Die Weißenhofsiedlung, das Bauhaus, das Neue Frankfurt, die weißen Stadthäuser in Paris von Le Corbusier und die De-Stijl-Bewegung in den Niederlanden gehörten zu den einflussreichsten Vorbildern der aufkommenden modernen Architektur. Im Jahr 1928 wurde die Vereinigung CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) gegründet, die diese Bauweise förderte, unterstützte und die theoretischen Grundlagen entwickelte für eine zeitgemäße Architektur und Städtebau unserer Zeit.
Der Name Weißenhof geht auf den Bäcker Georg Philipp Weiß zurück, der 1779 auf dem brachliegenden Gelände einen landwirtschaftlichen Betrieb (Meierei) errichtet hatte. Nach ihm sind die Siedlung und der Stuttgarter Stadtteil Weißenhof benannt.
Die Siedlung war Teil der 1927 vom Deutschen Werkbund initiierten Ausstellung „Die Wohnung“, die an verschiedenen Stellen Stuttgarts stattfand (Siedlungsbauten auf dem Weißenhofgelände, Hallenausstellung mit Firmenständen in der Gewerbehalle und deren Anbauten nahe dem Stadtgarten, Internationale Plan- und Modell-Ausstellung Neuer Baukunst in den Städtischen Ausstellungshallen auf dem Interimtheaterplatz beim Neuen Schloss). Sie gilt als eine der bedeutendsten Architektursiedlungen der Neuzeit.[1] In der kurzen Bauzeit von nur 21 Wochen entstanden 21 Häuser mit insgesamt 63 Wohnungen. Damit handelt es sich hier nicht um eine gewachsene Siedlung, sondern um das Resultat der Ausstellung „Die Wohnung“.
Der Stuttgarter Maler und Grafiker Willi Baumeister war an der Ausstellung als Typograf und Werbegrafiker beteiligt. Zu seinen umfangreichen Auftragsarbeiten gehörten unter anderem die Gestaltung der Werkbund-Denkschrift, des Amtlichen Katalogs, des Hauptplakats „Wie wohnen?“ sowie der Hallenbeschriftungen.[2]
Zeit des Nationalsozialismus
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Siedlung scharf kritisiert und abwertend als „Araberdorf“ bezeichnet. Bereits 1938 fand ein Architektenwettbewerb für einen Gebäudekomplex der Wehrmacht auf dem Gelände der Weißenhofsiedlung statt, an dem auch Paul Schmitthenner teilnahm. Für diese Planung, die den Komplettabriss der Siedlung vorsah, wurde sie 1939 an das Deutsche Reich verkauft und anschließend allen Mietern gekündigt. Abriss und Neubebauung wurden letztlich aber nicht realisiert.[3]
Nach dem Krieg wurden einige unzerstörte beziehungsweise nur leicht beschädigte Gebäude abgerissen, andere durch Satteldachaufbauten stark verfremdet.
1958 wurde die Siedlung unter Denkmalschutz gestellt. Vorausgegangen waren überregionale Proteste gegen den geplanten Abriss des Doppelhauses von Le Corbusier und Pierre Jeanneret. Von 1981 bis 1987 wurden die noch verbliebenen Gebäude von der Staatlichen Hochbauverwaltung mit Unterstützung der Stadt Stuttgart saniert und dabei äußerlich, in einigen Fällen auch im Innenraum, der Zustand von 1927 wiederhergestellt.[5]
Den Vorschlag der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, das benachbarte, Anfang der 1980er-Jahre zum Verkauf stehende Bauensemble, zumindest Teile daraus künftig als Unterrichts-, Atelier-, Bibliotheks- und Verwaltungsräume zu nutzen und aus dem entstehenden Campus eine Stätte internationaler Begegnung zu machen, lehnte jedoch das Land Baden-Württemberg – bei Befürwortung der Stadt Stuttgart – ab. Die Vorgänge um die Privatvermietung insbesondere der Corbusier-Häuser führten 1983 zum Protest der Kunstakademie, die Presse sprach gar von einem „Weißenhof-Skandal“.[6] Bereits im Dezember 1980[7] hatte Oberbürgermeister Manfred Rommel gegenüber dem Minister für Wissenschaft und Kunst, Helmut Engler, erklärt: „Die Akademie in der Weißenhofsiedlung unterzubringen, würde sicherlich zu einer städtebaulichen und kulturellen Bereicherung unserer Stadt beitragen“.[8] Der Projektvorschlag „Ergänzungen der 'Weissenhof-Siedlung' in Stuttgart“ des Schweizer Architekten und ehemaligen Le Corbusier-Mitarbeiters Alfred Roth aus dem Jahre 1981 ging mit der Akademie-Initiative völlig konform.
Die Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft mbH (SWSG) hat im Januar 2019 die Weißenhofsiedlung und die Beamtensiedlung von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) übernommen. Schon im Jahr 2004 hatten die Stadt Stuttgart und der Bund vereinbart, in Verhandlungen einzutreten, um eine der historischen und aktuellen Bedeutung der Weißenhofsiedlung angemessene Lösung zu finden. Nun sind 37 Gebäude mit 87 Wohnungen in städtischer Hand. Über den Kaufpreis haben beide Seiten Stillschweigen vereinbart.
