Henry James wuchs in einer wohlhabenden amerikanischen Familie auf. Sein Vater, Henry James Sr., war einer der angesehensten Intellektuellen in den Vereinigten Staaten, zu dessen Freunden und Bekannten Henry David Thoreau, Ralph Waldo Emerson und Nathaniel Hawthorne zählten. Von früher Jugend an wurde James mit den Klassikern britischer, amerikanischer, französischer und deutscher Literatur vertraut gemacht. In seiner Jugend bereiste Henry Jr. Europa und studierte in New York, London, Paris, Bologna, Bonn und Genf. Im Alter von neunzehn Jahren begann er ein Studium der Rechtswissenschaften an der Harvard Law School, stellte aber bald fest, dass ihm die Literatur näher lag.
Im Alter von zwanzig Jahren begann James, Beiträge für amerikanische Zeitschriften zu verfassen. Ein Jahr später veröffentlichte er seine erste KurzgeschichteA Tragedy of Errors. Von 1866 bis 1869 und von 1871 bis 1872 war er Mitarbeiter des Magazins The Atlantic Monthly und der Zeitung Nation. Seine erste ErzählungWatch and Ward erschien 1871 als Fortsetzungsgeschichte im Atlantic Monthly. James schrieb sie auf seiner Reise nach Venedig und Paris. Die Erzählung handelt von einem Junggesellen, der ein zwölfjähriges Mädchen adoptiert und später gar heiraten will.
Nachdem er eine Zeit lang in Paris gelebt und von dort aus diverse Artikel für die New York Tribune verfasst hatte, wurde er 1875 in England sesshaft und 1915 britischer Staatsbürger. Der Schock des beginnenden Ersten Weltkriegs hatte James dazu veranlasst, gegen die Nichteinmischungspolitik der USA zu protestieren. In England schrieb er unter anderem für The Yellow Book. Während seiner ersten Jahre in Europa porträtierte James hauptsächlich das Leben von Amerikanern in der Fremde, insbesondere in Europa. 1905 besuchte er zum ersten Mal seit 25 Jahren wieder sein Heimatland und schrieb Jolly Corner, das auf seinen Beobachtungen in und um New York basiert und die albtraumartige Geschichte eines Mannes erzählt, der nach langer Abwesenheit von New York in sein Vaterhaus zurückkehrt und dort sein ungelebtes Leben als Amerikaner in Form der Begegnung mit einem Doppelgänger erfährt.
Zwischen 1906 und 1910 überarbeitete er diverse Erzählungen und Geschichten für die „New York-Edition“ seiner gesammelten Werke, die 1911 bei Charles Scribner’s Son erschien. In den Jahren 1913 bis 1914 erschienen die ersten beiden Bände seiner Autobiographie, A Small Boy and Others sowie Notes of a Son and Brother. Der dritte Band erschien postum 1917. Henry James starb am 28. Februar 1916 im Alter von 72 Jahren, nachdem er kurz zuvor einen Herzanfall erlitten hatte.
James selbst bezeichnete sich als einen „sexuellen Selbstversorger“, zeitlebens hegte er viele enge Männerfreundschaften.[1]
In James’ vielschichtigem Werk spielt der Antagonismus zwischen der „Alten Welt“ Europa mit seiner langen kulturellen Tradition und der Naivität der „Neuen Welt“ Amerika eine wichtige, vielleicht sogar die zentrale Rolle.[3] Ein weiteres Charakteristikum seines Schaffens sind die psychologisch vielschichtigen und sorgfältig gezeichneten Frauenfiguren, wie beispielsweise in Portrait of a Lady.
Als besondere Vorbilder bezeichnete er Honoré de Balzac und George Eliot; über Balzac sagte er einmal, er habe von diesem mehr über das Schreiben gelernt als von irgendjemandem sonst. Das wahrscheinlich bekannteste Zitat über sein eigenes Schreiben stammt aus Die Kunst der Dichtung von 1885:
“A novel is in its broadest sense a personal, a direct impression of life: that, to begin with, constitutes its value, which is greater or less according to the intensity of the impression.”
