Er kam zunächst in das Lager 27 in Krasnogorsk bei Moskau, dann mit dem Überläufer Franz Gold nach Spasso-Sawodsk bei Karaganda in Kasachstan. Dort lernte er Heinz Hoffmann kennen. Mit Gold und Hoffmann erhielt er eine fünfmonatige Ausbildung an der neugeschaffenen Antifa-Schule in Gorki. Zusammen mit Gold wurde er im Kriegsgefangenenlager 27 eingesetzt und dann Mitarbeiter der 7. Verwaltung der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee. Im Dezember 1942 kam es zu seinem ersten Fronteinsatz in Welikije Luki. Gold und Keßler wurden nach weiteren Fronteinsätzen zur Mitbegründung des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) nach Krasnogorsk beordert. Gemeinsam mit den übrigen Mitgründern des NKFD unterschrieb Keßler das Manifest vom 12. Juli 1943. Dort engagierte er sich als einer der wichtigsten Jugendfunktionäre sowie als Frontbeauftragter an der Brjansker Front.[3] In dieser Funktion rief er deutsche Soldaten zum Überlaufen auf.
Rückkehr nach Deutschland
Im Mai 1945 kehrte er als Angehöriger der Roten Armee ins eroberte Berlin zurück, wo er nach langer Zeit seine Mutter wiedertraf.[4] 1945 war Keßler Mitglied des Zentralen Antifaschistischen Jugendausschusses und 1946 eines der Gründungsmitglieder der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Er trat der KPD bei, die sich 1946 mit der SPD zur SEDvereinigte. Im gleichen Jahr wurde er Mitglied des Parteivorstandes der SED, ab 1950 Zentralkomitees (ZK) der SED. Von 1948 bis 1950 war er Sekretär des Zentralrats der FDJ. In dieser Zeit nahm er auch an Agitationseinsätzen in der Bundesrepublik teil („Ich habe versucht, die Jugendverbände zu agitieren und dafür zu gewinnen, mit uns gegen die Pariser Verträge aufzutreten“).
Eintritt in die Bewaffneten Organe der DDR
Am 1. November 1950 trat Keßler in die Bewaffneten Organe der DDR ein. Hier war er bis 1952 im Rang eines Generalinspekteurs Leiter der Volkspolizei-Luft (VP-Luft, Tarnbezeichnung Verwaltung der Aeroklubs). Infolge erster struktureller Veränderungen wurde sein Dienstposten von 1952 bis 1953 in Stellvertreter des Ministers des Inneren und Chef der VP-Luft geändert. Sein Dienstgrad lautete ab 1. Oktober 1952 Generalmajor.[5] Weitere Strukturreformen führten bis 1955 zur erneuten Namensänderung, nunmehr Chef der VP-Luft, der Vorgängerorganisation der NVA-Luftstreitkräfte.[6]
Bei Gründung der NVA am 1. März 1956 wurde Keßler zum Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung berufen. Ab 1. September 1956 übernahm er wieder den Oberbefehl über die Luftstreitkräfte der Nationalen Volksarmee. Nach der Zusammenlegung der Luftstreitkräfte und der Luftverteidigung am 1. Juni 1957 zum Kommando Luftstreitkräfte/Luftverteidigung (Kdo. LSK/LV) wurde Keßler Stellvertreter des Ministers und Chef der LSK/LV. Generalmajor Zorn, sein bewährter Stellvertreter und Chef des Stabes aus den Zeiten der KVP-Luft, sollte ihm wieder als zweiter Mann zur Seite stehen, wurde aber zur Militärakademie „Friedrich Engels“ nach Dresden abverfügt. Am 1. Oktober 1959 wurde Keßler zum Generalleutnant befördert; am 1. März 1966 zum Generaloberst.[7]
