Das Handwerk des Glockengusses wurde in der thüringischen Stadt Apolda von 1722 bis 1988 betrieben.
Geläute aus der Apoldaer Produktion erklingen in zahlreichen Sakralbauten auf fünf Kontinenten – die wohl bedeutendste ist die Petersglocke von 1923 im Kölner Dom. Auch wurden Glocken und Glockenspiele für öffentliche Gebäude gegossen. Insgesamt wurden wohl fast 20.000 Glocken in Apolda gegossen.
Der letzte Guss einer Glocke fand in den 1980er Jahren statt. In Apolda erinnern das GlockenStadtMuseum und das im Turnus von vier Jahren stattfindende Weltglockengeläut an die große Tradition des Handwerks.
Der erste Glockengießer Johann Christoph Rose war ab 1718[1] in Oßmannstedt ansässig und zog 1722 nach Apolda, um dort zwei Glocken für eine geplante Kirche zu gießen. Eine dieser Glocken hängt heute in der Apoldaer Lutherkirche. Nach dessen Tod war sein Bruder Martin Rose (1696–1758) als Nachfolger als Glockengießer tätig.
Nach dessen Tod übernahmen 1759 zunächst Johann Georg Ulrich junior, später auch Johann Gottlob Ulrich, Söhne des Lauchaer Glockengießers Johann Georg Ulrich, die Gießerei und führten sie unter dem Namen Gebrüder Ulrich weiter. Heute findet man in Apolda das GlockenStadtMuseum und in Laucha das Glockenmuseum Laucha. Mit einem dritten Bruder, Johann Christoph Ulrich, der ebenfalls in das Unternehmen eintrat, gab es schließlich Streitigkeiten, bei denen unter anderem Johann Wolfgang Goethe als Hofrat konsultiert wurde.
Wegen der qualitativ überlegenen Konkurrenz musste die Firma Gebrüder Ulrich 1902 Konkurs anmelden. Heinrich Ulrich baute den Betrieb 1910 unter gleichem Namen wieder auf. Ihm gelang es, die Petersglocke des Kölner Doms (Decke Pitter) zu gießen, die klangtiefste am geraden Joch freischwingende Glocke der Welt. Nach seinem Tod erfolgte die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft. Danach gingen die Geschäfte immer schlechter. Schließlich wurde die Gießerei 1949 von der DDR enteignet und aufgegeben.
Ein zweites Werk wurde 1921 in Kempten am Ostbahnhof eröffnet. 1930 zog sich die Betreiberfirma dort zurück und verpachtete das Werk an einen Glockengießer aus Kempten. Das Werk wurde bis in die 1950er Jahre zum Glockengießen verwendet.[2] In Bockenem existierte ab 1918 vorübergehend die Firma Ulrich & Weule, eine Kooperation mit der Gießerei J. F. Weule.[3] Sie stellte Eisenhartgussglocken her.
Martin Rose (* 30. September 1696 in Volkstedt; † 29. Januar 1758 in Apolda), seit 1750
Glockengießer der Familie Ulrich
Johann Georg Ulrich (* 21. April 1738 in Laucha; † 13. Oktober 1812 in Apolda), seit 1750
Johann Gottfried Ulrich (* 29. September 1740 in Laucha; † 12. Januar 1825 in Apolda), seit 1763 mit 1.
Johann Christian Ulrich (* 20. Dezember 1745 in Laucha; † 22. Mai 1812 in Apolda), seit 1767 mit 1. und 2.
Johann Moritz Heinrich Ulrich (* 24. Juni 1821 in Apolda; † 22. Januar 1875 ebenda), 1863 Inhaber mit 5.
Jakob Friedrich Johann Heinrich Ulrich (1. Juli 1850 in Apolda; † 25. Mai 1903 ebenda), 1884 Inhaber.
Heinrich Richard Karl Ulrich (* 25. März 1876 in Apolda; † 12. Februar 1924 in Weimar), Neugründung 1910. Unter seiner Leitung entstand am 5. Mai 1923 die größte Glocke für den Kölner Dom, die Petersglocke, deren erstes Läuten in Köln er nicht mehr erlebte – er verstarb an einer schweren Grippe[4]. Sein Grabmal mit Glocke befindet sich auf dem Historischen Friedhof Weimar.[5]
Franz Wilhelm August Ulrich (* 1. Oktober 1825 in Apolda; † 13. September 1897 ebenda), 1863 Inhaber mit 4.
