Hickel ist der Sohn zweier Ärzte. Er wuchs im damaligen Swasiland (heute Eswatini) auf, einem Land, das damals wie heute stark von der AIDS-Epidemie betroffen ist, und war aufgrund des Berufs seiner Eltern fortwährend mit den sozialen Folgen der Krankheit konfrontiert.[1] In den späten 1990er Jahren zog er in die Vereinigten Staaten, um dort zu studieren.[1] Er studierte Anthropologie am Wheaton College[2] und an der University of Virginia, wo er 2011 promovierte.[3] Anschließend lehrte er mehrere Jahre lang an der London School of Economics sowie der Goldsmiths, University of London. Aktuell ist er als Professor für Umweltwissenschaft und -technik an der Autonomen Universität Barcelona beschäftigt.[4]
Positionen
Armut und Entwicklung
Hickel gilt als großer Kritiker gängiger Konzepte von soziokultureller Evolution. So geht er etwa nicht davon aus, dass Armut ein Zustand sei, in dem sich die Menschheit schon immer befunden habe und der erst seit Beginn der industriellen Revolution allmählich abgebaut würde, sondern argumentiert, dass Menschen im globalen Süden in der Subsistenzwirtschaft ein vergleichsweise gutes Leben führen konnten. Hickel begründet dies damit, dass die Menschen Zugang zu Land hatten und sich ihre Arbeitsbedingungen von der harten Arbeit auf Plantagen und in Minen unterschieden. Der Zustand verschlechterte sich deutlich, als sie von „entwickelten“ Ländern kolonisiert wurden.[5]
In diesem Zusammenhang war er auch Teil einer über längere Zeit andauernden öffentlichen Debatte zur Frage, ob extreme Armut weltweit seit der Industrialisierung abgenommen habe oder nicht. Ausgelöst wurde diese Diskussion durch einen Tweet von Bill Gates, in dem der Milliardär behauptete, dass sich die Lebensumstände der Weltbevölkerung über die letzten zwei Jahrhunderte erheblich verbessert hätten.[5] Hickel stellte dies in Frage. Er kritisierte, dass die dazu angenommene Armutsgrenze von 1,9 US-Dollar pro Tag keine reale Grundlage habe, bei einer laut Hickel realistischeren Grenze von 7,4 US-Dollar hat sich die Armut deutlich weniger verringert. Zudem gab Hickel zu Bedenken, dass die Armutsreduzierung nur auf die Entwicklung in Ostasien (insbesondere China) zurück gehe, dessen Politik sich deutlich von den wirtschaftsliberalen Empfehlungen des Washington Consensus unterscheide.[6] Dies hatte wiederum Reaktionen anderer Ökonomen wie Max Roser,[7] auf dessen Daten sich Gates bezogen hatte, und Branko Milanović[8] zur Folge.
Hickel hält es für problematisch, dass internationale Zusammenarbeit immer noch vom Narrativ des „Fortschritts“ dominiert wird. Dadurch werde nämlich verschleiert, dass die globale Ungleichheit das Produkt der weltweiten Ausbreitung kapitalistischer Strukturen ist.[6] 2022 publizierte Hickel mit einem Team anderer Forschender einen Artikel, in dem der ungleiche Tausch zwischen globalem Norden und globalem Süden angeprangert wurde. Die Art und Weise wie sich Länder des globalen Nordens enorme Mengen von Rohstoffen, Energie, Hektar Land und menschlicher Arbeitskraft aneignen, zementiere Abhängigkeitsverhältnisse und sei imperialistisch.[9] Der Hauptgrund für extreme Armut liegt für Hickel in der Ausbeutung von Menschen durch eine herrschende Klasse oder eine externe imperiale Macht.[10]
Handel zwischen ärmeren und reicheren Ländern hat aus Hickels Sicht nicht zwangsläufig nur Vorteile für beide Seiten.[11] Ebenso kritisiert er die aktuelle Konzeption der Entwicklungszusammenarbeit. Die gängige Ansicht, dass Staaten der OECD etwas von ihrem Reichtum abgeben und es ärmeren Ländern zur Verfügung stellen, entspräche nicht der vollen Wahrheit: Zwar fließt Geld von den reichen zu den armen Ländern, jedoch müssen ärmere Staaten auch Schulden begleichen und werden wesentlich häufiger Opfer von Kapitalflucht. Alles in allem übersteige der Kapitalfluss von den ärmeren in die reicheren Länder alle gezahlten Entwicklungshilfen, sodass nicht die reichen Länder die armen unterstützen, sondern umgekehrt.[12] Darüber hinaus argumentiert Hickel, dass die von der WTO verfolgte Strategie einer Liberalisierung des Welthandels zu Lasten ärmerer Länder gehe, da diesen so Maßnahmen zur Steigerung der eigenen Wirtschaftskraft wie beispielsweise Schutzzölle verweigert würden.[13]
