Mizrachim, auch Mizrachen oder in eingedeutschter Schreibung Misrachim[1] bzw. Misrachen (hebräisch מִזְרָחִים, Plural von Mizrachi, deutschOrientale), in Israel auch als Adot ha-Mizrach („Gemeinden des Ostens, des Orients“) bezeichnet, ist der gebräuchliche hebräische Name für aus Asien und Afrika und besonders aus dem Nahen Osten stammende jüdische Bevölkerungsgruppen oder Personen, der sich inzwischen auch in anderssprachigen Literaturen durchsetzt.
Zu den Mizrachim zählen insbesondere die Juden der arabischen Welt und anderer muslimischer Länder wie die persischen, bucharischen, kurdischen Juden sowie die indischen Juden, die Bergjuden aus dem Kaukasus und die Juden aus Georgien. Zuweilen werden die Mizrachim als Sepharden bezeichnet, da sich Jahrhunderte lang sephardische mit orientalisch-jüdischen Siedlungsräumen überschnitten und zudem in Israel die mizrachischen Gemeinden dem sephardischen Oberrabbinat zugeordnet sind.
Die Bezeichnung „Mizrachim“ entspringt dem israelischen Sprachgebrauch. Vor der Errichtung des Staates Israel wurde sie in diesem Sinne, also für die orientalischen Juden, nicht verwendet, sondern war eine Selbstbezeichnung der Misrachi-Aktivisten, einer 1902 in Wilna von Isaac Jacob Reines gegründeten religiös-zionistischen Bewegung. Das israelische Zentralbüro für Statistik definiert Mizrachim als „aus Asien und Afrika stammende“ Jüdinnen und Juden.[2] Die jüdischen Bewohner Palästinas in präzionistischer Zeit waren überwiegend Mizrachim und Sepharden.
Viele Mizrachim identifizieren sich mit ihrem Geburtsland bzw. dem ihrer Vorfahren und nennen sich entsprechend – so die irakischen, marokkanischen, persischen Juden. In Israel nennen sie sich oft schlicht Irakis, Marokkaner, Perser etc. Hingegen ist die Bezeichnung als arabische Juden weniger gebräuchlich, und „jüdische Araber“ kommt fast gar nicht vor.
Die meisten der zahlreichen bedeutenden philosophischen, religiösen und literarischen Werke der Mizrachim im Mittelalter wurden auf Arabisch (mit einem an die arabische Phonetik angepassten hebräischen Alphabet) verfasst.
Je nach dem Grad ihrer Assimilation und Integration in die seit dem 19. Jahrhundert neu entstehenden Stadtviertel (außerhalb der traditionellen Judenviertel) und sozialen Schichten und damit in die nicht jüdischen Milieus der Umgebung sprachen sie auch die arabischen Mundarten der Bevölkerungsmehrheit bzw. Hocharabisch, Türkisch, Persisch etc. und mitunter, aufgrund der europäischen Präsenz in der Kolonialzeit, der Rolle des Französischen als internationale Bildungssprache und der Schulgründungen der Alliance Israélite Universelle auch Französisch und Englisch.
Auch das Hebräische spielte eine gewisse Rolle im Schrifttum und der Synagoge.
Die meisten Mizrachim verließen ihre überwiegend muslimisch geprägten Geburtsländer nach der Ausrufung des Staates Israel. Zionistische Abgesandte hatten zudem im Vorfeld durch gezielte Werbung, hebräische Sprachkurse und Ähnliches die bei den Mizrachim nur schwach ausgeprägte Bereitschaft verstärkt, die Heimat zu verlassen und sich dem zionistischen Projekt anzuschließen. Auswanderung z. B. aus dem Irak erfolgte eher nach Großbritannien, Indien, Persien, Südafrika etc. Doch antijüdische Maßnahmen arabischer Regierungen in den 1950er und 1960er Jahren, z. B. die Vertreibung von 25.000 Juden aus Ägypten in der Suez-Krise 1956, machten zahlreiche Mizrachim zu Flüchtlingen, von denen die meisten unkompliziert Zuflucht in Israel fanden. Im Irak hatten illegale zionistische Gruppen sich 1949 so weit organisiert, dass es gelang, monatlich rund 1000 Juden ins Ausland zu schmuggeln. In der Hoffnung, den Abfluss von Vermögenswerten aus dem Land zu stoppen, erließ die irakische Regierung im März 1950 ein Gesetz, das die Registrierung zur Emigration vorübergehend genehmigte. Nach anfänglichem Zögern beschloss die israelische Regierung, eine Luftbrücke einzurichten, über die in wenigen Monaten rund 100.000 Personen über den Iran und Zypern nach Israel ausgeflogen wurden. Die Bereitschaft zur Auswanderung wuchs aufgrund von Unruhen und mehreren Bombenanschlägen (u. a. auf die Masuda-Schemtob-Synagoge). Die Vermögen der Emigranten wurden eingefroren.
