Das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau, eigentlich Jüdisch-Theologisches Seminar Fraenckel’sche Stiftung, war ein von 1854 bis 1938 bestehendes Rabbiner- und Lehrerseminar in Breslau. Das auf Grund einer testamentarischen Verfügung des Breslauer jüdischen Geschäftsmannes Jonas Fraenckel (1773–1846) errichtete Seminar wurde am 10. August 1854 eröffnet und entwickelte sich zu einer der wichtigsten jüdischen Bildungseinrichtungen in Europa bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, die das Seminar 1938 schlossen.
Gegründet wurde das 1854 eröffnete Jüdisch-Theologische Seminar auf Grund einer testamentarischen Verfügung aus dem Nachlass des Breslauer Bankiers und Kommerzienrats Jonas Fraenckel und wurde vom Kuratorium der Kommerzienrath Fraenckel’schen Stiftungen selbständig verwaltet. Die Gründung geht auf Abraham Geiger zurück, der bereits 1836 die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät an einer Universität vorgeschlagen hatte. Als erster Direktor wurde jedoch nicht Geiger gewählt, sondern der konservative Dresdner Oberrabbiner Zacharias Frankel (1801–1875). Frankel war der Begründer der „positiv-historischen“ Schule, die, wie er in seinem Hauptwerk Darkei HaMischnah (Wege der Mischna) darlegte, die Meinung vertrat, dass das jüdische Recht, die Halachah, nie statisch war, sondern sich immer auf sich wandelnde Bedingungen hin entwickelt hatte.
Nach dem Tode Frankels wurde Leser Lazarus Direktor, nach dessen Tod 1879 wurden die dem Direktor eingeräumten Befugnisse dem Lehrerkollegium übertragen.
Der Hauptdozent für talmudische Wissenschaft und rabbinische Literatur fungierte als Seminarrabbiner, ihm allein stand die Ausstellung des Rabbinerdiploms, der Hattarat Hora’ah, zu.
Mit der Eröffnung des Jüdisch-Theologischen Seminars wurde Breslau zu einem der wichtigsten Zentren jüdischer Wissenschaft in Europa. Das Seminar bot uneingeschränkte Freiheit der Forschung, allerdings auf Basis der Gebräuche des traditionellen Judentums, deren Einhaltung von Lehrern und Schülern verlangt wurde (wörtlich: auf dem Boden des positiven und historischen Judentums fortzubauen).[1]
Das Seminar war das erste deutsche Rabbinerseminar. Es bestand ursprünglich aus drei Abteilungen:
Rabbinerabteilung mit siebenjähriger Ausbildung für Studierende mit Universitätsreife
Vorbereitungskurs (Präparandie) für Studierende mit Sekundareife
der Lehrerabteilung
Die beiden letzteren Abteilungen wurden in den 1880er Jahren aufgelöst,[1] die Lehrerausbildung wurde nach dem Ersten Weltkrieg, als das Seminar einen Aufschwung erlebte, wieder aufgenommen. Wichtigster Teil des Seminars war jedoch das Rabbinerseminar, das bis zur Machtübernahme durch die Nazis 1933 die bedeutendste Institution für die Ausbildung von Rabbinern in Europa blieb.[2]
Die Seminarbibliothek zählte über 30.000 Bände; Frankels Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums erschien seit 1851 und war ein wichtiges Forum zur Präsentation der Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung sowie nicht zuletzt der Selbstvergewisserung des Seminars (sie erschien bis 1939). Ein Teil der Bibliothek kam nach dem Krieg in die Schweiz und ist heute in der Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich untergebracht.
1931 gestattete die preußische Regierung dem Seminar, den Zusatz „Hochschule für jüdische Theologie“ zu führen. Während der Novemberpogrome 1938 wurden die Bibliothek und das Seminar verwüstet, danach wurde es von den Nationalsozialisten geschlossen. Zahlreiche Studenten wurden ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Einige Aktivitäten wurden noch eine Zeitlang im Untergrund weitergeführt. Die zwei letzten Studenten wurden am 21. Februar 1939 ordiniert.[2]
Bekannte Lehrer und Schüler
Lehrer
Seminarrabbiner waren David Joel (1880–1882), Israel Lewy (1883–1917), Saul Horovitz (1917–1921), Michael Guttmann (1922–1934).
Festschrift zum 75-jährigen Bestehen des jüdisch-theologischen Seminars. 2 Bände, M. & H. Marcus, Breslau 1929.
Andreas Brämer: Rabbiner Zacharias Frankel. Wissenschaft des Judentums und konservative Reform im 19. Jahrhundert. Olms, Hildesheim u. a. 2000, ISBN 3-487-11027-X. (Netiva 3), (Zugleich: Dissertation. Freie Univ., Berlin 1996: Zacharias Frankel.).
Markus Brann: Geschichte des Jüdisch-Theologischen Seminars (Fraenckel'sche Stiftung) in Breslau. Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der Anstalt. s. n., Breslau 1904 (Nachdruck. Olms, Hildesheim 2010, ISBN 978-3-487-13948-7 (Rara zum deutschen Kulturerbe des Ostens)). (Digitalisat bei archive.org / UB Frankfurt)
Guido Kisch (Hrsg.): Das Breslauer Seminar. Jüdisch-Theologisches Seminar (Fraenckelscher Stiftung) in Breslau 1854–1938. Gedächtnisschrift. Mohr, Tübingen 1963. (= The Breslau Seminary)
Nils Roemer: Jewish Scholarship and Culture in Nineteenth-Century Germany. The University of Wisconsin Press, Madison, Wisconsin 2005, 50ff et passim.
Esther Seidel: Zacharias Frankel und das Jüdisch-Theologische Seminar. Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-95565-027-8.
Carsten L. Wilke: Interkulturelle Anbahnungen. Das Rabbinat und die Gründung des Jüdisch-Theologischen Seminars Breslau 1854.In:Kalonymos, Jg. 7, H. 2, 2004, S. 1–3 (PDF; 620 kB)
Görge K. Hasselhoff: „Ueber den wissenschaftlichen Einfluss des Judenthums auf die nichtjüdische Welt.“ (Manuel Joël). Zu einem Forschungsprogramm des Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminars, ebd. Jg. 22, H. 3, 2019, S. 4–8 (Web-Ressource)
Jenka Fuchs: From the Critical Study of Jewish History and Culture to ‘Enemy Research’ and Provenance Research. The Library of the Breslau Rabbinical Seminary. In: Collecting Educational Media: Making, Storing and Accessing Knowledge, edited by Anke Hertling and Peter Carrier, Berghahn Books, New York, Oxford, 2022, S. 153–173 doi:10.1515/9781800734845-011.
↑ ab Eugen Pessen: Jüdisch-Theologisches Seminar. In: Jüdisches Lexikon. Band3. Jüdischer Verlag, Berlin 1929, S.466f. (UB Frankfurt).
↑ ab N.N.: Juedisch-Theologisches Seminar, Breslau. In: Michael Berenbaum, Fred Skolnik (Hrsg.): Encyclopaedia Judaica. 2. Auflage. Band11. Macmillan Reference USA, Detroit 2007, S.572 (Jewish Library).