Ruth Klügers Mutter, die ein Kind aus erster Ehe hatte, kam aus einer wohlhabenden Ingenieursfamilie, ihr Vater war der sozialistische Frauen- und Kinderarzt Viktor Klüger. Bereits in ihrer Kindheit erlebte sie den Antisemitismus und die systematische Ausgrenzung der Juden aus dem öffentlichen Leben in ihrer Heimatstadt, auch in ihrer eigenen Familie: Ihr Vater musste nach dem Anschluss Österreichs 1938 nach Frankreich fliehen, er wurde 1944 im KZ Auschwitz vergast. Ihr Halbbruder Jiří wurde 1941 aus Prag nach Riga deportiert und dort in einem Massaker von den Deutschen erschossen.
1946 nahm Klüger im Alter von 15 Jahren ein Studium an der damaligen Philosophisch-theologischen Hochschule in Regensburg auf. Ein Studienkollege war Martin Walser, den sie in weiter leben in der Figur des Christoph darstellte. Die Freundschaft, die sich aus dem Studium entwickelte, beendete Klüger 2002 durch einen Offenen Brief an Walser nach dem Erscheinen seines Romans Tod eines Kritikers.[2] Klüger emigrierte mit ihrer Mutter[3] 1947 in die USA und studierte in New York Bibliothekswissenschaften und Germanistik an der University of California, Berkeley. Das Studium schloss sie 1952 mit dem Master of Arts ab. In den fünfziger Jahren war Ruth Klüger mit dem Historiker Werner Angress verheiratet. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor: Percy und Dan.[4] Obwohl die Ehe nicht lange hielt, publizierte Klüger bis in die 1980er Jahre unter dem Namen Ruth K. Angress. 1967 promovierte sie beim BarockforscherBlake Spahr. Der Titel ihrer Dissertation lautete The Development of the German Epigram in the 17th Century.
Von 1980 bis 1986 war sie Professorin an der Princeton University und danach Professorin für Germanistik an der University of California in Irvine sowie seit 1988 Gastprofessorin an der Georg-August-Universität Göttingen. Klüger lebte abwechselnd in Irvine und in Göttingen.[5] Sie befasste sich mit Heinrich von Kleist und war langjährige Herausgeberin der Zeitschrift German Quarterly. Ihre 1996 erschienene Essaysammlung Frauen lesen anders fand große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. 2005 war Ruth Klüger Dozentin im Rahmen der Tübinger Poetik-Dozentur. Sie war Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland und in der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, Wuppertal. 2008 veröffentlichte Ruth Klüger unter dem Titel unterwegs verloren eine Fortsetzung ihrer Autobiographie, die sich den Jahren im amerikanischen Exil und danach widmet.[2][6]
Das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien erwarb 2018 den Vorlass von Klüger in Form von elf Kisten aus Irvine und Göttingen.[7] Neben literarischen Typoskripten, Dokumenten und Fotos zur Familiengeschichte sind auch verschiedene Korrespondenzen Teil des Vorlasses; u. a. der „über viele Jahre laufende Briefwechsel mit Martin Walser, den Ruth Klüger nach Erscheinen von Walsers gegen Marcel Reich-Ranicki gerichteten und von Klüger als antisemitisch eingeschätzten Roman ‚Tod eines Kritikers‘ abbrach.“[8].
Klüger starb im Oktober 2020 im Alter von 88 Jahren nach langer Krankheit in Kalifornien.[9][10][11] Sie wurde am 11. Oktober 2020 auf dem Mount Sinai Memorial Park Cemetery in Hollywood Hills bestattet.[12]
Gedenkrede im Bundestag
Am 27. Januar 2016 hielt Ruth Klüger im Rahmen der Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag die Gedenkrede, in der sie ihre Erlebnisse als Zwangsarbeiterin im Konzentrationslager schilderte. Sie sprach dabei über ihre Gewissheit, dass die deutsche Zivilbevölkerung über die Ausbeutung durch Zwangsarbeit gewusst habe. Man könne darüber diskutieren, ob die Deutschen von den Massenmorden wussten, aber für das Thema Zwangsarbeit gäbe es diese Zweifel nicht. Ruth Klüger ging auch besonders auf das Thema der sexuellen Zwangsarbeit und deren besondere Härte ein. Sie beklagte, dass die davon betroffenen Frauen später häufig nicht als Zwangsarbeiterinnen eingestuft wurden und entsprechend keine Wiedergutmachung erhalten hätten. Am Ende der Rede lobte sie die Öffnung der deutschen Grenzen in der Flüchtlingskrise und bezeichnete Angela Merkels Satz Wir schaffen das als „heroisch“.[13][14]
Katastrophen. Über deutsche Literatur. dtv, München 1997, ISBN 3-423-12364-8.