Seit 2016 wird in der Stadtregion Stuttgart die Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBAʼ27) vorbereitet. 100 Jahre nach dem Aufbruch der Architekturmoderne am Stuttgarter Weißenhof sucht sie nach der Zukunft des Bauens und Zusammenlebens in städtischem und regionalem Kontext.[10]
E. (Erich) Blunck: Die Wohnung. Werkbund-Ausstellung in Stuttgart 1927. Betrachtung über ihre künstlerischen Ergebnisse. In: Deutsche Bauzeitung. Nr. 59, 61. Jahrgang, S. 489 ff., Berlin 1927 (23. Juli). Digitalisat: Schlesische Technische Universität (Gleiwitz).delibra.bg.polsl.pl, abgerufen am 3. Oktober 2019
Heinz Wetzel: Die Werkbund-Siedlung auf dem Weißenhof bei Stuttgart. In: Deutsche Bauzeitung. Nr. 76, 61. Jahrgang, S. 625 ff., Berlin 1927 (21. September). Digitalisat: Schlesische Technische Universität (Gleiwitz). delibra.bg.polsl.pl, abgerufen am 3. Oktober 2019.
Gustav Langen: „Neues Bauen“. Gedanken auf der Werkbundausstellung „Die Wohnung“, Stuttgart, zur Zeit der Tagung für wirtschaftliches Bauen. In: Deutsche Bauzeitung, Nrn. 88 und 89, 61. Jahrgang, S. 721 ff. und 734 ff., Berlin 1927 (2. und 5. November), Digitalisate: Schlesische Technische Universität (Gleiwitz). delibra.bg.polsl.pl und delibra.bg.polsl.pl, abgerufen am 3. Oktober 2019
Karin Kirsch: Die Weißenhofsiedlung. Bildband. DVA, München 1987, ISBN 3-421-02881-8.
Richard Pommer, Christian F. Otto: Weißenhof 1927 and the Modern Movement in Architecture. The University of Chicago Press, Chicago, Illinois 1991, ISBN 0-226-67515-7.
Die Weißenhofsiedlung. Briefe und Protokolle. DVA, München 1997, ISBN 3-421-03128-2.
Katrin Kirsch: Die Weißenhofsiedlung in Stuttgart und der Bund für Heimatschutz in Württemberg. In: Schwäbische Heimat. Bd. 54 (2003), Nr. 3, S. 307–314 doi:10.53458/sh.v54i3.6012.
Karin Kirsch: Weißenhofsiedlung. Kleiner Führer. Ein Denkmal der modernen Architektur. DVA, München 2006, ISBN 3-421-03543-1.
Manfred Ulmer, Jörg Kurz: Die Weißenhofsiedlung. Geschichte und Gegenwart. Hampp, Stuttgart 2006, ISBN 3-936682-05-4.
August Gebeßler: Denkmalpflege und Moderne in der Weißenhofsiedlung. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg. 37. Jg. 2008, Heft 1, S. 3 f. (PDF).
Valerie Hammerbacher, Anja Krämer: Die Weissenhofsiedlung – Ein gebautes Manifest der Moderne. Verlag Kunst und Reise, Bad Homburg 2008, ISBN 978-3-940825-05-6, Audio/Hörbuch, Audio-CD.
Ausstellungen
Die Weissenhofsiedlung in Stuttgart – ein gebautes Manifest der Moderne – 1992 geschaffene Dauerausstellung in der Villa Tugendhat (deutsch, tschechisch, englisch), 2012 für die Präsentation in Breslau durch das Amt für Stadtplanung und Stadterneuerung Stuttgart ergänzt.
↑Weissenhofmuseum im Haus Le Corbusier. Stuttgart 2014, S.74–76.
↑Weißenhofsiedlung in Stuttgart Häuser zum An- und Aufregen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. ISSN0174-4909 (faz.net [abgerufen am 11. März 2016]).
↑Weissenhofmuseum im Haus Le Corbusier. Stuttgart 2014, S.78–79.
↑Karl Diemer: Kennt die Vetternwirtschaft keine Grenzen? Stuttgarter Weißenhof-Skandal: Akademierektor Wolfgang Kermer droht mit Rücktritt. In: Stuttgarter Nachrichten, Nr. 109, 13. Mai 1983, S. 16. – Christian Marquart: Pistole auf die Brust: Stuttgarter Akademie: Rektor Kermers Rücktrittsgedanken. In: Stuttgarter Zeitung, Nr. 109, 13. Mai 1983, S. 14.
↑So exakt in: Wolfgang Kermer: Statement zur Eröffnung der Ausstellung „Weißenhof 1927–87“ am 6. Mai 1983. In: Ders., „1968“ und Akademiereform. Von den Studentenunruhen zur Neuorganisation der Stuttgarter Akademie in den siebziger Jahren. Ostfildern-Ruit: Cantz Verlag, 1998 (= Beiträge zur Geschichte der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, hg. von Wolfgang Kermer; 9) ISBN 3-89322-446-7, S. 102.
↑Wolfgang Kermer: Statement zur Eröffnung der Ausstellung „Weißenhof 1927–87“ am 6. Mai 1983. In: Ders., „1968“ und Akademiereform. Von den Studentenunruhen zur Neuorganisation der Stuttgarter Akademie in den siebziger Jahren. Ostfildern-Ruit: Cantz Verlag, 1998 (= Beiträge zur Geschichte der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, hg. von Wolfgang Kermer; 9) ISBN 3-89322-446-7, S. 102 f.