Ökologische Ökonomie
Hickel unterstützt den Degrowth-Ansatz, um das weitere Überschreiten planetarer Grenzen zu vermeiden. Den Begriff Degrowth definiert er dabei folgendermaßen:
„Degrowth is a planned reduction of energy and resource throughput designed to bring the economy back into balance with the living world in a way that reduces inequality and improves human well-being.“
„Degrowth ist eine geplante Reduktion des Energie- und Ressourcendurchlaufs mit dem Ziel, das Gleichgewicht zwischen Ökonomie und der lebenden Welt auf eine solche Weise wiederherzustellen, dass Ungleichheit reduziert und menschliches Wohlergehen erhöht wird.“
Laut Hickel ist es zwingend notwendig, dass Volkswirtschaften von Industrienationen schrumpfen, um die Klimaziele zu erreichen.[15][11] Eine u. a. von Kate Raworth[16] vorgeschlagene „agnostische“ Haltung zum Wachstum, in der es darum geht, menschliches Wohlbefinden unabhängig vom Vorhandensein von Wirtschaftswachstum zu erhöhen, lehnt er ab.[17] Hickel plädiert dafür, die Produktion umweltschädlicher Güter und Dienstleistungen erheblich zu drosseln, hält Wachstum im Gesundheits- und Bildungssektor aber für sinnvoll.[18] Ebenso geht er davon aus, dass Ländern im globalen Süden Wirtschaftswachstum zugestanden werden muss, um Armut zu beseitigen und nur reichere Nationen Degrowth-Politiken implementieren sollten.[19][20] Gängiger Kritik am Degrowth-Ansatz entgegnete Hickel, dass technologischer Fortschritt damit mitnichten gestoppt werde. Degrowth in industrialisierten Ländern sei vielmehr eine Form des Akzelerationismus’ entlang sozialer und ökologischer Grenzen.[21] Eine systematische Übersichtsarbeit ordnete Hickel 2023 dem Strang des Degrowth-Diskurses zu, der vor allem die Synergien zwischen Degrowth im globalen Norden und Dekolonisierung im globalen Süden betont.[22]
Hickel tritt zudem als entschiedener Gegner der Theorie des grünen Wachstums auf. In einem Artikel, den er zusammen mit Giorgos Kallis verfasste, postuliert er, dass es keine empirischen Belege für eine hinreichende absolute Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltschäden gebe und grünes Wachstum daher keine erfolgversprechende Maßnahme im Kampf gegen die globale Erwärmung sei.[23] Stattdessen setzt er sich für Einkommensumverteilung, Arbeitszeitverkürzung und eine Jobgarantie ein.[24] Außerdem unterstützt er die Modern Monetary Theory.[25]
2020 schlug Hickel einen Sustainable Development Index als Ergänzung zum Human Development Index (HDI) vor. Dieser berücksichtigt neben den bereits für den HDI herangezogenen Faktoren Lebenserwartung, Zugang zu Schulen und Einkommen auch CO2-Emissionen pro Kopf sowie Materialverbrauch von Nationen.[26][27] Hickel kritisierte auch die Ziele für nachhaltige Entwicklung dafür, dass Länder, die sich nicht nachhaltig verhalten, dennoch hohe Werte beim Index für nachhaltige Entwicklung erzielen.[28]
Schriften (Auswahl)
mit Meghan Healy-Clancy: Ekhaya: The Politics of Home in KwaZulu-Natal. University of KwaZulu-Natal Press, Scottsville 2014, ISBN 978-1-86914-254-4.
Democracy as Death. The Moral Order of Anti-Liberal Politics in South Africa. University of California Press, Berkeley 2015, ISBN 978-0-520-95986-6.
The Divide: A Brief Guide to Global Inequality and its Solutions. Random House, New York 2017, ISBN 978-1-4735-3927-3.
