Stramm wuchs in Münster, Düren, Eupen und Aachen auf, wo er 1893 am königlichen Kaiser-Wilhelms-Gymnasium, dem heutigen Einhard-Gymnasium, das Abitur ablegte. Anschließend trat er als Posteleve in den Postdienst ein, wurde bald Postsekretär und arbeitete ab 1897 im Seepostdienst zwischen Deutschland und den USA. 1902 legte er die Verwaltungsprüfung für Post und Telegrafie ab. Im selben Jahr heiratete er Else Krafft, zudem entstand sein erstes literarisches Werk, das Drama Die Bauern. 1903 und 1904 wurden die Kinder Ingeborg und Helmuth geboren. Ab 1905 lebte die Familie in Karlshorst in der Kaiser-Wilhelm-Straße 8[1] (heute: Lehndorffstraße 16). Stramm studierte neben seiner Arbeit bis 1908 an der Berliner Universität und promovierte 1909 an der Universität Halle; Thema seiner Dissertation war das Welteinheitsporto. Im selben Jahr wurde Stramm zum Postinspektor befördert.
1912–1915
Um 1912 fand Stramm, der sich einige Jahre lang immer wieder an literarischen Arbeiten versucht hatte, zu seinem eigenen Ton. In Werken wie Rudimentär und Die Haidebraut verbinden sich naturalistische Themen mit Sprachexperimenten. Wahrscheinlich unter dem Einfluss des italienischen Futurismus entstanden nun Gedichte, die für den Expressionismus wegweisend wurden: Stramm zerstörte Wortformen und Syntax und montierte Sprachelemente neu, beispielsweise in dem Gedicht Freudenhaus (1914): „Lichte dirnen aus den Fenstern / die Seuche / spreitet an der Tür / und bietet Weiberstöhnen aus!“
Durch diese Werke kam Stramm in Kontakt mit Herwarth Walden, dem Herausgeber der Zeitschrift Der Sturm. Mit Walden verband ihn bald eine enge Freundschaft. Die Möglichkeit, endlich in einer angesehenen Zeitschrift zu veröffentlichen und überhaupt Anerkennung zu finden, löste Stramms letzte und produktivste Schaffensphase aus, die vor allem durch die Kriegsgedichte (gesammelt unter dem Titel Tropfblut, 1919) gekennzeichnet ist.
Stramm hatte 1896/97 seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger absolviert und kam bei Kriegsbeginn 1914 als Hauptmann der Reserve zum Badischen Landwehr-Infanterie-Regiment Nr. 110, das hinter der Front am Oberrhein im Elsass eingesetzt war. Im Januar 1915 wurde Stramm als Kompanieführer zum Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 272 der neugebildeten 82. Reserve-Division versetzt, die im Stellungskrieg bei Chaulnes (Département Somme) kämpfte. Ende Februar erhielt er das Eiserne Kreuz II. Klasse, kam im April mit seinem Regiment an die Ostfront und nahm Anfang Mai an der Schlacht von Gorlice teil. Seit 19. Mai Bataillonskommandeur, kämpfte er in der Schlacht bei Radymno und im Juli bei Grodek, wofür er das Österreichische Militärverdienstkreuz erhielt. Am 1. September 1915 fiel Stramm beim Angriff auf russische Stellungen am Dnepr-Bug-Kanal.
Das Grab August Stramms und seines Sohnes Helmuth befindet sich auf dem Südwestfriedhof Stahnsdorf an der südlichen Stadtgrenze von Berlin.
Werk und Wirkung
Texte wie Patrouille fallen auf durch ihre schlichte, reduzierte Sprache. Oft wird kein Wert auf Grammatik gelegt; Substantive, substantivierte Verben und Neologismen bilden den Hauptbestandteil.
Stramms Stil war überraschend und neu. Durch seine Knappheit, Härte und die weit vorangetriebenen Sprachexperimente heben sich Stramms Gedichte deutlich von denen anderer, früher Expressionisten wie beispielsweise Georg Heym und Theodor Däubler ab. Während letztere meist noch deutlich von der Neuromantik und dem Symbolismus beeinflusst sind, reißen Stramms Sprachmontagen den Horizont in die Moderne auf. Die zerhackten Rhythmen, die Satz- und Wortfetzen machen Stramms Gedichte zudem zu den überzeugendsten lyrischen Zeugnissen des Weltkriegs, umso mehr, da es kaum einem anderen Autor gelungen ist, das Grauen dieses ersten Maschinenkriegs in einer dieser ganz neuen Erfahrung angemessenen Form zu verarbeiten. Nach Meinung von Ralf Schnell fand das Weltkriegserlebnis bei August Stramm seinen stärksten deutschsprachigen lyrischen Ausdruck überhaupt.[2]
Das Welteinheitsporto. Historische, kritische und finanzpolitische Untersuchungen über die Briefpostgebührensätze des Weltpostvereins und ihre Grundlagen. Halle, Kaemmerer 1910 (Dissertation online – Internet Archive)
August Stramm: Das Werk. Lyrik und Prosa. Herausgegeben von René Radrizzani. Limes Verlag, Wiesbaden 1963
Michael Trabitzsch (Hrsg.): Briefe an Nell und Herwarth Walden, Edition Sirene, Berlin 1988
Peter Brasch (Bearb.): August Stramm. Berlin 1992 [= Poet’s Corner 7].