Gießerei Carl Friedrich Ulrich / Franz Schilling
Geschichtsüberblick
1826 eröffnete Carl Friedrich Ulrich eine zweite, konkurrierende Gießerei. Sie wurde 1878 von Franz Schilling übernommen, einem Schwager Karl Richard Emil Ulrichs, der das Privileg als Hofglockengießer des Weimarer Großherzogs erhielt. Diese Glockengießerei, ab 1911 unter dem Namen Franz Schilling Söhne, spezialisierte sich auf Glockenspiele.
Ab 1888 bestand eine Gießereifiliale in Allenstein in Ostpreußen.
Die Kooperationsfirma Schilling & Lattermann in Morgenröthe-Rautenkranz stellte ab 1918 Stahl- und Eisenhartgussglocken her, bis am 30. November 1968 diese Gießerei abbrannte.[3]
In der NS-Zeit war die Gießerwerkstatt mehrfach Produzent von Glockenspielen im Rahmen der Propaganda des Dritten Reiches. Dort entstand u. a. 1936 ein Glockenspiel für die NS-Ordensburg Krössinsee,[6] 1937 ein Glockenspiel für die NSDAP-Ordensburg Sonthofen.[7] aber auch 1939 für die Kirche von Lößnitz im Erzgebirge, die mit Hitler-Zitaten und anderen NS-Propaganda-Sprüchen verziert war.[8] Auch ein Glockenspiel für das Wisentahaus von Schleiz ließen die NS-Führer der damaligen Kreisstadt anfertigen – mit den passenden „Führer“-Zitaten.[9]
Während des Zweiten Weltkriegs kam die Tätigkeit vollständig zum Erliegen. Danach wurde das Geschäft mühsam wieder aufgebaut. In diesen Jahren wurden wieder zahlreiche Kirchenglocken hergestellt, um die Verluste durch Umgießen in Kriegsmaterialien zu ersetzen. In der DDR-Zeit entstand beispielsweise 1957 die Buchenwald-Glocke für die KZ-Gedenkstätte Buchenwald.[10] Im Jahr 1972 wurde der Betrieb teilweise enteignet und als VEB Glockengießerei Apolda in Volkseigentum überführt. Franz-Peter Schilling, der bis dato letzte Apoldaer Glockengießer, wurde formal als Direktor eingestellt. Er trat 1976 wegen der absurden Betriebsverhältnisse aus, um freischaffend weiterzuarbeiten. Bei der Rückgabe nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 an das Ehepaar Schilling war die Gießerei bereits verfallen.
Friedrich Wilhelm Schilling, ein Enkel von Franz Schilling, war zwischen 1949 und 1971 in Heidelberg Glockengießer. Die Gießerei wurde nach seinem Tod gegen seinen erklärten Wunsch weitergeführt und schließlich 1982 mit der Glockengießerei Bachert in Karlsruhe zusammengelegt, die seitdem Karlsruher Glocken- und Kunstgießerei heißt.
Glockengießer der Familie Ulrich
Carl Friedrich Gottfried Ulrich (* 22. März 1801 in Apolda; † 22. Dezember 1848 ebenda), Begründer
Ernst Friedrich Christian Ulrich (* 17. März 1830 in Apolda; † 2. September 1861 ebenda), Inhaber ab 1849
Karl Richard Emil Ulrich (* 6. Juli 1835 in Apolda; † 16. Mai 1894 ebenda), Inhaber ab 1862
Franz Friedrich August Schilling (* 31. Oktober 1853 in Apolda; † 15. Januar 1926 ebenda), Inhaber ab 1878
Otto Wolfgang Schilling (* 20. März 1882 in Apolda; † 25. August 1962 ebenda), ab 1911 Inhaber mit Franz August
Friedrich Wilhelm Hans Kurt Schilling (* 2. September 1914 in Apolda; † 6. Juni 1971), Glockengießer in Heidelberg
August Heinrich Friedrich Schilling (* 20. August 1886 in Apolda; † 15. April 1928 ebenda), ab 1911 Inhaber mit Otto Wolfgang
Franz August Schilling (* 2. Februar 1897 in Apolda; † 10. Oktober 1977 ebenda), ab 1927 Inhaber mit Otto Wolfgang und August Heinrich
Franz Peter Schilling (* 13. Februar 1930 in Jena; † 9. September 2001 in Apolda), 1972–1976 Direktor des VEB, danach freischaffend zusammen mit Ehefrau Margarete Schilling
Franz Schilling & Söhne Die beiden großen Glocken wurden zu Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 eingeschmolzen, nur die kleine Glocke verblieb der Kirche.