Deutsche Ausgabe: Die Tyrannei des Wachstums. Wie globale Ungleichheit die Welt spaltet und was dagegen zu tun ist. dtv, München 2018, ISBN 978-3-423-28163-8.
mit Naomi Haynes: Hierarchy and Value: Comparative Perspectives on Moral Order. Berghahn Books, New York 2018, ISBN 978-1-78533-998-1.
Less Is More: How Degrowth Will Save the World. Random House, New York 2020, ISBN 978-1-78515-249-8.
Deutsche Ausgabe: Weniger ist mehr. Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind. oekom, München 2022, ISBN 978-3-98726-029-2.
↑Dionisios Kavadias: New ACLS Faculty Fellow: Jason Hickel. 23. Februar 2012, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 8. Oktober 2020; abgerufen am 3. Dezember 2023 (englisch).
↑Jason Hickel, Christian Dorninger, Hanspeter Wieland, Intan Suwandi: Imperialist appropriation in the world economy: Drain from the global South through unequal exchange, 1990–2015. In: Global Environmental Change. Band72, 2022, doi:10.1016/j.gloenvcha.2022.102467 (englisch).
↑Dylan Sullivan, Jason Hickel: Capitalism and extreme poverty: A global analysis of real wages, human height, and mortality since the long 16th century. In: World Development. Band161, 2023, doi:10.1016/j.worlddev.2022.106026 (englisch).
↑Jason Hickel: The Development Delusion: Foreign Aid and Inequality. In: American Affairs. Band1, Nr.3, 2017, S.160–173 (englisch, americanaffairsjournal.org [abgerufen am 10. Dezember 2023]).
↑Jason Hickel: What does degrowth mean? A few points of clarification. In: Globalizations. Band18, Nr.7, 2021, S.1105–1111, hier S. 1106, doi:10.1080/14747731.2020.1812222 (englisch).
↑Jason Hickel: Weniger ist mehr. Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind. oekom, München 2022, ISBN 978-3-9872602-9-2.
↑Kate Raworth: Die Donut-Ökonomie. Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört. Hanser, München 2018, ISBN 978-3-446-25845-7, S.295.
↑Jason Hickel: What does degrowth mean? A few points of clarification. In: Globalizations. Band18, Nr.7, 2021, S.1105–1111, hier S. 1107, doi:10.1080/14747731.2020.1812222 (englisch).
↑Jason Hickel: What does degrowth mean? A few points of clarification. In: Globalizations. Band18, Nr.7, 2021, S.1105–1111, hier S. 1108, doi:10.1080/14747731.2020.1812222 (englisch).
↑Jason Hickel: What does degrowth mean? A few points of clarification. In: Globalizations. Band18, Nr.7, 2021, S.1105–1111, hier S. 1108f., doi:10.1080/14747731.2020.1812222 (englisch).
↑Jason Hickel: Is it possible to achieve a good life for all within planetary boundaries? In: Third World Quarterly. Band40, Nr.1, 2018, S.18–35, doi:10.1080/01436597.2018.1535895 (englisch).
↑Accelerationist possibilities in an ecosocialist degrowth scenario. In: Jason Hickel. Blog. 21. Dezember 2023, abgerufen am 27. Juni 2024 (amerikanisches Englisch): „[...] [The] degrowth scenario is not a “smaller economy” [...]. It is a high-capacity economy which is reducing less-necessary production, and therefore [...] endowed with spare capacity [...] redirected for necessary purposes. [...] [It] enables acceleration in the speed of green production and innovation at a rate faster than what can be achieved in a growth-oriented scenario.“
↑Jason Hickel, Giorgos Kallis: Is Green Growth Possible? In: New Political Economy. Band25, Nr.4, S.469–486, doi:10.1080/13563467.2019.1598964 (englisch).
↑Jason Hickel: Weniger ist mehr. Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind. oekom, München 2022, ISBN 978-3-9872602-9-2, Kapitel 5. Pfade in eine postkapitalistische Welt, S.233–280.
↑Christopher Olk, Colleen Schneider, Jason Hickel: How to pay for saving the world: Modern Monetary Theory for a degrowth transition. In: Ecological Economics. Band214, 2023, doi:10.1016/j.ecolecon.2023.107968 (englisch).
↑Jason Hickel: The sustainable development index: Measuring the ecological efficiency of human development in the anthropocene. In: Ecological Economics. Band167, 2020, doi:10.1016/j.ecolecon.2019.05.011 (englisch).