Barbarei und Zivilisation![]() Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga ist ein 1845 in Santiago de Chile erschienenes Buch, das bis zur ersten Auflage in Deutschland 2007 in vielen Sprachen verlegt wurde. Der Autor, der Argentinier und spätere Präsident Argentiniens Domingo Faustino Sarmiento, lebte dort im Exil. Der Originaltitel lautet: Facundo: Civilización i barbarie. Vida de Juan Facundo Quiroga, i aspecto físico, costumbres i hábitos de la República Arjentina. Das Werk gilt als Klassiker des lateinamerikanischen Liberalismus[1] oder auch als „ein Gründungsbuch der argentinischen Nation und ganz Lateinamerikas“.[2] Sarmiento favorisiert eine vor allem an Frankreich orientierte, von Buenos Aires ausgehende zentralistische Nationenbildung Argentiniens, indem er seine Zeitgenossen Juan Facundo Quiroga und Juan Manuel de Rosas, der ihn ins Exil zwang, des Verrats an der europäischen Zivilisierungsmission bezichtigt, weil sie den ländlichen Raum – die „Barbarei“ – gegen die städtische Zivilisation, für die das europäische Buenos Aires steht, ausspielen. InhaltDas Buch erschien 1845 zunächst in etlichen Folgen in der chilenischen Tageszeitung El Progreso, bevor es dort als Buch gedruckt wurde. Sarmiento fasste es innerhalb von zwei Monaten als „politisches Fanal gegen die damals herrschende Diktatur des Juan Manuel Rosas“ ab.[3] Es ist sowohl eine Biografie Juan Facundo Quirogas, der als Vorläufer von Rosas gesehen wird, wie auch eine Analyse der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung Argentiniens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. EinführungSarmiento misst sich an Alexis de Tocqueville und dessen Werk Über die Demokratie in Amerika (1835/1840), weil er es für unabdingbar hält, dass Argentinien einen Forschungsreisenden verdiente, der sich dem Land „ausgerüstet mit Gesellschaftstheorien“ nähert und vor allen Dingen „den Europäern und namentlich den Franzosen“ die Daseinsform der Argentinischen Republik vor Augen führte (S. 11). Sein Ziel ist, dafür zu arbeiten, Argentinien der europäischen Einwanderung zu erschließen. Für ihn gibt es kein amerikanisches Volk wie das argentinische, das berufen wäre, „unverzüglich die Bevölkerung Europas aufzunehmen, das überläuft wie ein volles Glas“, und zwar deshalb, weil er in Amerika eine „menschenleere Welt“ sieht (S. 16). Facundo Quiroga steht deshalb im Mittelpunkt seines Interesses, weil er in ihm eine Verkörperung der beiden Tendenzen sieht, die Argentinien spalten. Er gilt ihm nicht als ein Zufallscharakter, sondern als ein Ergebnis argentinischer Lebensart, wie sie sich durch die Kolonisation gebildet habe und die in der Gestalt des Caudillo in dieser gesellschaftlichen Phase ihren Spiegel finde (S. 19), aber zu überwinden sei. Erstes bis viertes KapitelDiese Kapitel umreißen den Zustand des Landes und geben einen Abriss des historischen Hintergrundes, vor dem eine Gestalt wie Facundo Quiroga in den Augen Sarmientos zu verstehen ist. Sie umfassen die Jahre von der Mai-Revolution im Jahre 1810, dem Gründungsdatum der argentinischen Nation, und die auf sie folgenden bürgerkriegsähnlichen Kämpfe bis 1840. Kapitel 5 bis 13![]() Diese Kapitel beinhalten die Lebensbeschreibung des Juan Facundo Quiroga von seiner Kindheit bis zu seiner Ermordung. Als Einstieg dient dem Autor eine Geschichte, in der Facundo Quiroga zunächst einem Jaguar ausgesetzt ist, ihn aber in Gesellschaft eines Freundes mit Lasso und Messer zur Strecke bringt, was ihm zu dem Beinamen „Tigre de Los Llanos“ verholfen habe (S. 95–96). Sein von Haargestrüpp überwuchertes Gesicht und „seine schwarzen, feurigen, von buschigen Wimpern überschatteten Augen flößten demjenigen, auf den sie sich zufällig hefteten, ein unwillkürliches Grauen ein“ (S. 96).
