Spencers Eltern waren nonkonformistische Protestanten, der Vater war Lehrer an einer Schule in Derby, unterrichtete seinen Sohn Herbert jedoch bis zu dessen 13. Lebensjahr privat. Danach wurde Herbert von seinem Onkel, einem Pfarrer aus der Nähe von Bath, erzogen.[2] 1836 kehrte Spencer nach Derby zurück, wo er kurzfristig als Hilfslehrer tätig war. 1837 erhielt er dann eine Anstellung als Ingenieur bei der London and Birmingham Railway[3]. Im Jahr darauf wechselte er als Konstrukteur zur Birmingham and Gloucester Railway.[4] Daneben machte er einige kleine Erfindungen auf dem Gebiet des Bergbaus, die sich aber finanziell nicht auszahlten, und wurde freier Mitarbeiter der Zeitschrift Civil Engineer and Architect's Journal. 1841 waren die Eisenbahn-Baumaßnahmen abgeschlossen und Spencer wurde entlassen.
Zurück in Derby begann er sich mit Themen der Politik und Gesellschaftsreform zu beschäftigen, was einen ersten publizistischen Ausdruck in den Briefen über The Proper Sphere of Government (Das angemessene Tätigkeitsfeld der Regierung) fand, die im Nonconformist veröffentlicht wurden, einer Zeitschrift der protestantischen Dissenter-Bewegung. In diesen Texten skizziert Spencer die Grundüberzeugungen, denen Spencer in seinem ganzen folgendem Werk folgen wird: Reduzierung der Staatstätigkeit auf die Herstellung von Sicherheit und Ordnung, Verzicht auf ein staatliches Erziehungssystem, Verzicht auf eine Staatskirche wie die Anglikanische Kirche, Verzicht auf Armengesetze sowie Verzicht auf staatliche Regulierung von Handel und Industrie.
1843 schließt er sich der Bewegung zur Wahlrechtsreform in Derby an und wird deren Ehrensekretär. Zugleich arbeitet er als Journalist, unter anderem als Redakteur beim Birgmingham Pilot. Danach arbeitet er noch einmal für zwei Jahre als Ingenieur, ist weitere zwei Jahre arbeitslos und wird dann von 1848 bis 1853 Redakteur der nonkonformistischen Zeitschrift The Economist in London. Während dieser Zeit machte er nähere Bekanntschaft mit Thomas Huxley, John Tyndall, John Stuart Mill, George Henry Lewes und George Eliot, mit der er ein langjährige platonische Beziehung hatte.[5]
Während seiner Redaktionstätigkeit beim Economist begann Spencer damit, Bücher zu publizieren. Das erste Buch Social Statics erschien 1850. Darüber hinaus schrieb er Zeitschriftenaufsätze für Westminster Review und Edinburgh Review. 1853 starb sein Onkel und die Erbschaft erlaubte es Spencer, sich als Privatgelehrter ganz dem Schreiben zu widmen. Später erbte er auch noch von seinem Vater, finanzierte sein Hauptwerk "System der synthetischen Philosophie" aber hauptsächlich per Subskription. Er lebte sparsam in bescheidenen Unterkünften, verkehrte aber über Jahrzehnte regelmäßig im Londoner Athenaeum Club. Doch er musste sich immer wieder krankheitsbedingt aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Spencers Krankheitsgeschichte begann 1855 mit einem Nervenleiden. Er war bei jeder Tätigkeit schnell erschöpft, konnte Gesprächen kaum folgen und manchmal nur wenige Minuten am Tag an seinen Büchern arbeiten. Seit 1886 verschlechterte sich sein psychischer Zustand.
1882 unternahm er eine Reise in die Vereinigten Staaten, 1884 lehnte er eine ihm angebotene Kandidatur für das House of Commons ab. Von 1889 bis 1898 lebte er in St. John's Wood, Westminster. Seine letzten Jahre, ab 1898, verbrachte er in Brighton.
