1879, wenige Jahre nach Gründung des Deutschen Reiches, wurde das Oberappellationsgericht durch das reichseinheitliche Gerichtsverfassungsgesetz aufgehoben. An seine Stelle trat als Revisionsinstanz das aufgrund der Clausula Bavarica in § 8EGGVG und § 7EGZPO neu errichtete Bayerische Oberste Landesgericht.[2] Als im Jahr 1900 das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft trat und das Reichsgericht in Leipzig zur umfassenden Revisionsinstanz in streitigen Zivilsachen wurde (Art. 6EGBGB), übertrug der Gesetzgeber als Ausgleich die Revisionen in Strafsachen und die weiteren Beschwerden in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf das BayObLG[3] (vgl. § 9EGGVG, § 199FGG).
Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde der seit 1929 an dem Gericht tätige Richter Alfred Neumeyer mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wegen seiner jüdischen Herkunft aus dem Dienst entfernt. Unter dem damaligen Präsidenten Gustav Müller erarbeitete der Richter Johann David Sauerländer 1934 eine Beschlussvorlage, in der deutsche Richter zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufgerufen wurden. Allerdings verbrannte Müller diese vor der Veröffentlichung, da er das Vorhaben für zu gefährlich hielt.[4] Zum 1. April 1935 wurde das BayObLG durch die nationalsozialistischen Machthaber aufgelöst.[5]
Zum 1. Juli 1948 wurde es wiedererrichtet. Es war zuständig für Revisionen gegen erstinstanzliche Zivilurteile der Landgerichte, sofern deren Zuständigkeit ausschließlich war, und gegen Strafurteile der Schwurgerichte; außerdem für Vorlegungen von Revisionen und Beschwerden durch die Land- und Oberlandesgerichte, subsidiär für die Bestimmung des zuständigen Gerichts und als Oberstes Fideikomissgericht; angegliedert war der Gerichtshof für Kompetenzkonflikte.[6] Infolge der Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Errichtung des Bundesgerichtshofs[7] erfuhr die Zuständigkeit 1950 in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit wieder eine Erweiterung, in streitigen Zivilsachen (gemäß § 8 EGGVG neu) eine Beschränkung auf Landesrecht.[8] Es bestanden bis zu fünf Zivil-, sechs Straf- und drei Bußgeldsenate.[9]
Ministerpräsident Edmund Stoiber kündigte in seiner Regierungserklärung vom 6. November 2003 an, das Bayerische Oberste Landesgericht zur Kosteneinsparung abzuschaffen und dessen Aufgaben den drei in Bayern bestehenden Oberlandesgerichten zu übertragen. Dies geschah durch Beschluss des Landtags vom 20. Oktober 2004 zum 30. Juni 2006,[10] obwohl dagegen in der Fachwelt massive Einwände erhoben wurden. Die Verfahren, die bisher in die Zuständigkeit des Bayerischen Obersten Landesgerichts fielen, verteilten sich dann auf das Oberlandesgericht München (Zivil- und Strafsachen aus dem OLG-Bezirk München, Beschwerdeverfahren gegen Entscheidungen der Vergabekammern Nord- und Südbayern), das Oberlandesgericht Bamberg (Zivil- und Strafsachen aus dem OLG-Bezirk Bamberg und Rechtsbeschwerden nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten und dem Wirtschaftsstrafgesetz aus ganz Bayern) sowie auf das Oberlandesgericht Nürnberg (Zivil- und Strafsachen aus dem OLG-Bezirk Nürnberg). Die Zivilprozesse gingen in die Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs über. 2019 sollte ein Gesamteinsparvolumen von rund 1,2 Mio. EUR jährlich erreicht werden.[11]
In seiner Regierungserklärung vom 18. April 2018 kündigte Ministerpräsident Söder die Wiedererrichtung des Bayerischen Obersten Landesgerichtes mit Sitz in München und Außensenaten in Nürnberg und Bamberg an.[12][13] Der Landtag beschloss am 11. Juli 2018 ohne Gegenstimmen, das Gericht zum 15. September 2018 wieder einzurichten.[14] Am 17. September 2018 wurde Gerichtspräsident Hans-Joachim Heßler mit einem Festakt in der Münchner Residenz in sein neues Amt eingeführt. Mit Wirkung vom 16. Dezember 2018 wurde Manfred Götzl zum Vizepräsidenten ernannt.[15] Seit 1. Oktober 2021 ist Andrea Schmidt, vormals Präsidentin des Landgerichts München I, Präsidentin des Bayerischen Obersten Landesgerichts;[16][17]; Vizepräsident ist Paul Heinrichsmeier.[17]
Organisation und Besetzung
Beim Obersten Landesgericht bestehen drei Zivilsenate in München und sieben Strafsenate (1. und 2. in Bamberg, zugleich Bußgeldsenate; 3. und 4. in Nürnberg; 5., 6. und 7. in München).[18] Der Zivilsenat entscheidet in der Besetzung mit fünf, die Strafsenate in der Besetzung mit drei Richtern (§ 10 Abs. 2 EGGVG, §§ 122, 139GVG). Seit 1. Januar 2021 besteht auch ein Vergabesenat für Entscheidungen über die sofortige Beschwerde gegen Entscheidungen der Vergabekammer (§ 171 Abs. 1 und 2 GWB).