1788 in der Provinz La Rioja geboren, habe sich Facundo Quirogas „überheblicher, schroffer, ungeselliger“ und zur Aufsässigkeit neigender Charakter schon in der Schule gezeigt (S. 97). In der Pubertät habe sich eine Spielleidenschaft seiner bemächtigt, die seine vermögenden Viehzüchtereltern dazu gebracht hätte, sich von ihm zu trennen, so dass er seinen Lebensunterhalt als Peon verdienen musste. Immer wieder sei er dadurch aufgefallen, dass er missliebigen Menschen seines Umfeldes Hunderte von Peitschenhieben verabreichte oder verabreichen ließ. 1810 sei er als Rekrut in Buenos Aires eingezogen worden, habe sich aber dem Kasernenleben nicht fügen können und sei in seine Heimat zurückgekehrt. „Er fühlte sich berufen, zu kommandieren, schlagartig aufzutauchen und ganz allein, der zivilisierten Gesellschaft zum Trotz und als ihr Feind, sich eine Laufbahn nach seinem Geschmack zu schaffen, die Tapferkeit mit dem Verbrechen verbindend, die Ordnung mit der Zerrüttung“ (S. 101).
Der von Sarmiento bewunderte Bernardino Rivadavia, die Verkörperung eines „poetischen, großartigen, die ganze Gesellschaft beherrschenden Geistes“ und der Ideale der Mai-Revolution, muss sein Werk den Händen von Caudillos überlassen, die alles Angefangene in die Barbarei zurückführen:
In Facundo Quiroga sieht Sarmiento den Gegenspieler Rivadavias. Strebte Rivadavia eine von Buenos Aires ausgehende zentralisierte Republik an, so wurde Facundo Quiroga Repräsentant der auf ihre Unabhängigkeit bedachten, föderalistisch orientierten Provinzen, und die föderalistische Partei wurde Bindeglied zur willkürlichen Barbarei (S. 143), die sich in Gestalt von Rosas auch Buenos Aires’ bemächtigte. So vollzog sich nach Sarmiento ebenfalls ein Einheitswerk, als führe die Vorsehung Regie, obwohl nur ein gaucho malo „von einer Provinz zur anderen zog, Lehmwände baute und Messerstiche austeilte“ (S. 144[8]). Quiroga siegte zunächst über die unitarischen Truppen und deren Anführer Gregorio Aráoz de La Madrid, musste sich gegenüber José Maria Paz, der nach den Regeln europäischer Kriegskunst focht (S. 195), aber geschlagen geben. Er ging nach Buenos Aires und kooperierte ab 1830 mit Rosas. 1831 besiegte er als Anführer des föderalistischen Heeres erneut die unitarischen Truppen und zog dann mit Rosas zu einer „umfassenden Treibjagd“ auf die Indianer an die „frontier“ in den Südprovinzen.[9] Diese Expedition brachte Rosas den Titel „Héroe del Desierto“ (= „Held der Wüste“) ein. Sarmiento bestreitet jedoch die Berechtigung dieses Titels und den Erfolg des Unternehmens, weil die beiden Caudillos nur einen „kriegerischen Spaziergang“ unternommen und einige vernachlässigenswerte Indianerzelte niedergerissen hätten, anstatt mit den „unbezähmbaren Barbarenstämmen“ und den von ihnen angerichteten Verheerungen Schluss zu machen (S. 238 f.). ![]() 1835 wurde Facundo Quiroga zu einer Friedensmission nach Córdoba geschickt, mutmaßte aber, dass ihm und seiner Kutsche ein Reiterkurier vorausgeschickt worden war, der als Bindeglied zu einem Mordkomplott dienen würde. Als sich die Unheilsvorzeichen verdichteten, behielt Facundo Quiroga seine Ruhe, geriet aber in einen Hinterhalt und wurde von einem bekannten Montonera-Gaucho erschossen. Rosas ließ ihn und seine Helfer suchen und in Buenos Aires hinrichten. Sarmiento gibt aber zu verstehen, dass er Rosas für den Auftraggeber des Mordes an Facundo Quiroga hält (S. 256). Kapitel 14 und 15Kapitel 14 enthält eine Abrechnung mit Rosas und seinen diktatorischen Methoden. Sarmiento vergleicht ihn wegen seines betonten Unabhängigkeitsbestrebens gegenüber Europa mit Muhammad Ali Pascha und Abd el-Kader (S. 286), womit er gleichzeitig seine Herrschaftsmethoden im Inneren als barbarisch ausgibt.