Werk und Wirkung
Wie Claude Henri de Rouvroy de Saint-Simon, Auguste Comte oder Karl Marx suchte Spencer nach einer Erklärung gesellschaftlichen Wandels beziehungsweise der Entwicklungsstufen einer Gesellschaft. Beeindruckt von den Thesen Lamarcks wandte er diese in Soziale Statik (1851) erstmals auf soziale Systeme an. Lamarck postulierte, dass die Evolution der Lebewesen aufgrund äußerer Faktoren stattfinde, während das gängige sozialwissenschaftliche Paradigma jener Zeit, der Positivismus, die Gesellschaft nur mit gesellschaftlichen Faktoren erklärte. In Soziale Statik beschreibt Spencer die Gesellschaft als einen „Überorganismus“ mit Organen, die den Lamarckschen Gesetzen von Wachstum und Niedergang folgen. In Der Soziale Organismus (1860) arbeitet er diese Ideen aus.
Um 1860 begann Spencer sein Lebenswerk: die Synthese des gesamten menschlichen Wissens, bezogen auf ein allgegenwärtiges, in allem Lebenden wirkendes Prinzip, die Evolution. Erst die Evolutionsgesetze erlauben nach Spencer die Strukturierung und Eingliederung der empiristischen Daten aus allen physikalischen, sozialen und psychologischen Wissenschaftsbereichen unter ein Prinzip; deshalb stelle der Evolutionismus die erste wissenschaftlich fundierte Weltsicht dar. Als begeisterter Anhänger des Darwinismus glaubte er, das Evolutionsprinzip in allen Wissenschaften anwenden und diese dadurch zu einem „System synthetischer Philosophie“ vereinigen zu können. Spencer war davon überzeugt, in der sich selbst organisierenden Genese der Dinge einen wichtigen Schlüssel zu ihrem Verständnis gefunden zu haben. Der Ansatzpunkt, dass sich die Dinge in der Welt ohne göttliche (oder anderweitige) Lenkung entwickeln und dabei aus „Einfachem“ etwas „Komplexeres“ oder „Höheres“ entsteht, war für seine Zeit revolutionär. Wie John Stuart Mill bekannte sich Spencer zum strikten Empirismus; mit Immanuel Kant trennte er zwar kategorisch zwischen Phänomenen, jedoch schrieb er den Gegenständen
der Erfahrung eine inhärente Kraft zu, die er als Manifestation des „Unergründlichen“ sah. Wissenschaftliche Erkenntnis unterscheide sich daher vom Alltäglichen nur durch besonders präzise Beschreibung der Erfahrungswelt und durch die Entdeckung universaler Gesetze innerhalb der Wissenschaftsdisziplinen.
Nach der Lektüre von Carpenter übernahm Spencer dessen Thesen in seinen Ersten Prinzipien (1860) und postulierte, dass sich auch im gesellschaftlichen Bereich alle Dinge vom Homogenen zum Heterogenen hin entwickeln. Per Deduktion begründete er sein „Universelles Postulat der kulturellen Evolution“: Nicht nur biologische Organismen, sondern auch die Erziehung, die Lebensweisen, die sozialen Konventionen, die Psychologie, die Politik usw. würden diesem Gesetz folgen und zwar ohne „göttliche“ oder anderweitige Einwirkung von außen (Erste Prinzipien, 1862). In einem Punkt befand sich Spencer hier auf einer Linie mit seinen positivistischen Zeitgenossen (beispielsweise Comte): Auch sie sahen die Entwicklung der Soziologie eingebettet in eine breite Entwicklung beziehungsweise Reorganisation aller Wissenschaftsdisziplinen einerseits und eine gleiche, alles durchdringende Gesetzmäßigkeit, andererseits.