Weiter bestehen vier berufsgerichtliche Spruchkörper: die Strafsenate in Nürnberg als Landesberufsgericht für die Heilberufe (Art. 68 HKaG) und Landesberufsgericht nach dem Baukammerngesetz (Art. 28 BauKaG); in München zwei Senate für Steuerberater- und Steuerbevollmächtigtensachen (§ 59 GZVJu) und das Disziplinargericht für Notare (§ 2 NotV). Sie entscheiden in der Besetzung mit drei Berufs- und zwei ehrenamtlichen Richtern bzw. im Falle des erstinstanzlichen Disziplinargerichts für Notare mit zwei Richtern und einem Notar.
Der Präsident und ein Richter jedes Strafsenats bilden bei Bedarf den Großen Senat für Strafsachen; der Präsident und zwei Richter des Zivilsenats den Großen Senat für Zivilsachen (Art. 11 Abs. 2 AGGVG). Letzterer ist, solange nur ein Zivilsenat besteht, an sich obsolet, bildet aber bei Bedarf mit dem Großen Senat für Strafsachen die Vereinigten Großen Senate (§ 10 Abs. 1 EGGVG, § 132GVG).
18 richterliche Stellen waren im Mai 2019 besetzt:[18]
Präsident (Besoldungsgruppe R 8)
Vizepräsident (R 4)
eine Vorsitzende Richterin und vier Vorsitzende Richter (R 4)
fünf Richterinnen und sechs Richter (R 3).
Der Stellenplan weist gemäß Haushaltsnachtragsplan 2018 38 Stellen aus (Präsident, Vizepräsident, 11 Vorsitzende Richter, 25 Richter)[19], der Stellenplan 2022 sieht Präsident, Vizepräsident, 11 Vorsitzende Richter und 28 Richter vor (41 Stellen).[20]
über Rechtsbeschwerden gegen Entscheidungen der landgerichtlichen Strafvollstreckungs- und Jugendkammern in Strafvollzugssachen (§ 54a GZVJu, § 121 Abs. 3 Satz 1 GVG); zuständig sind die auswärtigen Strafsenate in Nürnberg (Art. 5 Abs. 3 Nr. 3 AGGVG).