Im Jahr 2012 lebten noch mehr als 40.000 Mizrachim in Gemeinden der nicht-arabischen muslimischen Welt, hauptsächlich im Iran, aber auch in Usbekistan, Aserbaidschan und der Türkei.[3] Von den in der arabischen Welt Verbliebenen leben mehr als 5.000 in Marokko und weniger als 2.000 in Tunesien, in anderen Ländern jeweils weniger als 100. Gegenwärtig ist eine Auswanderung hauptsächlich nach Israel und in die USA zu verzeichnen. Die Angaben über die Situation der iranischen Juden sind widersprüchlich, da die islamisch ausgerichtete Regierung des Iran Christen und Juden als Angehörige einer „Buchreligion“ toleriert, diese aber auch als ideologische Gegner einschätzt. Während einheimische Juden von einem weitgehend friedlichen Miteinander der Religionen berichten, weisen israelische Quellen auf gelegentliche antisemitische Übergriffe hin.[4]
In den arabischen Ländern 1948–2008
Im Jahr 1948 existierten jüdische Gemeinden noch in der gesamten arabischen Welt. Die gesamte jüdische Bevölkerung umfasste etwa 758.000 bis 881.000 Personen (siehe Tabelle). Heute sind es weniger als 8.600. In einigen arabischen Staaten, wie etwa Libyen, gibt es praktisch keine Juden mehr; in anderen Ländern verbleiben noch einige Hundert.
Jüdische Bevölkerung der arabischen Länder: 1948, 1972, 2000 und 2008
Seit Ankunft von Mizrachim in Israel schien die Kluft zwischen ihnen und den aschkenasischen Juden hinsichtlich des religiösen und weltlichen Brauchtums, der Sprache und der historischen Erfahrung nahezu unüberbrückbar. Viele orientalische Juden hatten Verfolgung erstmals im 20. Jahrhundert in ihren Heimatländern als Folge der sich zuspitzenden Spannungen in Palästina vor und nach der israelischen Staatsgründung erlebt und waren emotional und kulturell immer noch tief in den Milieus ihrer Geburtsländer verwurzelt. Zudem kannten die meisten Hebräisch nur als Gebetssprache. Die aus Nordafrika kommenden Juden sprachen arabische Dialekte, die Muttersprache der iranischstämmigen war Persisch, die Bagdad-Juden aus China sprachen Englisch, die Grusinim Georgisch, weitere Sprachen waren Tadschikisch, Juhuri sowie zahlreiche weitere je nach Herkunftsland. Teilweise sprechen israelische Mizrachim noch heute in informellen Kontexten bevorzugt diese Sprachen.
Viele Mizrachim wurden in Israel anfangs in armselige, eilig errichtete Zeltstädte einquartiert und später zum Städtebau abkommandiert. Die Ansiedlung in Moschawim (Landwirtschaftskooperativen) scheiterte zumeist, da viele Mizrachim Handwerker und Kaufleute ohne landwirtschaftliche Erfahrung waren. Auch Angehörige der städtischen Eliten (Rechtsanwälte, Verwaltungsbeamte etc.) fanden in Israel kaum Arbeit in ihren angestammten Berufen. Kulturelles Wissen aus ihren Herkunftsländern wurde von den europäisch geprägten Institutionen in Israel kaum geschätzt.
