Josephs Legende (bei der Pariser Uraufführung 1914 unter dem Titel La Légende de Joseph) ist eine „Handlung in einem Aufzug“ (Ballett) nach einem Libretto von Harry Graf Kessler und Hugo von Hofmannsthal. Die Musik schuf Richard Strauss (op. 63). Es ist die erste Ballettkomposition des Komponisten und neben Schlagobers (1924) die einzige.
Nach der Übersendung des Libretto-Entwurfs reagierte Strauss zunächst zustimmend:
«Joseph ist ausgezeichnet, wird verschluckt. Habe schon zu skizzieren angefangen.»
Kurze Zeit später aber äußerte er unmissverständlich:
«[...] der keusche Joseph selbst liegt mir nicht so recht und was mich mopst, dazu finde ich schwer Musik. So ein Joseph, der Gott sucht – dazu muß ich mich höllisch zwingen. Na, vielleicht liegt in irgendeiner atavistischen Blinddarmecke noch eine fromme Melodie – –.»
In der Rückschau stellte Strauss es folgendermaßen dar:
«Ich wollte mit Josephs Legende den Tanz erneuern. Den Tanz als Ausdruck des Dramatischen – aber nicht ausschließlich. Der reine Besitz des wirklich Nurgraziösen darf uns nicht verlorengehen, wie, ganz analog in der Musik neben dem Charakteristischen, Programmatischen und dem Elementaren nie die Linie des absolut Lieblichen zu kurz kommen darf.»[1]
Strauss übernahm für die Orchestrierung seine Prinzipien aus Elektra – eine Dreiteilung der Violinen, Heckelphon, vier Harfen und Celestas, Klavier und Orgel. Die Uraufführung fand am 14. Mai 1914 in Paris statt, sie wurde von den Ballets Russes auf der Bühne der Opéra dargeboten. Impresario war Sergei Diaghilev, als Choreograph und Schöpfer der Titelrolle war ursprünglich Vaclav Nijinsky vorgesehen – nach seiner Heirat wurde er schon vor der Probenarbeit ersetzt durch den Choreographen Michail Fokine und den 18-jährigen Léonide Massine. Die Sängerin Maria Kuznetsova hatte die pantomimische Rolle von Potiphars Weib übernommen. Die Kostüme stammten von Léon Bakst und Alexandre Benois, die Ausstattung von Josep Maria Sert. Die erste Inszenierung des Balletts war einem Gemälde von Paolo Veronese und der Aura eines Renaissance-Sujets nachempfunden. Strauss dirigierte die Premiere selbst und es kam zu sieben Aufführungen. Weitere sieben gab es dann im Theatre Royal Drury Lane London unter der Leitung von Sir Thomas Beecham. Wegen des drohenden Krieges hat Strauss sein Honorar von 6000 Francs nie erhalten. Nijinsky trat auch nach seiner Versöhnung mit Diaghilev in der Rolle des Joseph nicht auf.
Rezeptionsgeschichte
Josephs Legende war in seiner Rezeptionsgeschichte eher umstritten und erlangte nicht die Aufführungszahlen der Opern von Strauss. Die deutsche Erstaufführung (im Programmheft als Deutsche Uraufführung bezeichnet)[2] fand unter der Leitung des Komponisten erst am 4. Februar 1921 an der Berliner Staatsoper in der Inszenierung von Heinrich Kröller und der Ausstattung von Emil Pirchan statt. Die Titelrolle tanzte der 40-jährige Kröller selbst, die Potiphar gab Tilla Durieux. Die österreichische Erstaufführung fand, ebenfalls unter der Leitung des Komponisten, am 18. März 1922 an der Wiener Staatsoper in der Ausstattung von Alfred Roller und wieder in der Choreographie von Heinrich Kröller statt, der inzwischen nach Wien gewechselt war. Als Darstellerin der weiblichen Hauptrolle trat hier die Sopranistin Marie Gutheil-Schoder, als Joseph Willy Fränzl auf. Die Besprechung durch Julius Korngold in der Neuen Freien Presse[3] diskutiert eine Darstellung derartiger Inhalte im Genre des Ballett grundsätzlich und kommt zu einem negativen Resultat. Der Kritiker David Josef Bach in der Arbeiter-Zeitung beschreibt den Zwiespalt der Darstellung des vermeintlich Keuschen ironisch:
«Die szenischen Dichter Hofmannsthal und Keßler freilich scheuen das Wort Ballett oder Pantomime, wünschen keine andere Bezeichnung als Legende. Sie meinen es nämlich furchtbar keusch und heilig. Ohne Zweifel. Schade nur, daß, um diese Keuschheit auszudrücken, alle Lüsternheit und Perversität notwendig ist. Diese Josefslegende hat aus dem biblischen Josef, der sich von der liebebegierigen Frau Potiphar nicht verführen läßt, eine reichlich homosexuelle Angelegenheit gemacht. Zuerst Weiber untereinander, verschleiert, unverschleiert, regelmäßig in tiefster Wollust, dann Männer untereinander, nackt, halbnackt, schließlich Knaben mit ihrem Spielgefährten Josef, der ein beispielmäßig heiliger Tänzer ist. Er tanzt, als ein