– Henry James: The Art of Fiction, 1885
Einen maßgeblichen Einfluss auf das literarische Schaffen von Henry James hatte auch Johann Wolfgang von Goethe. James, der vorzüglich Deutsch sprach, beschäftigte sich seit seiner Studienzeit in Bonn ein Leben lang mit dessen Schriften und galt als ausgezeichneter Kenner der Werke Goethes. Vornehmlich Wilhelm Meister hatte für James eine bleibende Bedeutung in allen Schaffensperioden.[4]
Die äußerst detailreiche Schilderung des Innenlebens seiner Figuren lässt James als modernen Schriftsteller erscheinen. Er gilt als Meister der indirekten Charakterisierung und wurde unter anderem ein Vorbild für den Bewusstseinsstromstil („stream of consciousness“); besonders bekannte Beispiele dieser Technik finden sich in James Joyce’ Ulysses sowie in Manhattan Transfer von John Dos Passos.
Während Henry James in der angelsächsischen Welt geradezu als Kultautor galt, ist er im deutschen Sprachraum in den Hintergrund geraten. Eine kleinere James-Renaissance wurde nicht nur durch verschiedene verlegerische Aktivitäten (Manesse, Aufbau Verlag u. a.), sondern auch durch die vielfältigen Literaturverfilmungen hervorgerufen.
Werke
Insgesamt veröffentlichte James 20 Romane, 112 Novellen, zwölf Dramen sowie diverse Reisebücher und Literaturkritiken. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen
Watch and Ward, 1871
Roderick Hudson, 1875
The American, 1875 (dt. Der Amerikaner; Gesellschafts-Roman)
The Spoils of Poynton, 1897 (dt. Die Kostbarkeiten von Poynton, übers. von Nikolaus Stingl, mit einem Nachwort von Alexander Cammann. Manesse Verlag, Zürich 2017)
What Maisie Knew, 1897 (dt. Maisie in der Übersetzung von Hans Hennecke 1955; auch: Was Maisie wusste in der Übersetzung von Gottfried Röckelein 2016)[5]
The Turn of the Screw, 1898 (dt. je nach Übersetzung Das Durchdrehen der Schraube, Die Unschuldsengel, Das Geheimnis von Bly, Der letzte Dreh der Schraube oder Die Drehung der Schraube.) Es existiert hierzu auch eine gleichnamige Opernfassung von Benjamin Britten
Die Erbin von Washington Square. Roman. Aus d. Amerik. von Alfred Kuoni. Mit einem Nachwort von Dietmar Haack. Zürich: Die Arche 1956.
Die Europäer. Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1970. Neue Ausgabe mit einem Nachwort von Gustav Seibt. Übersetzt von Andrea Ott. Manesse Verlag, Zürich 2015. ISBN 978-3-7175-2388-8.
Die Flügel der Taube. Roman. Deutsch von Ana Maria Brock. Mit einem Nachwort von Utz Riese. Berlin, Weimar: Aufbau-Verl. 1991. ISBN 3-351-01685-9.
Der geisterhafte Mietzins (The Ghostly Rental). Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Heiko Postma. Jmb-Verlag, Hannover 2013. (Kabinett der Phantasten. Bd. 41). ISBN 978-3-944342-18-4.
Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren. Sechs Erzählungen zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt von Friedhelm Rathjen. Mit einem Nachwort von Maike Albath. Manesse Verlag, Zürich 2015. ISBN 978-3-7175-2306-2.[6]
Wie alles kam. Fünf Erzählungen zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt von Ingrid Rein. Mit einem Nachwort von Angela Schader. Manesse Verlag, München/Zürich 2012. ISBN 978-3-7175-2270-6.
Bild und Text. Herausgegeben von Michael Glasmeier und Alexander Roob, aus dem Englischen von Jan-Frederik Bandel und mit einem Nachwort von Alexander Roob. Piet Meyer Verlag, Bern/Wien 2016. ISBN 978-3-905799-35-4.
1978: Das grüne Zimmer(La chambre verte) – Regie: François Truffaut – Vorlage: Kurzgeschichten The Altar of the Dead, The Friend of Friends, The Beast in the Jungle
2020: Spuk in Bly Manor (The Haunting of Bly Manor), Fernsehserie – Regie: Mike Flanagan, Vorlage: The Turning of the Screw und weitere
Literatur
Gabriele Botta: Henry James’ Heldinnen. Fiktionale Gestaltung und pragmatische Ethik. Königshausen u. Neumann, Würzburg 1993 (= Epistemata; Reihe Literaturwissenschaft; 100), ISBN 3-88479-768-9.
Renate Brosch: Krisen des Sehens. Henry James und die Veränderung der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert. Stauffenburg, Tübingen 2000 (= Transatlantic perspectives; 11), ISBN 3-86057-341-1.
