Die Berlinische Boden-Gesellschaft (BBG) unter ihrem Mitbegründer Salomon Haberland errichtete das Viertel zwischen 1900 und 1914 für ein bürgerliches Publikum. Finanzstarke Bevölkerungsschichten sollten gewonnen werden, um mehr Steuereinnahmen für die damals selbstständige und kreisfreie Stadt Schöneberg zu erzielen.
Elegante Fassaden, bis zu 250 m² große Wohnungen mit Empfangsräumen, Vorgärten, grüne Schmuckplätze und ein eigener U-Bahnhof der heutigen Linie U4 prägten das Viertel. Zahlreiche Straßen erhielten die Namen bayrischer Städte oder von Städten, die ehemals zu Bayern gehörten (daher auch Straßenbenennungen nach Orten, die heute in Österreich oder in Südtirol liegen). Die Planung der Häuser besorgten Architekten, die sich auf den süddeutschen Renaissancestil, die „Alt-Nürnberger Bauweise“, verstanden. Die Gebäude bekamen verzierte Türmchen, gestufte Giebel und Sprossenfenster.
Das Viertel war ein Anziehungspunkt für jüdische Bürger. In der Münchener Straße errichteten sie 1909 eine orthodoxeSynagoge mit Kinderhort, Schulräumen und einer Bibliothek. Die evangelische Kirche zum Heilsbronnen an der Heilbronner Straße entstand erst drei Jahre später. Nach 1933 emigrierten viele jüdische Einwohner des Viertels aus Deutschland. Das Werner-Siemens-Realgymnasium in der Hohenstaufenstraße, dessen Schüler zur Hälfte aus jüdischen Familien stammten, musste 1934 die Oberstufe wegen Schülermangels schließen und wurde 1935 aufgelöst. Der Holocaust verheerte den Stadtteil auf seine Weise: Von etwa 16.000 jüdischen Bewohnern des Bayerischen Viertels wurden 1943 rund 6.000 in nationalsozialistischeVernichtungslagerdeportiert.
In den Nächten vom 1. zum 2. März 1943 und vom 22. zum 23. November 1943 zerstörten alliierte Luftangriffe und anschließende Feuer das Viertel zu rund 75 Prozent. Der U-Bahnhof Bayerischer Platz wurde im Februar 1945 von einer Fliegerbombe getroffen. Vor allem nördlich der Grunewaldstraße klafften große Lücken. Zwischen 1955 und 1959 wurden sie im Zuge des Berliner Aufbauprogramms durch vierstöckige Neubauten geschlossen, die historische Blockbebauung dabei aufgebrochen. Die schwer beschädigte Synagoge in der Münchener Straße wurde 1956 abgerissen. In den 1960er Jahren wurde, wie überall in West-Berlin, dem Zeitgeist folgend historischer Fassadenschmuck bei Renovierungen entfernt. Später renovierte alte Gebäude sind denkmalpflegerisch wiederhergestellt worden.
Zum Gedenken an die von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Einwohner realisierten die Künstler Renata Stih und Frieder Schnock im Jahr 1993 im Auftrag des Senats von Berlin das flächendeckende Denkmal unter dem Titel Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel: Ausgrenzung und Entrechtung, Vertreibung, Deportation und Ermordung von Berliner Juden in den Jahren 1933 bis 1945. Es besteht aus 80 an Straßenbeleuchtungsmasten befestigten Doppelschildern (Bild- und Textseite), drei Übersichtsplänen mit Karten des Viertels aus dem Jahr 1933 und 1993 (aufgestellt am Bayerischen Platz, an der Schule in der Münchener Straße und vor dem Rathaus Schöneberg) und einer Begleitpublikation mit eingelegtem Faltplan. Die Tafeln zeigen auf der einen Seite Bilder, Symbole oder Piktogramme, auf der anderen Seite Auszüge aus nationalsozialistischen Gesetzes- und Verordnungstexten, die die Entrechtung der Juden in Deutschland markierten.[2]
Im Rathaus Schöneberg – am südlichen Rand des Bayerischen Viertels – ist seit 2005 die Ausstellung Wir waren Nachbarn – Biographien jüdischer Zeitzeugen zu sehen, ein wichtiger Gedenkort in Berlin. Veranstaltet von frag doch! Verein für Begegnung und Erinnerung e. V. in Kooperation mit dem Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg von Berlin versammelt sie 152 Familien-Alben (Stand: 2015) über ehemalige jüdische Nachbarn aus dem Bayerischen Viertel und dem gesamten Bezirk. Die Ausstellung vermittelt anschaulich eine Vorstellung vom Leben in Berlin vor 1933 und von der schrittweisen Ausgrenzung und Entrechtung, Vertreibung, Deportation und Ermordung Berliner Juden. Das Bayerische Viertel wird hier zu einem exemplarischen Ort im Bezirk und im kollektiven Gedächtnis der Stadt.[3] Ergänzt wird dieser Anspruch durch das Café Haberland auf dem Bayerischen Platz.[4]
Orte des Erinnerns: Band 1, Das Denkmal im Bayerischen Viertel, Kunstamt Schöneberg, Schöneberg Museum in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz (Hrsg.), Berlin 1994, Edition Hentrich, ISBN 3-89468-146-2.
Orte des Erinnerns: Band 2, Jüdisches Alltagsleben im Bayerischen Viertel, Kunstamt Schöneberg, Schöneberg Museum in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz (Hrsg.), Berlin 1995, Edition Hentrich, ISBN 3-89468-147-0.
Wir waren Nachbarn – Biographien jüdischer Zeitzeugen. Eine Ausstellung in der Berliner Erinnerungslandschaft, frag doch! Verein für Begegnung und Erinnerung (Hrsg.), mit einer Videodokumentation auf Mini-DVD, Berlin 2008, ISBN 978-3-938485-73-6.
Renata Stih, Frieder Schnock: Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel / Memorial Places of Remembrance, dt./engl., 5. Aufl. Berlin 2017, ISBN 9783000302848; Website zum Denkmal mit Link zur mehrsprachigen App (inkl. Audio & GPS).
Gudrun Blankenburg: Das Bayerische Viertel in Berlin-Schöneberg. Leben in einem Geschichtsbuch. Berlin 2010. Hendrik Bäßler Verlag. ISBN 978-3-930388-60-8.
Ruth Federspiel (Hrsg.), Ruth Jacob (Hrsg.): Jüdische Ärzte in Schöneberg – Topographie einer Vertreibung, 128 S., Klappenbroschur, 34 Abb., Berlin 2012, Hentrich & Hentrich-Verlag ISBN 978-3-942271-76-9.