Grundriss des Sitterviadukts und des Kraftwerkgebäudes
Beschreibung
Der Viadukt besteht aus zwei Vorlandbrücken aus Steingewölben und einem dazwischen liegenden 120 Meter langen stählernen genieteten Einzelfachwerkträger mit einem nach unten gewölbten, maximal 12,5 Meter hohen Halbparabelträger (Fischbauchträger). Der Fachwerkträger ist bis heute der am weitesten gespannte Träger einer schweizerischen Eisenbahnbrücke. Die Brücke liegt in ihrer gesamten Länge in einer Steigung von 16 Promille. Auf der Seite Herisau folgen dem eisernen Zwischenträger zwei gemauerte Bogen mit Öffnungen von 25 Metern und fünf Bogen von 12 Metern, die sich in einer Kurve von 350 Metern Radius befinden. Auf Seite St. Gallen sind es in einer Kurve von 1000 Metern Radius vier Bogen mit 25 Metern Weite. Alle Pfeilerfundamente konnten auf Nagelfluh abgesetzt werden. Der unmittelbar neben dem Kubelkraftwerk erbaute Pfeiler gilt mit 93 Metern Höhe als höchstes Bauwerk der Stadt St. Gallen. Am beweglichen Auflager auf Seite Herisau ist das Gleis mit einer Dilatationsvorrichtung versehen, die eine Ausdehnung des Fachwerkträgers von 140 Millimetern erlaubt.
Die ursprünglich geplante gerade Linienführung musste wegen Einsprache des Elektrizitätswerks Kubel aufgegeben werden, wodurch südwestlich des Viadukts zusätzlich der Bau des 247 Meter langen Sturzeneggtunnels notwendig wurde. Die Überbrückung des Sittertobels sprengte den üblichen Rahmen einer Privatbahn. Für das Vorhaben wurden drei unterschiedliche Projekte ausgearbeitet:
Eine stählerne Kragträgerbrücke mit zwei Endöffnungen von 98 Metern Weite und einer Mittelöffnung von 147 Metern.
Eine Steinbogenbrücke mit einem Hauptbogen von 121,35 Metern und beidseits anschliessenden Gewölben von 25 und 12 Metern Spannweite.
Eine Brücke mit stählernem Halbparabel-Fischbauchträger von 120 Metern Spannweite und anschliessenden Gewölben von 25 und 12 Metern Spannweite.
Die Wahl fiel den Verantwortlichen nicht leicht. Die beiden ersten Projekte hätten grosse Mehrkosten verursacht. Beim zweiten Projekt tauchten zudem Bedenken wegen der grossen Spannweite des Hauptbogens auf. So wurde das Projekt mit stählernem Fachwerkträger und anschliessenden Gewölben realisiert. Wegen Dammrutschungen südwestlich des Viadukts musste das Bauwerk um zwei Bogen von je 12 Metern Spannweite erweitert werden. Die Brücke kostete die damals stolze Summe von 1,55 Millionen Franken.
Bau
Das Material für den Bau der Brücke wurde mit einer Feldbahn vom Güterbahnhof St. Gallen zum östlichen Brückenkopf gebracht. Die Steingewölbebrücken mit 26'000 m³ Mauerwerk wurden auf damals herkömmliche Art mittels zweier talüberspannender Materialseilbahnen und weiterer Seilbahnen erstellt. Die Arbeiten wurden erschwert durch die Gebäude des Kubelkraftwerks und durch die nachträgliche Verlängerung des Viaduktes auf Seite Herisau.
Die Pfeiler und Stirnmauern bestehen aus Schrattenkalk aus Hohenems. Für das Innere der Brücke verwendete man Sandstein aus Staad und Wienacht. Sand und Kies wurden in der Urnäsch und Sitter direkt gewonnen und mit zwei Steinbrechern verarbeitet. Für das Ausmauern der Gewölbe mit Kalksandstein aus Regensberg wurden Lehrgerüste erstellt, die sich beidseits auf in die Pfeiler eingemauerte stählerne Träger abstützten. Die beiden an den stählernen Fachwerkträger anschliessenden Gewölbe wurden als Dreigelenkbogen mit zwei Kämpfer- und einem Scheitelgelenk ausgebildet, um Risse im Mauerwerk zu vermeiden.
Für den Einbau des 920 Tonnen schweren Fachwerkträgers erstellte der bekannte Zimmermeister Richard Coray in der Brückenmitte vom Sommer 1908 bis Frühling 1909 einen hölzernen Gerüstturm mit einer Gesamthöhe von 97,15 Metern. Im Turm war ein Lift für zehn bis zwölf Personen mit einer Förderhöhe von 78,5 Metern. Die Ausmasse des Gerüstturms waren imposant. Für seinen Bau wurden 1650 m³ Holz verwendet, und er erreichte ein Gewicht von nahezu 1400 Tonnen. Im November 1909 widerstand der Gerüstturm und die Brücke orkanartigen Herbststürmen.