Peter Collister: The life of Henry James : a critical biography, Chichester, West Sussex : John Wiley & Sons Ltd, 2023, ISBN 978-1-119-48307-6
Victoria Coulson: Henry James, women and realism. Cambridge University Press, Cambridge 2007, ISBN 0-521-87981-7.
Andrew Cutting: Death in Henry James. Palgrave Macmillan, Basingstoke u. a. 2005, ISBN 978-1-4039-9336-6.
Peter Dettmering: Das Motiv des Eindringens bei Henry James. In: Psyche, Heft 12, 1976, S. 1057–1080.
Leon Edel: Henry James. A life. Harper u. Row, New York 1985, ISBN 0-06-015459-4.
Caroline Eliacheff, Nathalie Heinich: Mütter und Töchter. Ein Dreiecksverhältnis. Aus dem Französischen übersetzt von Horst Brühmann. Patmos, Düsseldorf 2004, ISBN 3-530-42175-8, S. 214 ff. über The Awkward Age.
Robert L. Gale: A Henry James encyclopedia. Greenwood Press, New York u. a. 1989, ISBN 0-313-25846-5.
Edgar F. Harden: A Henry James chronology. Palgrave Macmillan, Basingstoke u. a. 2005, ISBN 978-1-4039-4229-6.
Tilman Höss: Poe, James, Hitchcock. Die Rationalisierung der Kunst. Winter, Heidelberg 2003, (= American studies; 111), ISBN 3-8253-1611-4.
Evelyn Ann Hovanec: Henry James and Germany. Amsterdam 1979. ISBN 90-6203-902-2.
Mary J. Joseph: Suicide in Henry James's fiction. Lang, New York u. a. 1994. (= American university studies; Series 24, American literature; 50) ISBN 0-8204-2140-5.
John Kimmey: Henry James and London. The city in his fiction. Lang, New York u. a. 1991. (= American university studies; Series 4; English language and literature; 121) ISBN 0-8204-1359-3.
Frauke Lange: Gehalt und Form von Moralität bei Henry James. Lang, Frankfurt am Main u. a. 1996. (= Europäische Hochschulschriften; Reihe 14; Angelsächsische Sprache und Literatur; 319) ISBN 3-631-30704-7.
Roger Lüdeke: Wiederlesen. Revisionspraxis und Autorschaft bei Henry James. Stauffenburg, Tübingen 2002. (= ZAA studies; 14) ISBN 3-86057-743-3.
Jürg Meier: Emotions and narrative in Jane Austen and Henry James. Utz, Wiss., München 2003. (= Sprach- und Literaturwissenschaften; 16) ISBN 3-8316-0300-6.
Robert B. Pippin: Moral und Moderne. Die Welt von Henry James. Fink, Paderborn 2004. ISBN 3-7705-3786-6.
Adrian Poole: Henry James. Harvester, New York u. a. 1991. ISBN 0-7108-1311-2.
Ursula Schaefer: Die Darstellung von Kindheit und Adoleszenz bei Henry James. Lang, Frankfurt am Main u. a. 2001. (= Europäische Hochschulschriften; Reihe 14; Angelsächsische Sprache und Literatur; 385) ISBN 3-631-37912-9.
Jeremy Tambling: Henry James. Macmillan u. a., Basingstoke u. a. 2000. ISBN 0-333-68734-5.
Hazel Hutchison: Brief lives : Henry James, London : Hesperus, 2012, ISBN 978-1-84391-923-0.
Hazel Hutchison: Henry James : Biografie, Berlin : Parthas-Verl., 2015, ISBN 978-3-86964-097-6
Susan M. Griffin, Alan Nadel (Hg.): The Men Who Knew Too Much: Henry James and Alfred Hitchcock, New York : Oxford University Press, 2012, ISBN 978-0-19-976443-3.
↑Members: Henry James. American Academy of Arts and Letters, abgerufen am 5. April 2019.
↑Vgl. dazu in den Einzelheiten Gustav H. Blanke: Henry James als Schriftsteller zwischen Amerika und Europa. In: Franz H. Link (Hrsg.): Amerika · Vision und Wirklichkeit, Beiträge deutscher Forschung zur amerikanischen Literaturgeschichte. Athenäum Verlag, Frankfurt a. M. et al. 1968, S. 212–228.