Schließlich entwickelte Spencer in seinen weiteren Prinzipien, ausgehend von den verschiedenen zuvor entwickelten Evolutionstheorien, eine allgemeine Philosophie: Das gesamte Universum funktioniere wie ein gigantischer Organismus, die immer höhere Spezialisierung und Differenzierung führt mit der Zeit zu einer immer harmonischeren Koordination der einzelnen Komponenten. Wie zuvor schon Comte, stellte Spencer dieselbe Entwicklung nicht nur für das Gesamte, sondern innerhalb jeder einzelnen Komponenten fest. In den Prinzipien der Biologie (1864–67) integrierte Spencer sowohl die Theorien von Charles Darwin, Alfred Russel Wallace, aber auch Henri Milne Edwards über die Arbeitsteilung in Organismen.
Als Soziologe und Evolutionstheoretiker wird Spencer von einigen als Begründer des Sozialdarwinismus betrachtet. Er popularisierte den Begriff der Evolution für gesellschaftliche Entwicklung, ebenso wie er (und nicht Charles Darwin) den Begriff des „Survival of the fittest“ (Überleben des am besten Angepassten, siehe Evolutionstheorie) prägte, wobei er Darwins „natürliche Auslese“ zum „Kampf ums Dasein“ machte.
Eine gesellschaftliche Entwicklung verläuft Spencer zufolge ähnlich der eines biologischen Organismus. Gesteuert durch die unsichtbare Hand der Evolution setzt sich langfristig das durch, was am besten zum Überleben des Organismus beiträgt. In diesem Prozess steht der Nicht-Angepasste, d. h. der sozial Schwächere, dem Fortschritt der Gesellschaft im Wege. Spencer sah in Indiens „Eurasiern“ ein Beispiel von „Degeneration“ infolge von ethnischer Mischung und wünschte, dass Ehen zwischen verschiedenen Ethnien „entschiedenst verboten“ würden.[6]
Anders als spätere Sozialdarwinisten war Spencer fest im Liberalismus verwurzelt. Ausgehend von seiner protestantischenEthik postulierte er das Law of Equal Freedom (LEF; Gesetz gleicher Freiheit), dass ein Mensch jede Freiheit habe, solange er nicht in die Freiheit eines anderen eingreife. Sowohl aus diesen ethischen Gründen als auch, weil sie der Logik der Evolution widersprächen, lehnte Spencer jeden Eingriff des Staates in die menschliche Gesellschaft ab. In seinem politischsten Werk The Man Versus the State ging er konsequenterweise so weit, das Recht eines jeden Individuums auf Sezession vom Staat zu fordern.
Spencer wurde gemäß seinem letzten Willen im Golders Green Crematorium eingeäschert, sein Grabmal befindet sich in der Nähe desjenigen von Karl Marx auf dem Londoner Highgate Cemetery.
Literatur
Primärliteratur
Social Statics (1851)
A System of Synthetic Philosophy (1860)
The Social Organism (1860)
Education (1861)
First Principles (veröffentlicht in 6 Teilen 1860–62)
Wolfram Forneck: Die Vererbung individuell erworbener Eigenschaften. Dargestellt am Disput zwischen August Weismann und Herbert Spencer. 2. Auflage. BoD – Books on Demand, Norderstedt 2014, ISBN 978-3-7357-9153-5.
Otto Gaupp: Herbert Spencer. Frommanns 1897.
August Stadler: Herbert Spencer – Spencers Ethik – Schopenhauer. R. Voigtländers Verlag Leipzig 1913.
David Duncan: Life and Letters of Herbert Spencer. (2 Bände), University Press of the Pacific, 2002.
Johann G. Muhri: Normen von Erziehung. Analyse und Kritik von Herbert Spencers evolutionistischer Pädagogik. 1982. ISBN 3-7705-2065-3.
Uwe Krähnke: Herbert Spencer. In: Ditmar Brock, Uwe Krähnke/Matthias Junge: Soziologische Theorien von Auguste Comte bis Talcott Parsons 2. Auflage, München: Oldenbourg 2007. Seiten 79–98.