Franz Schilling Söhne Einziges Carillon mit Welte-Rollenspielautomatik. Die Beschriftung erfolgte mit völkischen und Hitler-Zitaten. Ältestes, original erhaltenes und funktionstüchtiges Carillon Deutschlands.[15][16]
Anmerkung: Die Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vor allem der Bereich der Eisenhartgussglocken von Schilling & Lattermann bzw. Ulrich & Weule wird nur mit wenigen Instrumenten angerissen. – Die Aufstellung zeigt jedoch ganz klar, dass während der beiden Weltkriege kaum Glocken entstanden, da diese auf staatliche Weisung hin abgehangen werden mussten, um zu Kanonen umgegossen zu werden.
Ehrung
Zum Andenken an und als Dank für den letzten Glockengießermeister Franz Peter Schilling (1930–2001) – sowie damit ebenso für die viele Generationen umfassende Schillingsche Glockengießer-Tradition und deren Verdienste für die Stadt – gibt es in Apolda die Peter-Schilling-Straße[18].
Varia
Glocken und Bier aus Apolda
Seit Jahrzehnten verknüpft die Vereinsbrauerei Apolda zwei ihrer Biersorten mit dem Image des bekanntesten Markenzeichens der Kleinstadt: Das Apoldaer Glocken-Hell[20] und das Apoldaer Glocken-Pils[21] sind weit über die Region bekannt und verankert. Auch finden sich immer wieder Glocken sowohl auf historischen als auch auf aktuellen Bier-Etiketten.[22]
Glocken auf Briefmarken
Glocken aus Apolda sind auf Briefmarken aus aller Welt zu sehen. (vgl. Ausstellung 2019 im Gelben Salon des GlockenStadtMuseums der Stadt Apolda)
Ernst Fauer: Eisenhartgussglocken aus der Glockengießerei Ulrich & Weule. In: Apoldaer Geschichtsverein e. V. (Hrsg.): Apoldaer Heimat – Beiträge zur Natur und Heimatgeschichte der Stadt Apolda und ihrer Umgebung. Heft 36. Apolda 2018, S.35–41.
Rainer Thümmel; Roy Kreß; Christian Schumann: Als die Glocken ins Feld zogen … – Die Vernichtung sächsischer Bronzeglocken im Ersten Weltkrieg. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2017, ISBN 978-3-374-05203-5[23] – Darin sind auf Seite 220 im „Verzeichnis der Gießer vernichteter Glocken“ für den Bereich der heutigen Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens zum Namen Schilling (unter Nr. 67 und 68) 68 sowie 29 vernichtete Glocken genannt (gesamt: 97), zum Namen Ulrich (unter Nr. 74 und 75) sind 25 sowie 58 vernichtete Glocken genannt (gesamt: 83). Ab 1919 gossen für kirchliche Auftraggeber aus Sachsen Franz Schilling Söhne bis 1939 insgesamt 486 Bronzeglocken und Gebrüder Ulrich bis 1937 insgesamt 159 Bronzeglocken (Quelle: ebenda, S. 153 und 158).
Viola-Bianka Kießling: Himmlische Instrumente. Hrsg.: Kreis Weimarer Land in Kooperation mit dem Kirchenkreis Apolda-Buttstädt. Apolda 2012.
Ernst Fauer: Glockengießer im Bereich Jena – Weimar – Apolda. In: Manfred Steinbach; Verein Technikgeschichte in Jena e. V. (Hrsg.): Jenaer Jahrbuch zur Technik- und Industriegeschichte. Band13. Vopelius, Jena 2010, S.107–127.