[10] Für Sarmiento stützte sich die Herrschaft Rosas’ auf seine Geheimpolizei, die mazorca, deren Hinrichtungsmethode im Abkehlen bestand, wie auch das Abkehlen zur öffentlichen Hinrichtungsart geworden war (S. 271). Darüber hinaus hatte er eine Methode entwickeln lassen, die Gesinnungen der Bevölkerung statistisch zu erfassen, „sie nach ihrer Wichtigkeit zu kennzeichnen und mit Hilfe dieses Verzeichnisses zehn Jahre lang der Aufgabe nachzugehen, sich aller widersetzlichen Elemente zu entledigen“ (S. 267). Seine loyalsten Stützen habe er in der schwarzen Bevölkerung von Buenos Aires gefunden, „Tausende ehemaliger Sklaven“, deren männlicher Teil „glücklicherweise“ durch die ständigen Kriege „mittlerweile schon ausgelöscht“ sei.[11] Zur Einschüchterung der Landbevölkerung habe er im Süden einige wilde Indianerstämme angesiedelt, deren Häuptlinge ihm ergeben gewesen seien (S. 281–283). Das Schlusskapitel mit der Überschrift „Gegenwart und Zukunft“ entwirft ein zuversichtliches Bild von den jungen Kräften des Landes, die im Ausland, vor allem in Frankreich, aber auch in Chile, Brasilien, Nordamerika und England, studieren und bei ihrer Rückkehr einen Aufschwung in Gang setzen werden. Dazu seien Gesellschaften zu gründen, um europäische Bevölkerung anzuwerben und im Lande anzusiedeln, damit in zwanzig Jahren das geschehe, „was in Nordamerika in gleicher Zeitspanne geschehen ist: wie durch Zauberhand sind dort Städte, Provinzen und Staaten aus den Wüsten auferstanden, wo kurz zuvor noch wilde Bisonherden grasten“ (S. 311 f.).
RezeptionBerthold Zilly als Übersetzer und Kommentator hebt in seinem Nachwort hervor, dass das Buch zu Lebzeiten Sarmientos ins Französische (1853), Englische (1868) und Italienische (1881) übersetzt worden sei. Auszüge wurden 1848 in einer Schrift für Auswanderer auf Deutsch veröffentlicht. Besondere Bedeutung hatte für Sarmiento das französische Publikum, das bereits 1846 und in einer zweiten Folge 1852 in der Revue des Deux Mondes mit kommentierten Teilen vertraut gemacht wurde. Darüber hinaus erschienen 1850 und 1851 einige Kapitel in Paris.[12] Zilly stellt fest, dass die Texte, die vom Facundo angeregt worden seien oder in Dialog mit ihm treten, zahllos seien. Nachwirkungen zeigen sich etwa bei Euclides da Cunha, Ezequiel Martínez Estrada, Octavio Paz, José Mármol, Rómulo Gallegos, Alejo Carpentier, Augusto Roa Bastos, Gabriel García Márquez oder Mario Vargas Llosa.[13] Die ganze Nation habe bei Sarmientos Tod 1888 getrauert. Auf dem Friedhof La Recoleta ruhe er „in friedlicher Nähe zu seinen innig gehassten Feinden Juan Facundo Quiroga und Juan Manuel Rosas, heute auch unweit Eva Peróns. Zahlreiche Huldigungstafeln von Bildungsinstitutionen und Hochschülergruppen an Sarmientos Grabmal bezeugen seine ungebrochene Popularität als Autor des ‚Facundo‘ und als Lehrer der Nation“.[14] Auch bei César Aira wirkt Sarmientos Erbe fort, wenn er in seinem Roman Die Mestizin (1978/1981) ein gegenteiliges Bild zu Sarmientos Vorstellungen entwirft. Es sind bei ihm nämlich die Indianer, die jenseits der südwestlichen argentinischen Grenze in einer hochkomplexen Zivilisation leben, der gegenüber die argentinische Seite im noch nicht kolonisierten Grenzland mit Soldaten, die vorwiegend Zwangsrekrutierte sind oder Strafgefangene waren, als barbarisch erscheint. Anlässlich des 200. Jahrestages der Mai-Revolution 2010 und des Geburtstags Argentiniens als Nationalstaat gab es erneut Anlass, sich mit Sarmiento auseinanderzusetzen. In einer Fernsehsendung am 6. Mai 2010 äußerte sich José Pablo Feinmann folgendermaßen über das Erbe des Facundo:
Literatur
Einzelnachweise
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