Auf dem Weg zur dritten Strophe. Rezension des Deutschlandlieds von A. H. Hoffmann von Fallersleben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. März 1998.
Schnitzlers Damen, Weiber, Mädeln, Frauen (= Wiener Vorlesungen im Rathaus. Band 79). Picus, Wien 2001, ISBN 3-85452-379-3.
Zwickmühle oder Symbiose: War Heinrich Heine ein Geisteswissenschaftler? (= Heidelberger Universitätsreden. Band 17). Müller, Heidelberg 2003, ISBN 3-8114-5120-0.
Thomas Mann als Literaturkritiker. In: Michael Braun, Birgit Lermen (Hgg.): „Man erzählt Geschichten, formt die Wahrheit.“ Thomas Mann: Deutscher, Europäer, Weltbürger. Peter Lang, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-631-38046-1, S. 25–32.[20]
Ein alter Mann ist stets ein König Lear – Alte Menschen in der Dichtung (= Wiener Vorlesungen im Rathaus, Band 104). Picus, Wien 2004, ISBN 3-85452-504-4 (Vortrag anlässlich der Eröffnung des 6. Wiener Internationalen Geriatriekongresses Aktives Altern – Active Ageing am 21. Mai 2003, Vorwort von Hubert Christian Ehalt).
Wien schreit nach Antisemitismus. In: Martin Doerry (Hrsg.): Nirgendwo und überall zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. DVA, München 2006, ISBN 3-421-04207-1.
Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Wallstein, Göttingen 2006, ISBN 3-8353-0026-1.
Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik. Wallstein, Göttingen 2007, ISBN 3-89244-490-0.
Thomas Mitscherlich: Reisen ins Leben. Weiterleben nach einer Kindheit in Auschwitz. 1996.[21]
Renata Schmidtkunz: Ich komm’ nicht von Auschwitz her, ich stamm’ aus Wien – Ruth Klüger im Portrait. Uraufführung am 1. März 2005 in Wien. Produktion von 3sat, ORF und Bayern alpha Österreich, 2005.[22]
Renata Schmidtkunz: Das Weiterleben der Ruth Klüger. Dokumentation. 83 Minuten, 2011.[23][24]
Literatur
Aglaia Bianchi: Shoah und Dialog bei Primo Levi und Ruth Klüger (= Studien zur deutschen und europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Band 69). Lang, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-631-64656-4 (Überarbeitete Fassung von Magisterarbeit Uni Mainz 2011).
Gesa Dane, Gail Kathleen Hart (Hrsg.): »Ich kann eigentlich nichts als lesen und schreiben.« : Zum literarischen und literaturwissenschaftlichen Werk von Ruth Klüger. 1. Auflage. Wallstein, Göttingen 2023, ISBN 978-3-8353-5387-9.
Renata Schmidtkunz: Im Gespräch: Ruth Klüger. Mandelbaum, Wien 2008, ISBN 978-3-85476-284-3.
Claudia Wurzinger: Klüger, Ruth, in: Brigitta Keintzel, Ilse Korotin (Hrsg.): Wissenschafterinnen in und aus Österreich : Leben – Werk – Wirken. Wien : Böhlau, 2002, ISBN 3-205-99467-1, S. 380–383
↑Wolfgang Paterno: Mord kann ich nicht entschuldigen. In: Profil, 34/2008, S. 108.
↑ ablyrikwelt (Memento vom 5. November 2010 im Internet Archive) Jochen Vogt: Abrechnung im Zorn. Kritische Besprechung zu unterwegs verloren. In: Neue Ruhr/Rhein Zeitung, 5. Januar 2008.
↑Sigrid Löffler: Zwischen Aufklärung und Endlösung. [...] Ruth Klüger ist 88-jährig verstorben, in Falter (Wochenzeitung), Wien, Nr. 42 / 2020, 14. Oktober 2020, S. 36 f.
↑Iris Radisch: Der Sinn ihres Lebens, in: Die Zeit, Hamburg, Nr. 43, 15. Oktober 2020, S. 51
↑Laudatio von Eva Geber; Klügers Antwort: Theodor Kramers Judentum, beides am 20. Mai 2011; sowie Hans Höller: Das Verdrängte „der Vernunft zur Verfügung“ stellen, über Klüger, in: Zwischenwelt. Literatur, Widerstand, Exil. Zeitschrift der Theodor-Kramer-Gesellschaft, 28, Heft 3, Oktober 2011, ISSN1606-4321 S. 6–13.
↑Premiere am 30. Oktober 2011 bei der Viennale, in Anwesenheit von Ruth Klüger. Siehe Filmarchiv auf der Website des Festivals, abgerufen am 24. Februar 2012.
↑Bilder vom Weiterleben in: FAZ vom 10. Mai 2013, Seite 36.