Ernst Fauer: Georg Schüler – ein unbekannter Apoldaer Glockengießer. In: Apoldaer Geschichtsverein e. V. (Hrsg.): Apoldaer Heimat – Beiträge zur Natur und Heimatgeschichte der Stadt Apolda und ihrer Umgebung. Heft 26. Apolda 2008, S.57–60.
Marcus Schmidt (Beauftragter für das landeskirchliche Glockenwesen): Thüringer Glocken – ein historischer Abriß. (PDF; 0,5 MB) 12 Seiten, pdf, Eisenach 2005; abgerufen am 8. Mai 2021
Ernst Fauer: Johann Christoph Rose – der Begründer der Glockengießertradition in Apolda. In: Apoldaer Geschichtsverein e. V. (Hrsg.): Apoldaer Heimat – Beiträge zur Natur und Heimatgeschichte der Stadt Apolda und ihrer Umgebung. Heft 21. Apolda 2003, S.10–16.
Ernst Fauer: Heinrich Ulrich und seine Glockengießerei am Katharinenweg. In: Apoldaer Geschichtsverein e. V. (Hrsg.): Apoldaer Heimat – Beiträge zur Natur und Heimatgeschichte der Stadt Apolda und ihrer Umgebung. Heft 20. Apolda 2002, S.20–26.
Ernst Fauer: Dem Glockengießermeister Franz-Peter Schilling zum Gedenken. In: Apoldaer Geschichtsverein e. V. (Hrsg.): Apoldaer Heimat – Beiträge zur Natur und Heimatgeschichte der Stadt Apolda und ihrer Umgebung. Heft 19. Apolda 2001, S.7–11.
Margarete Schilling: Kunst, Erz und Klang. Die Werke der Glockengießerfamilien Ulrich/Schilling vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin, 1992.
Kurt Hübner: Der Glockenguss in Apolda. Stadtmuseum Weimar, Weimar 1980, DNB890909725.
Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen, Landeskirchenrat (Hrsg.) / Fritz Schilling:[25]Unsere Glocken – Thüringer Glockenbuch. Gabe der Thüringer Kirche an das Thüringer Volk. Gewidmet dem „Thüringer Glockengießermeister Dipl.-Ing. Franz Schilling in Apolda in Dankbarkeit für seine Arbeit zum Besten unserer Gemeinden“. Jena 1954, DNB454355548.
↑Ernst Fauer: Johann Christoph Rose – der Begründer der Glockengießertradition in Apolda. In: Apoldaer Geschichtsverein e. V. (Hrsg.): Apoldaer Heimat – Beiträge zur Natur und Heimatgeschichte der Stadt Apolda und ihrer Umgebung. Heft 21. Apolda 2003, S.10–16.
↑Christian Ilg: Firmengeschichten von Betrieben, die den Beginn der Industrialisierung einläuteten und zu deren Glanz beitrugen. In: Aus Kemptens vergangenen Tagen. III. Selbstverlag. Kempten 2006, S. 159.
↑ abErnst Fauer: Eisenhartgussglocken aus der Glockengießerei Schilling & Lattermann. In: Apoldaer Heimat 2005. Beiträge zur Natur und Heimatgeschichte der Stadt Apolda und ihrer Umgebung. Apolda 2005, S. 28–32.
↑Ernst Fauer: Heinrich Ulrich und seine Glockengießerei am Katharinenweg. In: Apoldaer Geschichtsverein e. V. (Hrsg.): Apoldaer Heimat – Beiträge zur Natur und Heimatgeschichte der Stadt Apolda und ihrer Umgebung. Heft 20. Apolda 2002, S.20–26, hier S. 23.
↑Ernst Fauer: Heinrich Ulrich und seine Glockengießerei am Katharinenweg. In: Apoldaer Geschichtsverein e. V. (Hrsg.): Apoldaer Heimat – Beiträge zur Natur und Heimatgeschichte der Stadt Apolda und ihrer Umgebung. Heft 20. Apolda 2002, S.20–26.
↑Günther Ziegler: Wie die Buchenwaldglocke gegossen wurde. In: Deutscher Kulturbund Jena (Hrsg.): Altes und Neues aus Jena. Ein Heimatalmanach aus dem mittleren Saaletal. Jena 1960.
↑Ernst Laue: Leopoldshall wie es früher war. Vom Ort einer Saline zum Stadtteil Staßfurt. Wartberg Verlag 2001, S. 26.