Jeremy Adler (Hrsg.): Alles ist Gedicht. Briefe, Gedichte, Bilder, Dokumente. Arche-Verlag, Zürich 1990, ISBN 3-7160-2068-0.
Jeremy Adler (Hrsg.): Die Dichtungen. Sämtliche Gedichte, Dramen, Prosa, Piper, München 1990, ISBN 3-492-10980-2.
August Stramm: Gedichte. Dramen. Prosa. Briefe. Herausgegeben von Jörg Drews. Stuttgart 1997
August-Stramm-Lesebuch. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Delseit. Köln 2007 [= Nylands Kleine Westfälische Bibliothek 15] ISBN 978-3-936235-16-6Online-Ausgabe des Lesebuchs
August Stramm: Nachtrag, Kirchseeon 2014 [FRANC-TIREUR 11], ISBN 978-3-9810572-8-7. Enthält: Das Fest der Liebe und Der Galgen.
August Stramm: YOU. Lovepoems & posthumous love poems, Übersetzt und mit einem Essay von Susanne Fiessler. Monsenstein und Vannerdat & ULB Münster, Münster 2015, ISBN 978-3-8405-0126-5. Online-Ausgabe. Enthält: Du und weitere posthume Liebesgedichte.
August Stramm: Sämtliche Gedichte. Samt einigen Vorstufen und lyrischen Fragmenten aus dem Nachlass. Kritisch erarbeitet, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Matthias C. Hänselmann. Passau: Ralf Schuster Verlag 2022, ISBN 978-3-940784-59-9.
Medien
August Stramm: Welteinheitsporto. Gedichte und Briefauszüge. Münster: Daedalus Verlag 1998 (Hörbuch nach einer Idee v. Walter Gödden, 51:02 Min.)
Martin Semmelrogge liest Gustav Sack: „Verrückt und nicht wenig eitel…“ Hörspiel und Lyrik. Bielefeld 2004 [= Edition Nyland im Pendragon Verlag] (Audiobook, 70:30 Min.)
Sekundärliteratur
Kristina Mandalka: August Stramm – Sprachskepsis und kosmischer Mystizismus im frühen zwanzigsten Jahrhundert, Herzberg, 1992
Lothar Jordan (Hrsg.): August Stramm. Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung. Bielefeld 1995
Enno Stahl: Anti-Kunst und Abstraktion in der literarischen Moderne (1909-1933). Frankfurt/Main u. a. 1997 [= Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 61] (Kap. 4: Die Wortkunst des STURM-Kreises)
Dieter Sudhoff: Die literarische Moderne und Westfalen. Besichtigung einer vernachlässigten Kulturlandschaft. Bielefeld 2002 [=Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen 3], S. 355–375
Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004, ISBN 3-406-52178-9, S. 567–569, 678–679 und 685–689
„Der Sturm muß brausen in dieser toten Welt“ – Herwarth Waldens 'Sturm' und die Lyriker des 'Sturm'-Kreises in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Kunstprogrammatik und Kriegslyrik einer expressionistischen Zeitschrift im Kontext. WVT, Trier 2006. ISBN 978-3-88476-825-9, (Kap. III: Der Erste Weltkrieg in der Dichtung des Sturm, 1. August Stramm, S. 196–258)
↑Ralf Schnell: Geschichte der deutschen Lyrik. Band 5: Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Reclam, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-15-018892-7, S. 81.
↑Matthias C. Hänselmann: „Es ist ein Kunstweben.“ Leben, Werk und Nachwirkungen August Stramms. In: August Stramm: Sämtliche Gedichte. Samt einigen Vorstufen und lyrischen Fragmenten aus dem Nachlass. Kritisch erarbeitet, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Matthias C. Hänselmann. Passau: Ralf Schuster Verlag 2022, ISBN 978-3-940784-59-9, S. 21–49, hier S. 38–42.
↑Dazu Jörg Drews: Arno Schmidt und August Stramm. Beobachtungen zu den expressionistischen Stilelementen in den frühen Romanen, in: text + kritik, Heft 20/20a: Arno Schmidt, 3. Auflage, Mai 1977, S. 82–88.