Entscheidung über Beschwerden nach § 99 Abs. 3 Satz 2 des AktG
Entscheidung über Beschwerden nach § 27 des Einführungsgesetzes zum Aktiengesetz in Verbindung mit § 99 Abs. 3 Satz 2 des Aktiengesetzes
Entscheidung über Beschwerden nach § 189 Abs. 3 Satz 1 und § 191 Satz 1 VAG in Verbindung mit § 99 Abs. 3 Satz2 und § 132 Abs. 3 Satz 1 des Aktiengesetzes
Entscheidung über Beschwerden nach § 260 Abs. 3 Satz 1 des Aktiengesetzes in Verbindung mit § 99 Abs. 3 Satz 2 des Aktiengesetzes
Entscheidung über Beschwerden nach § 12 Abs. 1 SpruchG
Entscheidung über Beschwerden nach § 51b Satz 1 GmbHG in Verbindung mit § 132 Abs. 3 Satz 1 und § 99 Abs. 3 Satz 2 des Aktiengesetzes
Entscheidung über Beschwerden nach § 10 Abs. 4 UmwG und nach § 10 Abs. 1 Satz 3 UmwG in Verbindung mit § 318 Abs. 5 Satz 3 des Handelsgesetzbuchs, jeweils in Verbindung mit § 30 Abs. 2 Satz 2, § 36 Abs. 1 Satz 1, § 44 Satz 1, § 48 Satz 1, §§ 60, 81 Abs. 2, § 100 Satz 1 und § 125 UmwG, Seite 3
Entscheidung über Beschwerden nach § 10 Abs. 4 UmwG in Verbindung mit § 293c Abs. 2 und § 320 Abs. 3 Satz 3 des Aktiengesetzes sowie nach § 293c Abs. 1 Satz 5 und § 320 Abs. 3 Satz 3 des Aktiengesetzes in Verbindung mit § 318 Abs. 5 Satz 3 des Handelsgesetzbuchs
Entscheidung über Beschwerden nach § 10 Abs. 4 UmwG in Verbindung mit § 327c Abs. 2 Satz 4 und § 293c Abs. 2 des Aktiengesetzes und nach § 327c Abs. 2 Satz 4 in Verbindung mit § 293c Abs. 1 Satz 5 des Aktiengesetzes und § 318 Abs. 5 Satz 3 des Handelsgesetzbuchs
Entscheidung über Beschwerden nach § 5 Abs. 5 des Einführungsgesetzes zum Aktiengesetz in Verbindung mit § 12 Abs. 1 SpruchG
Entscheidung über Rechtssachen, für die nach § 57 Abs. 2 Satz 2, § 63 Abs. 4, §§ 83, 85 und 86GWB die Oberlandesgerichte zuständig sind
Mit einer Verordnung im November 2020 wurde dem BayObLG zum 1. Januar 2021 auch die Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen Entscheidungen der Vergabekammern übertragen.[24] Es wurde ein Vergabesenat beim BayObLG geschaffen:
Entscheidungen über die sofortige Beschwerde gegen Entscheidungen der Vergabekammer (§ 171 Abs. 1 und 2 GWB).
↑Ausführungsgeſetz zum Reichs-Gerichtsverfaſſungsgeſetze vom 23. Februar 1879 (GVBl, S. 273.), Art. 7, 42
↑Ausführungsgeſetz zum Bürgerlichen Geſetzbuche vom 9. Juni 1899, Art. 167 Ziff. XXII
↑Hannes Ludyga: „Wir sind Richter, nicht Götzendiener“. Johann David Sauerländer und das NS-Unrecht. In: Journal der Juristischen Zeitgeschichte. Band10, Nr.3, 1. Oktober 2016, ISSN1863-9984, S.99–108, doi:10.1515/jjzg-2016-0023 (degruyter.com [abgerufen am 5. September 2020]).
↑Verordnung über Änderungen des Gerichtsweſens in Bayern vom 19. März 1935 (RGBl. I S. 383.)
↑Gesetz Nr. 124 über die Wiedererrichtung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 11. Mai 1948 (GVBl, S. 83.)
↑Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, des bürgerlichen Rechts, des Strafverfahrens und des Kostenrechtsvom 12. September 1950 (BGBl, S. 455.)
↑Gesetz zur Änderung des Gesetzes Nr. 124 über die Wiedererrichtung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 11. Oktober 1950 (GVBl, S. 215.)
↑Gesetz zur Auflösung des Bayerischen Obersten Landesgerichts und der Staatsanwaltschaft bei diesem Gericht (Gerichtsauflösungsgesetz – BayObLGAuflG) vom 25. Oktober 2004 (GVBl, S. 400.); dazu Entscheidung des BayVerfGH vom 29. September 2005 (Vf. 3-VII-05 und Vf. 7-VIII-05)
↑ abBayerisches Oberstes Landesgericht. Wir begrüßen Sie auf der Internetseite des Bayerischen Obersten Landesgerichts in München. Bayerisches Staatsministerium der Justiz, abgerufen am 18. April 2024.