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Unter christlicher Spiritualität versteht man spezifische Formen von Spiritualität im Kontext praktizierten Christseins. Im Mittelpunkt steht eine erfahrene oder angestrebte persönliche Beziehung des christlichen Gläubigen zu Gott bzw. zu Jesus Christus. Christliche Spiritualität beruht zunächst auf dem Neuen Testament und darauf aufbauend auf urchristlichem Erfahrungen, weist somit auch über die späteren konfessionellen Grenzen und Besonderheiten hinaus.[1]
In der christlichen Spiritualität wird individuelle Vervollkommnung als Gnade erlebt und lässt sich nicht durch Techniken erreichen. Christliche Spiritualität umfasst dabei nicht nur eine besondere Beschäftigung mit geistlichen Dingen, sondern drückt sich im Alltag aus. Gotteserfahrung und daraus erwachsendes bzw. dadurch inspiriertes Handeln (Ethik) gehören zusammen.
Christliche Spiritualität ist zunächst die Spiritualität des Neuen Testaments in der Auseinandersetzung mit dem Judentum, insbesondere mit dem Alten Testament. Hauptthema ist dabei das Verhältnis vom Alten Bund zum durch Jesus Christus besiegelten Neuen Bund. Während die Juden den ersten Messias noch erwarten, erwarten die Christen bereits dessen Wiederkunft am Ende der Zeit. Das Reich Gottes ist durch seine Inkarnation, seinen stellvertretenden Liebestod und seine Auferstehung bereits angebrochen. Ohne Tag und Stunde zu kennen, bereiten sich Christen auf den eigenen Tod und die allgemeine Apokalypse vor. Dabei ist die neutestamentliche Spiritualität selbst noch von einer größeren Naherwartung geprägt.
Exemplarisch für die Spiritualität der Urkirche – zwischen Welteroberung und Martyrium – steht die „Spiritualität der Katakomben“.[2] Sie ist im Bild des „Guten Hirten“ klar christozentrisch geprägt nach dem paulinischen Motto: „Was kann uns von der Liebe Christi trennen? Vielleicht Wirrsal und Angst, Verfolgung und Hunger?“ (Röm. 8,35 EU). Dennoch galt es, die Botschaft in dieser Verfolgungszeit zu verschleiern, das Kreuzsymbol in das Symbol des Ankers zu integrieren, das Bekenntnis „Jesus Christus, Sohn Gottes, unser Retter“ im Fischsymbol (Ichthys) auszudrücken. Taufe und Eucharistie sind in den Katakomben allgegenwärtig, dabei steht die soziale Dimension im Vordergrund, die Lebende wie Verstorbene in eine große Gebets- und Lebensgemeinschaft auffasst. Das eschatologische Bewusstsein, dass Christen hier keine bleibende Stätte und Heimat haben, sondern die zukünftige im Himmel suchen (Hebr. 13,14 EU; Phil. 3,20 EU), wird in der Verfolgungszeit besonders deutlich. Nicht zuletzt ist die Spiritualität der Katakomben eine „Spiritualität der Stille“.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte Vinzenz Pallotti eine Spiritualität der apostolischenBerufung eines jeden Menschen. Im Miteinander unterschiedlicher Berufungen und Lebensformen soll die Verantwortung für den apostolischen Auftrag gemeinsam wahrgenommen werden.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts kam es im Katholizismus und im Protestantismus zu einem „Erwachen der Kirche in der Seele“ (Romano Guardini), d. h. zur Suche nach einer gemeinschaftlichen, aber die Würde der Person achtenden Form der Mystik angesichts des kulturellen Kampfes zwischen Individualismus und Kollektivismus. Beispielsweise für Edith Stein, Dietrich Bonhoeffer und Alfred Delp endete das vehemente Vertreten der christlichen Spiritualität als ihre Form des Widerstands mit der Ermordung durch die Nationalsozialisten. Innerlichkeit in Religionen spielte global eine wichtigere Rolle, so auch im Christentum. In der Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften entwickelte sich das Selbstverständnis als "Religion", welches auch mit einer neuen innerlichen Spiritualität einherging, die sich unterscheidet von den vorherigen Verständnissen. Das ist eine globale Entwicklung, die sich so auch bspw. im Hinduismus und anderen Religionen wiederfinden lässt.[3]
Dies gab aber nach 1945 den Anstoß zu einer „Spiritualität nach Auschwitz“ und einer „Spiritualität der Befreiung“ – analog zu den jeweiligen theologischen und pastoralen Strömungen. Bei der 3. ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode 1974 stellte Bischof Germán Schmitz Sauerborn die lateinamerikanische Spiritualität vor, aus der die Theologie der Befreiung erwuchs: eine Spiritualität, die nicht beim „inneren“ geistlichen Leben stehen bleibt, sondern aus dem Heiligen Geist das Antlitz der Erde erneuern will (Ps 104,30 EU).[4]
Die spezifische Spiritualität der orthodoxen Christenheit weist hingegen über die Jahrhunderte hinweg Grundkonstanten auf, innerhalb derer nur wenige allgemeine Variationen existieren, weil sie sich an die Lehre der Kirchenväter gebunden fühlt.[5]
Am Ende des zweiten Jahrtausends wurde ein Wandel der christlichen Spiritualität angesichts der Konfrontation mit der Postmoderne zum Teil gefordert, zum Teil bereits konstatiert. Zunehmend werden Verbindungsmöglichkeiten zwischen Christlicher Spiritualität und anderen spirituellen Haltungen gesucht (Yoga, Zen, Enneagramm). Dabei ist nicht selten die Grenzziehung zwischen Mystik und Esoterik schwierig und umstritten.
Jakobus Kaffanke (Hrsg.): Zu den Quellen: die Spiritualität der Wüstenväter und des hl. Benedikt. Kath. Akad. der Erzdiözese Freiburg, Freiburg i. Br. 1997., (Tagungsberichte der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg 1997), ISBN 3-928698-14-1
Balthasar Fischer: Frömmigkeit der Kirche. Gesammelte Studien zur christlichen Spiritualität. Borengässer, Bonn 2000, ISBN 3-923946-48-1
Gordon Mursell: Die Geschichte der christlichen Spiritualität. Zweitausend Jahre in Ost und West. Berlin 2002, ISBN 3-7831-2102-7
↑Bergunder, Michael: Umkämpfte Historisierung. Die Zwillingsgeburt von "Religion" und "Esoterik" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das Programm einer globalen Religionsgeschichte. In: Hock, Klaus (Hrsg.): Wissen um Religion: Erkenntnis - Interesse. Epistemologie und Episteme in Religionswissenschaft und Interkultureller Theologie. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2020, S.130.
↑Intervention in der 12. Sitzung am 11. Oktober 1974, zitiert nach Latinamerica Press (englischsprachige Ausgabe der Noticias aliadas): Peruvuan Bishop stresses true meaning of liberation, 19. Dezember 1974, S. 7–9, hier S. 8.