Eidgenössische Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren»
Volksabstimmung
Stimmen in %
Ja
31,93
Nein
68,07
Die eidgenössische Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren», kurz Justiz-Initiative genannt, wurde am 26. August 2019 eingereicht. Die Initiative verlangte, dass die Richter des Bundesgerichts künftig durch das Los bestimmt werden sollen. Nach geltendem Recht geschieht das durch die Mitglieder der Vereinigten Bundesversammlung. Wer zum Losverfahren zugelassen worden wäre, hätte nach dem Initiativkomitee eine unabhängige Fachkommission entscheiden sollen.[1][2] Die Volksabstimmung fand am 28. November 2021 statt, wobei die Initiative abgelehnt wurde.
1 Die Mitglieder des Nationalrates und des Bundesrates sowie die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler werden auf die Dauer von vier Jahren gewählt. Die Amtsdauer der Richter des Bundesgerichts endet fünf Jahre nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters.
2 Die Vereinigte Bundesversammlung kann auf Antrag des Bundesrates mit einer Mehrheit der Stimmenden eine Richterin oder einen Richter des Bundesgerichts abberufen, wenn diese oder dieser:
a. Amtspflichten schwer verletzt hat; oder
b. die Fähigkeit, das Amt auszuüben, auf Dauer verloren hat.
Art. 168 Abs. 1
1 Die Bundesversammlung wählt die Mitglieder des Bundesrates, die Bundeskanzlerin oder den Bundeskanzler sowie den General.
Art. 188a Bestimmung der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts
1 Die Richterinnen und Richter des Bundesgerichts werden im Losverfahren bestimmt. Das Losverfahren ist so auszugestalten, dass die Amtssprachen im Bundesgericht angemessen vertreten sind.
2 Die Zulassung zum Losverfahren richtet sich ausschliesslich nach objektiven Kriterien der fachlichen und persönlichen Eignung für das Amt als Richterin oder Richter des Bundesgerichts.
3 Über die Zulassung zum Losverfahren entscheidet eine Fachkommission. Die Mitglieder der Fachkommission werden vom Bundesrat für eine einmalige Amtsdauer von zwölf Jahren gewählt. Sie sind in ihrer Tätigkeit von Behörden und politischen Organisationen unabhängig.
Art. 197 Ziff. 12
12. Übergangsbestimmung zu den Art. 145 (Amtsdauer), 168 Abs. 1 und 188a (Bestimmung der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts)
Ordentliche Richterinnen und Richter des Bundesgerichts, die bei Inkrafttreten der Artikel 145, 168 Absatz 1 und 188a im Amt sind, können noch bis zum Ende des Jahres, in dem sie das 68. Altersjahr vollenden, im Amt bleiben.[3]
Das Initiativkomitee besteht aus folgenden Personen:
Adrian Gasser, Initiator der Justiz-Initiative und Inhaber der Lorze-Gruppe
Karin Stadelmann, Dozentin und Projektleiterin
Nenad Stojanović, Politologe
Adrian Gasser, Student der Politikwissenschaft und Zivildienstleistender
Letizia A. Ineichen, Dozentin
Markus Schärli, Ökonom
Berat Pulaj, Mitarbeiter Sekretariat
Dieter Gasser, Bauingenieur ETH und Leiter eines Ingenieurbüros
Matthias Hiestand, Betriebsökonom FH und Unternehmenskundenberater bei einer Schweizer Bank
Ralf Bommeli, Dipl. Wirtschaftsprüfer
Pascal Voumard, Maschinenbau-Elektro-Techniker und Mitglied der Direktion[4]
Die Initiative wurde vom «Bund für Gerechtigkeit» lanciert, dessen Präsident Adrian Gasser (Initiant) ist.[5][6]
Argumente der Initianten
Das Initiativkomitee betont, die Gewaltenteilung sei eines der fundamentalen Prinzipien einer Demokratie, und der Umstand, dass die Bundesrichter einer politischen Partei angehören müssen und damit faktisch von Politik abhängig sind, sei unerwünscht, weshalb sie ein neues Wahlverfahren vorschlügen.
