Virilio, dessen Vater als Kommunist vor dem faschistischen Regime von Italien nach Frankreich geflohen war, studierte Architektur und Urbanistik und machte eine Ausbildung zum Kunstglaser-Meister. Im Zweiten Weltkrieg erlebte er in Nantes die Bombardierung der Stadt durch Flugzeuge der Alliierten. Seinen Militärdienst leistete er als Kartograf in Freiburg im Breisgau und im Algerienkrieg ab. Er war tätig als Architekt, Stadtplaner, Ausstellungsmacher, Atelierleiter und Redaktionsmitglied verschiedener Zeitschriften. 1976 fand im Centre Georges Pompidou seine Ausstellung zur „Bunker-Archäologie“ statt.
Virilio war ab 1969 Professor und ab 1973 Studiendirektor an der École Spéciale d’Architecture in Paris. 1979 gründete er zusammen mit Alain Joxe das Centre interdisciplinaire de recherche de la paix et d′études stratégiques („Interdisziplinäres Zentrum für Friedensforschung und strategische Studien“). Er wurde 1997 emeritiert und widmete sich seitdem seinen dromologischen Forschungen.
Zitate
Virilio über den Zweiten Golfkrieg 1991: „Die Botschaft dieses Medienkrieges besteht weniger in der Information über die Realität der gegenwärtig stattfindenden Kämpfe als vielmehr in der Förderung der Möglichkeit zukünftiger Kriege“.[2]
Bekannt wurde die von Virilio geprägte Metapher Rasender Stillstand (Essay, 1992) als Endstadium einer Phase der technologisch vermittelten Beschleunigung, die in der Raum- und Zeitschranken überwindenden, alles beherrschenden Telekommunikation kulminiert, durch die die Kommunizierenden selbst sich nicht mehr bewegen müssen, worauf der Körper mit pathologischen Symptomen wie Burn-Out reagiert.
Auszeichnungen
1987: der französische „Große Nationalpreis der Architekturkritik“ (Le grand prix national de la critique est décerné à l'unanimité à Paul Virilio, par les ministères de l’équipement, du logement et de l'aménagement du territoire et des transports)
1992: Siemens-Medienkunstpreis
Schriften
Bunker archéologie (= Série des catalogues du Centre de Création Industrielle du Centre Georges Pompidou. 1). Centre Georges Pompidou, Centre de Création Industrielle, Paris 1975, ISBN 2-85850-001-0.
Guerre et cinéma. Band 1: Logistique de la perception (= Cahiers du Cinéma. Essais. 3). Éditions de l'Étoile, Paris 1984, ISBN 2-86642-014-4 (Nouvelle édition augmentée. Cahiers du cinéma, Paris 1991, ISBN 2-86642-108-6).[3]
deutsch: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. Hanser, München u. a. 1986, ISBN 3-446-14510-9.
L'Horizon négatif. Essai de dromoscopie (= Débats. 34). Galilée, Paris 1984, ISBN 2-7186-0271-6.
deutsch: Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung. Hanser, München u. a. 1989, ISBN 3-446-15005-6.
deutsch: Architecture principe. 1966 und 1996. Les Éditions de l'Imprimeur, Besançon 2000, ISBN 2-910735-22-2.
Cybermonde, la politique du pire. Entretien avec Philippe Petit. Les Éditions Textuel, Paris 1996, ISBN 2-909317-21-8.
deutsch: Cyberwelt, die wissentlich schlimmste Politik. Ein Gespräch mit Philippe Petit (= Internationaler Merve-Diskurs. 331). Merve Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-88396-268-9.
Le littoral, la dernière frontière. entretien avec Jean-Louis Violeau. Sens & Tonka, Paris 2014, ISBN 978-2-84534-231-6.
deutsch: Die Küste, letzte Grenze. Ein Gespräch mit Jean-Louis Violeau. Turia + Kant, Wien/Berlin 2015, ISBN 978-3-85132-771-7.
Literatur
Paul Virilio spricht mit Heinz-Norbert Jocks. Universität des Unglücks. Von Krieg, Raum und Zeit und vom Sterben am Meer in La Rochelle. Lettre International, Berlin, S. 24–31, 2018, ISSN 0945-5167
Armitage (Hrsg.): Paul Virilio. From Modernism to Hypermodernism and Beyond (= Theory, Culture & Society.). Sage Books, London u. a. 2000, ISBN 0-7619-5901-7.
Dirk Michael Becker: Botho Strauß. Dissipation. Die Auflösung von Wort und Objekt. Transcript, Bielefeld 2004, ISBN 3-89942-232-5 (Zugleich: Mainz, Universität, Dissertation, 2003).
Ingeborg Breuer, Peter Leusch, Dieter Mersch (Hrsg.): Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie. Band 1: Frankreich/Italien (= Rotbuch-Taschenbuch. 1046). Rotbuch-Verlag, Hamburg 1996, ISBN 3-88022-368-8.
Stefan Breuer: Der Nihilismus der Geschwindigkeit. Zum Werk Paul Virilios. In: Stefan Breuer: Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation. Junius, Hamburg 1992, ISBN 3-88506-202-X, S. 131–156.[4]
Kay Kirchmann: Blicke aus dem Bunker. Paul Virilios Zeit- und Medientheorie aus der Sicht einer Philosophie des Unbewußten. Verlag Internationale Psychoanalyse, Stuttgart 1998, ISBN 3-608-91940-6.
Steve Redhead: Paul Virilio. Theorist for an Accelerated Culture. Edinburgh University Press, Edinburgh 2004, ISBN 0-7486-1928-3.
Richard Reschika: Wahnprinzip Geschwindigkeit – Paul Virilio und die Phantasmagorie der Moderne. In: Richard Reschika: Philosophische Abenteurer. Elf Profile von der Renaissance bis zur Gegenwart (= UTB. 2269). Mohr Siebeck, Tübingen 2001, ISBN 3-16-147586-0, S. 258–283.
↑Paul Virilio: Krieg und Fernsehen (= Fischer 13778 Forum Wissenschaft. Kultur & Medien). Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-596-13778-0, S. 60.