heike Wagner: Hilde Benjamin und die Stalinisierung der DDR-Justiz. Shaker, Aachen 1999, ISBN 3-8265-5855-3, (zugl. Dissertation, Humboldt-Universität 1999).
Grit Bühler: Eigenmächtig, frauenbewegt, ausgebremst. Der Demokratische Frauenbund Deutschlands und seine Gründerinnen (1945–1949). Diss. Campus, Frankfurt am Main/New York 2022, ISBN 978-3-593-51602-8.
Filme
Hilde Benjamin – Die Scharfrichterin der DDR. Aus der Reihe „Geschichte Mitteldeutschlands“ des MDR, 2013.
↑ abGeburtsurkunde des Standesamtes Bernburg No. 119/1902
↑Rudi Beckert: Die erste und die letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR, Keip Verlag, Goldbach 1995, ISBN 3-8051-0243-7, S. 42
↑Volkmar Schöneburg: Hilde Benjamin – Eine Biographie in UTOPIE kreativ Nr. 85/86, 1997, S. 114.
↑Nikolaus Brauns: Schwieriges Erinnern – die Rote Hilfe Deutschlands in der Geschichtsschreibung. In: informationen. Nr.58. Studienkreis Deutscher Widerstand 1933–1945, 2003, ISSN1437-2258 (Volltext bei Dr. Nikolaus Brauns [abgerufen am 2. Februar 2024]).
↑Falco Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Vom bekennenden Terror zur verdeckten Repression. 2., überarbeitete Auflage. Ch. Links Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-86153-150-X, S.338.
↑Hermann-Josef Rupieper (Hrsg.): „… und das Wichtigste ist doch die Einheit“. Der 17. Juni 1953 in den Bezirken Halle und Magdeburg. Lit Verlag, Münster/Hamburg/London 2003, ISBN 3-8258-6775-7, S.101.
↑Das Gute im Menschen. In: Der Spiegel. Nr.52, 1962 (online – 25. Dezember 1962).
↑ abcMarianne Brentzel: Die Machtfrau. Hilde Benjamin 1902–1989. Ch. Links Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-86153-139-9, S.330, 333 (Brentzel nennt (S. 332) als möglichen Grund Parteiproporz: Ein Repräsentant der Blockpartei LDPD sollte ein Ministeramt bekommen.).
↑Reinhard Borgmann, Jochen Staadt: Deckname Markus. Spionage im ZK, Transit Buchverlag, Berlin 1998, ISBN 978-3-88747-126-2, S. 114.
↑Wladislaw Hedeler: Die Szenarien der Moskauer Schauprozesse 1936 bis 1938. In: Utopie kreativ. Heft 81/82, ISSN0863-4890, S.58–75 (Online bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung [PDF; 102kB]).
↑ abKarl Kadi: Biographie Prof. Dr. Hilde Benjamin. In: das freischüßler. Nr.1/2004, 24. September 2004, ISSN1867-2124 (Online beim arbeitskreis kritischer jurist*innen an der HU Berlin [PDF; 358kB; abgerufen am 2. Februar 2022]).
↑Die Justiz als Schwert im Klassenkampf. In: MDR Zeitreise. Mitteldeutscher Rundfunk, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 20. September 2016; abgerufen am 2. Februar 2022.
↑Nach Auskunft der Stadt Bernburg vom 20. Januar 2014 besteht diese Ehrenbürgerschaft nicht mehr.
↑Rudolf Wassermann:, Deutsche Richterzeitung. 1994, S. 285, zitiert nach Andrea Feth: Hilde Benjamin. 1902–1989. (Aufsatz) in Fachzeitschrift Neue Justiz, 2/2002, S. 64 ff.