Myelin ist eine Biomembran, mit der die Axone der meisten Nervenzellen von Wirbeltieren umwickelt sind. Die so gebildete Myelinscheide erhöht die Geschwindigkeit der Erregungsleitung erheblich über die eines nackten Axons. Im Vergleich zu anderen Biomembranen weist Myelin einen besonders hohen Lipidgehalt (70 %) und einen relativ geringen Proteinanteil (30 %)[1] auf. Daher erscheint Myelin in der makroskopischen Sicht weiß, weshalb stark myelinisierte Regionen im Zentralnervensystem auch als „weiße Substanz“ bezeichnet werden, im Gegensatz zur gering myelinisierten „grauen Substanz“. Auch die schnell leitenden sensorischen und motorischen Axone des peripheren Nervensystems sind myelinisiert.
Myelin wird von Zellen gebildet: im Zentralnervensystem von Oligodendrozyten, im peripheren Nervensystem von Schwann-Zellen. Dass zentralnervöses Myelin von zellulären Fortsätzen der Oligodendrozyten gebildet wird, war lange umstritten und wurde erstmals 1962 von Mary Bartlett Bunge (1931–2024) und Richard P. Bunge (1932–1996) in elektronenmikroskopischen Aufnahmen gezeigt. Myelin wird häufig als ein spezielles Merkmal der Wirbeltiere angesehen. Allerdings besitzen einige wirbellose Tiergruppen funktionale und strukturelle Analogien.
2019 wurde in einer Studie nachgewiesen, dass durch glyphosathaltige Herbizide wie Roundup bei Zellkulturen von Altweltmäusen die Myelinhülle abgebaut und dessen Neubildung verhindert wird. Ursächlich hierfür scheint aber nicht Glyphosat selbst, sondern enthaltene Hilfsstoffe zu sein.[2][3]
Mäuse mit spezifischen Defekten in der Myelinisierung werden zur wissenschaftlichen Untersuchung dieses komplexen Vorgangs herangezogen. Dies ermöglicht ein besseres Verständnis der korrespondierenden menschlichen Erbkrankheiten, der Leukodystrophien.
Von historischem Interesse ist ein typisches Aufquellen des Myelins in Wasser unter Ausbildung wurmartiger Formen. Als weiteres wichtiges Merkmal entdeckte der Frankfurter Arzt Carl von Mettenheimer (1824–1898) im Jahre 1858 die optische Doppelbrechung des Myelins. Aus diesen Eigenschaften und aufgrund eigener Experimente folgerte der Karlsruher Physiker Otto Lehmann (1855–1922), der „Vater der Flüssigkristalle“, dass es sich beim Myelin um „flüssige Kristalle“ handelt, genauer: um lyotrope Flüssigkristalle, die sich in Verbindung mit einem Lösungsmittel, hier Wasser, bilden. Virchow hat also in der Tat erstmals einen Flüssigkristall beobachtet.[8][9]
Quellen
↑ abRenate Lüllmann-Rauch: Taschenlehrbuch Histologie. 3. Auflage. Thieme, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-13-129243-8, S. 189.
↑Fabian Szepanowski, Leon-Phillip Szepanowski, Anne K. Mausberg, Philipp Albrecht, Christoph Kleinschnitz, Bernd C. Kieseier, Mark Stettner: Differential impact of pure glyphosate and glyphosate-based herbicide in a model of peripheral nervous system myelination. In: Acta Neuropathologica. Band136, Nr.6, 16. November 2018, ISSN0001-6322, S.979–982, doi:10.1007/s00401-018-1938-4.
↑Daniela Albat: Schädigt Glyphosat die Nerven? Glyphosat-basierte Pflanzenschutzmittel fördern Abbau von Zellen des Nervensystems. In: scinexx.de. 3. Dezember 2018, abgerufen am 9. Juni 2019.
↑Eintrag zu Myelin. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 23. April 2021.
↑Klaus-Armin Nave, Hauke B. Werner: Myelination of the Nervous System: Mechanisms and Functions. In: Annual Review of Cell and Developmental Biology. Band30, Nr.1, 1. Januar 2014, S.503–533, doi:10.1146/annurev-cellbio-100913-013101.
↑R. Virchow: Über das ausgebreitete Vorkommen einer dem Nervenmark analogen Substanz in den tierischen Geweben. In: Virchows Arch. Pathol. Anat. 6, 1854, S. 562–572.
↑H.-R. Stegemeyer, H. Stegemeyer: Finally, I propose the medullary substance to be named Myelin. In: Dtsch. Med. Wochenschr. 129, 2004, S. 2784–2787.
↑Horst Stegemeyer, Hans-Roland Stegemeyer: Die scheinbar lebenden Flüssigkristalle. In: Nachr. Chem. 52, 2004, S. 903–908, doi:10.1002/nadc.20040520907.