Das Losverfahren
Das Losverfahren funktioniert so, dass die intendierenden Bundesrichter keiner im Parlament vertretenen Partei angehören müssen, sondern von einer vom Bundesrat eingesetzten Fachkommission als qualifiziert erachtet werden, und man nach dem Bestehen dieser Evaluation zur Wahl zugelassen werden kann. Nach der Wahl wäre die einzige Möglichkeit, die Richter zu entlassen, ein Amtsenthebungsverfahren.[2] Das Losverfahren ist das Kernelement der Justiz-Initiative und beabsichtigt, die Unabhängigkeit der Bundesrichter von Parteien und Politik zu gewährleisten. Denn durch die Abhängigkeit von Parteien und Politik könne die Qualität leiden, da «unangenehme» Bundesrichter die Gefahr laufen, nicht mehr gewählt zu werden. Die durch diese permanente Bedrohung eingeschränkte richterliche Unabhängigkeit könne eben die bereits angesprochene Qualität der Urteile negativ beeinflussen. Zudem betont das Initiativkomitee das demokratische Element des Losverfahrens, da jede Bürgerin und jeder Bürger – sofern man von der Fachkommission als qualifiziert und geeignet erachtet wird – Bundesrichterin oder Bundesrichter werden kann. Dies sei vor allem für diejenigen Juristen wesentlich, welche sich der (politischen) Unabhängigkeit verpflichtet fühlen, weil diese im heutigen System gezwungen seien, sich einer Partei anzuschliessen. Des Weiteren verstärke die Abhängigkeit die Entrichtung eines Mandatsträgerbeitrags der Bundesrichter an ihre jeweilige Partei. Dieser kann mehrere Tausend Franken jährlich betragen. Und zudem werde jegliche Einflussnahme von Seiten der Parteien, Verwaltungen, Lobbyorganisationen usw. durch das Los verunmöglicht.[7] Das Losverfahren soll so ausgestaltet werden, dass die Amtssprachen im Bundesgericht angemessen vertreten sind.
Behandlung der Initiative
Zeitlicher Ablauf
Am 26. August 2019 wurde die Volksinitiative eingereicht.[8] Das Sammeln der Unterschriften durfte ab dem 15. Mai 2018 bis zum Ende der Sammelfrist, dem 15. November 2019, erfolgen.[9] Am 17. September 2019 verfügte die schweizerische Bundeskanzlei, dass die Initiative zustande gekommen sei, da die nötigen 100 000 Unterschriften aufgebracht wurden. Von den 130'304 eingereichten Unterschriften waren 130'100 gültig.[10] Am 18. Juni 2021 beschlossen Nationalrat und Ständerat, Volk und Ständen die Ablehnung der Initiative zu empfehlen.[11]
Stellungnahme des Bundesrates
Am 19. August 2020 beantragte der Bundesrat dem Parlament, die Justiz-Initiative zur Ablehnung zu empfehlen, denn er lehnt für Richterwahlen ein Losverfahren ab. Auch stört den Bundesrat, dass die Einsetzung der Richter auf dem Zufallsprinzip anstelle von demokratischer Wahl beruht. Dies sei ein Fremdkörper in der Schweizer Rechtsordnung, der die demokratische Legitimation des Bundesgerichts in der Bevölkerung schwäche.
Am 20. Juni 2021 entschied der Bundesrat schlussendlich, die Initiative am 28. November 2021 zur Abstimmung zu bringen.[12]
Beratungen im Nationalrat
Debatte 3. März 2021
Obschon noch keine materiellen Entscheide gefällt wurden, kristallisierte sich schon bei dieser Debatte heraus, dass die Mehrheit des Nationalrats keinen Handlungsbedarf sieht und die Initiative deutlich zur Ablehnung empfehlen will. Auch die Anträge der Ratslinken (SP), der Grünen und der Grünliberalen (GLP) für einen direkten oder indirekten Gegenentwurf stiessen bei den bürgerlichen (SVP, FDP, Mitte) Parteien auf wenig Sympathie. Denn auch wenn sie (SP, Grüne, GLP) die Initiative ablehnen, bringe sie diskutable Punkte auf, hielt Min Li Marti (SP/ZH) fest. Zudem betonte Sibel Arslan (Grüne/BS), dass man die Anliegen der Initianten berücksichtigen müsse, weswegen sie sich eben für einen Gegenentwurf positioniere.