zum Verkauf ausgestellter Sklave, vor der hoffärtigen Potiphar wie David vor der Bundeslade, des Gottes voll, von den himmlischen Heerscharen beschützt. Das Verlangen der Frau Potiphar weist er befremdet, hoheitsvoll zurück. Wie denn nicht? Es liegt ihm sichtlich nichts am Weibe. Vielleicht steckt in dieser Abneigung, auch in der Furcht vor dem Weibe ein gut Teil dessen, was wir mit Recht beim Manne Keuschheit nennen; doch in der Legende ist diese Komponente ein bißchen stark betont. Dem Sexualempfinden der Abnormität entspricht auch die Umwandlung des Kerkers, in den der biblische Josef bis zu seiner Befreiung hinabgestoßen wird, in eine Folterszene mit Feuer und Eisen; daß dies unleugbar ein großer Theatereffekt ist, zeigt das Theater in seiner Funktion als Nervenpeitsche der modernen Gesellschaft. Ein Engel in silberner Rüstung befreit Josef und führt ihn den Seligkeiten eines weiberlosen Daseins zu.»[4]
Am Hof Potiphars findet ein festliches Mahl statt. Von Sklaven werden Geschenke gebracht, die von Potiphars Weib jedoch ignoriert werden. Sulamith tanzt, und Schau-Ringkämpfe finden statt. Negersklaven tragen den in einen Teppich gewickelten schlafenden Hirtenknaben Joseph herein. Dieser wird geweckt und veranschaulicht pantomimisch und mit teils ekstatischen Sprüngen seine Suche nach dem Weg zum Heil, außerdem gleichermaßen seine Unschuld. Mit seinem Gebaren weckt er das erotische Interesse von Potiphars Weib, das den Hofstaat fortschickt. Joseph träumt von seinem Schutzengel, wird aber von Potiphars Weib berührt und geküsst. Er hüllt sich in seinen Mantel, doch sie umarmt ihn mit Leidenschaft, bis er sich losreißt und entblößt vor ihr steht. Wachen überraschen das Paar und nehmen den Knaben in Gewahrsam, der auf Potiphars Befehl hin gefoltert werden soll. Die Erscheinung des zuvor bereits im Traum gesehenen Engels rettet Joseph, und seine Ketten fallen zu Boden, er vermag dem Engel zu folgen. Die Zurückgebliebenen stehen erstarrt, die Verführerin erdrosselt sich an ihrer Perlenkette.
Ilija Dürhammer: Geheime Botschaften: homoerotische Subkulturen im Schubert-Kreis, bei Hugo von Hofmannsthal und Thomas Bernhard. Böhlau, Wien-Köln-Weimar 2006, 282–288.
Andrea Amort: Auch Richard Strauss wollte den Tanz erneuern. Wie Choreograf Heinrich Kröller die Josephs Legende ab 1921 in Mitteleuropa durchsetzte. In: Worte klingen, Töne sprechen. Richard Strauss und die Oper. Hg. v. Christiane Mühlegger-Henhapel u. Alexandra Steiner-Strauss, Theatermuseum Wien: Holzhausen, 2015, S. 124–137. ISBN 978-3-902976-55-0
↑Inhaltsangabe von Leopold Schmidt: „Zu Ehren von Potiphars Weib wird in prunkvoller Säulenhalle ein Fest gefeiert. Ein Scheik bietet kostbare Geschenke feil: Juwelen und Teppiche, seltene Tiere und schöne Frauen, die einen Tanz der Wollust aufführen. Frau Potiphar, in der sich die übersättigte Lebensfreude der antiken Welt verkörpert, bleibt kalt und teilnahmslos. Ein wilder Faustkampf vollzieht sich vor ihren Augen: sie rührt sich nicht. Da wird Josef, der Hirtenknabe, in einem Teppich schlafend, hereingetragen. Sein Tanz drückt Unschuld und Reinheit und Gottessehnsucht und Gottesverehrung aus. Vom ersten Augenblick an ist die Herrscherin von seiner Erscheinung, deren Höheres sie ahnt, wie fasziniert, in ihren Gefühlen verwandelt. Sie berührt ihn lüstern und weicht doch scheu zurück. Nach verrauschtem Feste bleibt Josef allein zurück. Er betet und träumt, Potiphars Frau naht sich im Nachtgewande seiner Lagerstätte. Es läßt ihr keine Ruhe: sie muß das seltsam Neue, das in ihr Leben getreten, ergründen, muß es besitzen. Aber sie fühlt das Undurchdringliche seines für sie unbegreiflichen Wesens. Je leidenschaftlicher sie ihn begehrt, desto mehr wächst sein Widerstand. Unter ihrem Verlangen erwacht in Josef das Bewußtsein des Göttlichen; der Knabe wird zum Helden. Der Mantel fällt, in majestätischer Nacktheit steht er vor dem innerlich vernichteten Weibe, deren Liebesraserei die Scham in Haß und Verachtung wandelt. Ihre Dienerinnen tanzen einen Tanz des Entsetzens und Abscheus, der die Empfindungen der Herrin symbolisiert. Potiphar erscheint und überliefert den vermeintlichen Attentäter seinen Folterknechten; aber ein goldgepanzerter Erzengel entführt Josef den irdischen Bereichen in jene Höhen, deren Sphärenklänge er schon im Traum vernommen hatte. Frau Potiphar erdrosselt sich mit ihrer Perlenschnur.“