Im Herbst 1909 begann die Bell Maschinenfabrik in Schwindel erregender Höhe mit der Montage des Fachwerkträgers. Die Flusseisenplatten nietete man mit vorbereiteten rotglühenden Nieten zusammen. Sobald der stählerne Zwischenträger fertiggestellt war, setzte man ihn auf die Hauptpfeiler ab. Er liegt auf vier Granitquadern von je 13,5 Tonnen Einzelgewicht. Sein Absetzen und Einpassen auf die Widerlager in luftiger Höhe erforderte ausgeklügelte, mutige und präzise Ingenieursarbeit.
Blick vom Widerlager Seite Herisau zu Beginn der Bauarbeiten am 5. Mai 1908
Errichtung eines Pfeilers im Juli 1908. Die Steine werden mit Hilfe eines Lastenzugs transportiert.
Elektrische Antriebsstationen der beiden über das Sittertobel führenden Materialseilbahnen.
Eine Güterlore der Materialseilbahn auf der Seite Herisau.
Stand der Arbeiten im August 1909, Über das Sittertobel führen zwei etwa 450 Meter lange Materialseilbahnen.
Stand der Arbeiten im Oktober 1909 an den Pfeilern auf der Seite Herisau.
Im Januar 1910 wurde auf dem Gerüst der 120 Meter lange und 920 Tonnen schwere stählerne Mittelteil montiert.
Nietarbeiten am stählernen Mittelteil auf nahezu 100 Metern Höhe.
Im Herbst 1910 wurde der Gerüstturm, der zur Montage des Mittelteils verwendet wurde, abgebaut.
Umbauten
Bald nach der Betriebsaufnahme zeigten sich an zwei Gewölbescheiteln deutlich wahrnehmbare Einsenkungen. An den Gewölben und den 90 und 60 Meter hohen Widerlagerpfeilern bildeten sich Risse. Diese beiden Pfeiler neigten sich bis 270 Millimeter gegeneinander. Zur Stabilisierung des Bauwerks wurde in den Jahren 1920 bis 1922 eine heute noch wirksame Verspannungsvorrichtung eingebaut, wie sie sich bereits bei der Rheinbrücke Eglisau bewährt hatte. Ein Gewichthebel erzeugt einen waagrechten Gegendruck von 2240 Kilo-Newton [kN], um die beiden Pfeiler zu entlasten.
Damit die Bodensee-Toggenburg-Bahn (BT) am 4. Oktober 1931 den elektrischen Betrieb aufnehmen konnte, mussten auf dem Viadukt mehrere Fahrleitungsmasten montiert werden.
Weil für die Fahrbahn ein wasserdichter Schottertrog fehlte, bewirkte eindringendes Wasser Frostschäden. In den 1970er-Jahren baute die BT über den Steingewölbebrücken einen Schottertrog aus Stahlbeton mit einer darüber liegenden Feuchtigkeitsisolation ein. Die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend schwerer werdenden Züge machten eine Verstärkung des Fachwerkträgers notwendig. Da der Bahnbetrieb aufrechterhalten werden musste, erstreckten sich die Verstärkungsarbeiten über die Jahre 1978 bis 1982. In dieser Zeit wurde ebenfalls ein kompletter Neuanstrich ausgeführt. Mit dem Einbau einer elastischen Gleisbefestigung konnte der Lärm der über den Viadukt fahrenden Züge reduziert werden. Weil sich der Schrattenkalk aus Hohenems für Pfeiler und Stirnmauern als zu wenig frostbeständig erwies, wurden die Hauptpfeiler mit einem Betonmantel versehen.
Vom Bau des Sitterviadukts der B.T. In: Schweizerische Bauzeitung. Band 54 (1909), Heft 22 (archiviert in E-Periodica der ETH-Bibliothek, PDF; 2,3 MB).
M. Roš. Ueber die Ursachen der Verbiegungen der steinernen Pfeiler am Sitterviadukt der Bodensee-Toggenburgbahn. In: Schweizerische Bauzeitung (SBZ). (archiviert in E-Periodica der ETH-Bibliothek): Teil 1. In: SBZ, Band 83 (1924), Heft 25 (PDF, 2,4 MB) Schluss. In: SBZ, Band 83 (1924), Heft 26 (PDF, 3,3 MB)
Gerhard Oswald: Die Bodensee-Toggenburg-Bahn. Appenzeller Verlag, Herisau 2004, ISBN 978-3-85882-361-8.
Peter Marti, Orlando Monsch, Massimo Laffranchi: Schweizer Eisenbahnbrücken. (= Gesellschaft für Ingenieurbaukunst. Bd. 5). Herausgegeben von der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst. vdf Hochschul-Verlag an der ETH, Zürich 2001, ISBN 3-7281-2786-8.
Albert Neuburger: Ein Meisterwerk modernen Brückenbaus [das Sittertobelviadukt bei Brüggen]. Mit zwei Illustrationen nach photographischen Original-Aufnahmen. In: Reclams Universum : Moderne illustrierte Wochenschrift 28.1 (1912), S. 164–166.