Debatte 9. März 2021
Ein Rückweisungsantrag von Min Li Marti, der das Geschäft an die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats (RK-N) zurückweisen wollte mit dem Auftrag, einen indirekten Gegenentwurf auf Gesetzesstufe auszuarbeiten, wurde vom Nationalrat mit 99 zu 81 Stimmen bei einer Enthaltung abgelehnt. Auch zwei Vorschläge der SP und Grünen für einen direkten Gegenentwurf auf Verfassungsstufe wurden mit 102 zu 79 Stimmen bei drei Enthaltungen abgelehnt. Der eine Gegenentwurf wollte eine einmalige Amtszeit von 12 Jahren und die Möglichkeit der Abberufung während dieser Amtszeit wegen vorsätzlicher oder grobfahrlässiger Verletzung der Amtspflichten einführen; der zweite Gegenentwurf enthielt nur die Abberufungsklausel.
JustizministerinKarin Keller-Sutter (FDP) sah indes keinen unmittelbaren Handlungsbedarf und betonte, dass kleine Justierungen auch unter geltendem Recht möglich seien. Zudem stellte Gabriela Suter (SP/AG) die Grundsatzfrage, ob man einer Fachkommission so viel Macht geben will. Zwar sei der Parteienproporz nicht perfekt, jedoch um einiges geeigneter, um die Unabhängigkeit und Transparenz zu gewährleisten.
Doch sowohl Karin Keller-Sutter, welche die Position des Bundesrates vertrat, als auch mehrere Redner im Nationalrat konzedierten, dass es einen gewissen Handlungsbedarf gebe, etwa bei der nach geltendem Recht notwendigen Wiederwahl der Bundesrichter nach sechs Jahren im Amt.[13]
In der Schlussabstimmung vom 18. Juni 2021 stimmte der Nationalrat mit 191 Stimmen gegen eine Stimme bei vier Enthaltungen für die ablehnende Abstimmungsempfehlung.
Beratung im Ständerat
Am 10. Juni 2021 lehnte auch der Ständerat auf Antrag seiner Kommission für Rechtsfragen (RK-S) die Initiative ab. Die Argumente waren ähnliche wie in der grossen Kammer. Zum Beispiel sagte Andrea Caroni (FDP/AR): «Losen sollte man nur dort, wo man kein Entscheidkriterium hat». Ein Antrag für einen direkten Gegenentwurf wurde mit 26 zu 8 Stimmen abgelehnt. Dieser Gegenentwurf sah eine stille Wiederwahl nach Ablauf der sechsjährigen Amtsdauer vor, falls die zuständige Kommission nicht Antrag auf Nichtwiederwahl stellt.
In der Schlussabstimmung vom 18. Juni 2021 stimmte der Ständerat mit 44 zu 0 Stimmen für die ablehnende Abstimmungsempfehlung.[14]
Gegenargumente und Kritik
Der Bundesrat anerkennt die Mängel, die das derzeitige System im Bezug auf die Unabhängigkeit der Richter hat, doch findet er die Massnahmen, insbesondere das Losverfahren, nicht geeignet, die jetzt vorherrschenden Probleme zu beheben, da sie stattdessen neue Probleme schaffen. Er sagt, das Losverfahren bestimme nicht die Kandidatin oder den Kandidaten, der am besten geeignet ist, sondern den vom Los Begünstigten. Auch schwäche es die Stellung des Parlaments und der politischen Parteien sowie die demokratische Legitimation der Justiz und damit allenfalls die Akzeptanz der bundesgerichtlichen Urteile in der Bevölkerung. Zudem widerspreche es der Tradition, nach der in Bund und Kantonen das Volk oder das Parlament die Richter wählt und somit auch demokratisch legitimiert. Auch wäre es widersprüchlich, dass das Parlament die Richter zwar nicht mehr wählen, aber abwählen kann.