Soziologen haben zahlreiche Faktoren ausgemacht, die die Integration der Orientalen beeinträchtigten und zu einem jahrzehntelangen Prozess machten, darunter insbesondere ihre Ausbildung in ihren Herkunftsländern, aber auch Rassismus und kulturelle Ablehnung seitens des aschkenasischen Establishments und der zuvor überwiegend europäischstämmigen Bevölkerung Israels. Dagegen bildete sich 1971 die Bewegung der Black Panthers,[19] deren Gründer der zweiten Generation mizrachischer Israelis angehörten. Generell tendierten die Mizrachim in dieser Zeit dazu, sich aus Enttäuschung von der von osteuropäischen Juden geprägten, seit der Staatsgründung regierenden Arbeitspartei ab- und dem national-konservativen Likud zuzuwenden; unter anderem dies bewirkte den Wahlsieg Menachem Begins im Jahr 1977.[20] Im selben Jahr wurden jedoch auch Vertreter der Black Panthers auf der kommunistischen Liste Demokratische Front für Frieden und Gleichheit[19] in die Knesset gewählt.
Inzwischen haben die verbreiteten Mischehen von Aschkenasim und Mizrachim in Israel sowie der allgemeine Gebrauch des Hebräischen so nachhaltig unter der jüngeren, der dritten Generation gewirkt, dass neue Einwanderungsgruppen aus anderen Ländern, etwa die äthiopischen und aus dem postsowjetischen Raum stammenden Juden, die Mizrachim heute oft für einen Teil des israelischen Establishments halten. Dennoch lag das Durchschnittseinkommen der Aschkenasim im Jahr 2004 noch um 36 Prozent höher als das der Mizrachim.[21]
In religiöser Hinsicht werden die Mizrachim in Israel zu den Sepharden gerechnet. Insbesondere die Schas-Partei versteht sich als Wahrerin sephardischer Ansprüche in der Politik. Neben den Aschkenasim stellen die Sepharden in Israel einen eigenen Oberrabbiner, der für die nicht-aschkenasischen Bevölkerungsgruppen zuständig ist.
Orit Bashkin: Impossible Exodus Iraqi Jews in Israel. Stanford University Press, Redwood 2017, ISBN 978-0-8047-9585-2.
Yfaat Weiss: Wadi Salib. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 6: Ta–Z. Metzler, Stuttgart/Weimar 2015, ISBN 978-3-476-02506-7, S. 315–319.
Omar Kamil: Die Wüstengeneration. Die „arabischen Juden“ in der zionistischen Ideologie von den Anfängen bis in die 1950er Jahre. In: Klaus-Gerd Giesen (Hrsg.): Ideologien in der Weltpolitik. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, S. 211–226 (Vorschau).
Ella Shohat: The Invention of the Mizrahim. In: Journal of Palestine Studies. Band 29, 1999, Nr. 1, S. 5–20, doi:10.2307/2676427, JSTOR:2676427.
Maurice M. Roumani: The Silent Refugees: Jews from Arab Countries. Mediterranean Quarterly 14 (2003), S. 41–77, doi:10.1215/10474552-14-3-41.
Lidia Averbukh: Israel auf dem Weg in den »Orient«? Mizrachische Juden gewinnen kulturell und politisch an Bedeutung. In: SWP-Aktuell. Nr. 16, März 2017 (PDF).
PersianRabbi.com Online-Forum für die persische jüdische Gemeinde
Iraqi Jews (יהודי עיראק – يهود العراق) Die irakische jüdische Gemeinschaft in New York
Einzelnachweise
↑Meir Amor, Chen Bram: Misrachim. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band4. J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2013, ISBN 978-3-476-02504-3, S.200–204.
↑ abcdefghijAryeh L. Avneri: The claim of dispossession: Jewish land-settlement and the Arabs, 1878-1948. Yad Tabenkin Institute, 1984, ISBN 0-87855-964-7, S.276.
↑Yemenite Jews {Note: On November 1, 2009, The Wall Street Journal reports in June 2009 that an estimated 350 Jews were left—of whom by October 2009–60 had immigrated to the United States and 100 were considering to leave}