Ausserdem lasse die Initiative einige Fragen offen, und zwar, wie gross die Fachkommission sein sollte oder wie man sie zusammensetzen will. Auch werde im Initiativtext weder zur Ausgestaltung des Losverfahrens etwas gesagt, noch werde der Begriff der persönlichen Eignung (siehe Artikel 188a, Absatz 2) näher definiert. Auch würde die Vereinigte Bundesversammlung immer noch die Richter des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesstrafgerichts und des Bundespatentsgerichts wählen. Völlig offen sei zudem, wie man eine ausgewogene Zusammensetzung des Gerichts hinsichtlich regionaler Herkunft, politischer Grundhaltung und Geschlecht gewährleisten will.[15]
Parteiunabhängige Debatte
Dass nur Parteimitglieder als Bundesrichter gewählt werden, schränke den Kandidatenkreis stark ein, da nur etwa 10 Prozent der Bevölkerung sich als parteizugehörig definieren. Zudem hat die Antikorruptionsbehörde des Europarats (GRECO) die gegenwärtig in der Schweiz erhobene Mandatsteuer der Parteien kritisiert. Damit werde die Gewaltentrennung verletzt, weil die Richterinnen und Richter, die über die Einhaltung und Auslegung der Gesetze wachen, zum verlängerten Arm jener würden, die die Gesetze gemacht haben.[16]
Die gegenseitige Abhängigkeit von Justiz und Politik wird illustriert und darauf hingewiesen, dass die Gesamterneuerungswahlen des Bundesgerichts durch das Parlament alle sechs Jahre eine Schweizer Besonderheit sind. In den entsprechenden Kommentaren wird die Ablehnung dieser Initiative faktisch aller Parlamentarier und aller Parteien durch deren Machterhaltung und den Beiträgen der Mandatssteuern an die Parteikassen begründet.[17]
Katja Rost und Margit Osterloh als Gastautorinnen der Neuen Zürcher Zeitung sind der Auffassung, dass das durch die Initiative vorgeschlagene Verfahren den Weg zur Bestenauslese öffnen würde. Sie vertreten die Ansicht, dass Losverfahren ein hervorragendes Mittel sind, um Parteilichkeit und old boy networks zu verhindern und die Unabhängigkeit zu fördern. Dank einer Vorauswahl der Kandidierenden nach rein fachlichen und persönlichen Kriterien der Eignung unabhängig von einer Parteizugehörigkeit könnte grössere Unabhängigkeit von Interessen erreicht werden. Auch würde durch das fokussierte Losverfahren ein erhebliches Rekrutierungspotenzial freigesetzt, das im bisherigen Verfahren ungenutzt bleibt.[18]
In der offiziellen Abstimmungsbrochüre weisen die Initianten darauf hin, dass beim vorgesehenen Losverfahren vorerst nicht gewählte Kandidaten ohne Gesichtsverlust mehrmals an späteren Auslosungen teilnehmen könnten.
Positionen der Parteien
Die SP, die EVP, Die Mitte, die Grünen, die FDP, die glp, die SVP und die EDU haben die Nein-Parole zur Justiz-Initiative beschlossen.[19]
Bemerkungen: Angaben in Prozent. Das Datum bezeichnet den mittleren Zeitpunkt der Umfrage, nicht den Zeitpunkt der Publikation der Umfrage.
Abstimmung
Die Vorlage wurde am 28. November 2021 vom Volke mit 68,07 % Nein-Stimmen abgelehnt. Zudem lehnten auch die Stände die Initiative mit 20 6/2 Stimmen ab. Aussergewöhnlich war die sehr hohe Stimmbeteiligung, die jedoch auf das Referendum zum Covid-19-Gesetz zurückzuführen ist.
weblaw.ch, Podiumsdiskussion zum Thema Justizinitiative, 16. August 2021, mit Ständerat Dr. Andrea Caroni, Prof. Andreas Glaser, Dr. Mark Livschitz, Prof. Margit Osterloh, Moderation Stephan Klapproth
↑ abBundesamt für Justiz: Justiz-Initiative. In: bj.admin.ch.Bundesamt für Justiz, 12. September 2021, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 12. September 2021; abgerufen am 12. September 2021 (Schweizer Hochdeutsch).Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.ejpd.admin.ch
↑Bundesamt für Justiz: Justiz-Initiative. In: bj.admin.ch. Bundesamt für Justiz BJ, 30. Juni 2021, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 14. September 2021; abgerufen am 14. September 2021 (Schweizer Hochdeutsch).Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.bj.admin.ch
↑Zusammenfassung Botschaft / Bericht. In: Die Bundesversammlung - Das Schweizer Parlament. parlament.ch, abgerufen am 19. September 2021 (Schweizer Hochdeutsch).