Am 3. Dezember 1985 übernahm Keßler vom verstorbenen Heinz Hoffmann das Amt des Verteidigungsministers. 1986 wurde er Mitglied des Politbüros des ZK der SED. Im Oktober 1989 galt Keßler bei der Funktionärsgruppe um Egon Krenz, die die Absetzung Erich Honeckers vorbereitete, als größter „Risikoposten“.[8] Er befand sich in Nicaragua, als Honecker am 17. Oktober von einer Mehrheit des Politbüros zum Rückzug gezwungen wurde. Keßler erklärte seitdem wiederholt, dass er dem „nie zugestimmt“ hätte.[9] Direkt vom Flughafen kommend, nahm er am Folgetag an der Plenartagung des Zentralkomitees teil, auf der Honecker „aus gesundheitlichen Gründen“ um die Entbindung von allen Funktionen bat. Der konsternierte Keßler stimmte dem zu, einen improvisierten Redebeitrag brach er nach mehrfachen störenden Zwischenrufen – unter anderem von Günter Schabowski, Harry Tisch und Kurt Hager – ab.[10] Nach Keßlers später geäußerter Auffassung hatte sich in der SED-Führung zu diesem Zeitpunkt eine Fraktion gebildet: „Sie hat sich zusammengesetzt aus Leichtgläubigen, dazu zähle ich Krenz, weil der offensichtlich wirklich glaubte, dass Perestroika und Glasnost ein Weg sei, und anderen, die nie Kommunisten waren, die nie richtig verbunden waren mit unserer Sache, dazu zähle ich Schabowski, Schürer, Tisch und noch zwei, drei andere.“[11]
Rücktritt, Entlassung und Parteiausschluss
Am 7. November 1989 trat Keßler als Verteidigungsminister zusammen mit den anderen Mitgliedern der Regierung Stoph zurück. Er leitete aber zunächst geschäftsführend das Ministerium weiter und wollte das Amt auch in der neuen Regierung ausüben, worauf er dann am 17. November allerdings verzichtete und am 15. Dezember auf eigenen Wunsch aus der NVA entlassen wurde.[12]
Am 20./21. Januar 1990 wurde Keßler mit der Begründung, eine „antisowjetische Haltung“ zu vertreten, aus der SED-PDS ausgeschlossen.[13] Gemeint war jedoch, dass er gegen das Reformprogramm Gorbatschows war.[14][15] Bei diesem Ausschlussverfahren gegen Keßler gab es drei Stimmenthaltungen. Unmittelbar nachdem Keßler den Raum verlassen hatte, erkundigte sich der Vorsitzende der Schiedskommission Günther Wieland verunsichert bei diesen drei Mitgliedern über den Grund für ihr Abstimmungsverhalten. Deren Vermutung, Keßler könne einer der Initiatoren der Absetzung Erich Honeckers gewesen sein, unterbrach Wieland mit der Aussage: „Genossen, darf ich euch eins sagen: es gab viele Leute im […] Zentralkomitee die außerordentlich glücklich waren, dass gerade dieser Mann zu dieser Zeit weit, weit weg war. Denn als Mielke schon lange auf der Seite von Krenz stand war das noch der engste Freund von Honecker.“[16]
Am 24. Januar 1990 wurde Keßler unter dem Vorwurf, für die „Verschwendung von Volksvermögen“ in Höhe von 80.000 Mark verantwortlich zu sein, festgenommen. Keßler schrieb in seinen Memoiren, man habe ihm erklärt, „dass das Ministerium für Verteidigung wie andere Ministerien auch ein Jagdgebiet hatte. Ich habe mich nie darum gekümmert, weil mich das nicht interessiert hat. […] Für diese Verschwendung von Volksvermögen trüge ich die Verantwortung.“[17] Bis April 1990 blieb er in der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin-Hohenschönhausen in Haft.
Verurteilung wegen Totschlags
Wie die restliche Staatsführung der DDR leugnete Keßler stets den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze.[15] So hatte er in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit vom 30. September 1988 gesagt: „Es hat nie – nie! – einen Schießbefehl gegeben. Den gibt es auch jetzt nicht, das bitte ich mir so abzunehmen […]“. Nach dem Ende der DDR musste er sich ab November 1992 zusammen mit ehemaligen Parteiführern und den anderen Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrates der DDR wegen des Befehls vor dem Landgericht Berlin verantworten, nachdem er 1991/92 in Untersuchungshaft gesessen hatte. Am 16. September 1993 wurde er in den Mauerschützenprozessen zu einer siebeneinhalbjährigen Freiheitsstrafe wegen der Anstiftung zum Totschlag verurteilt. Am 26. Juli 1994 wurde das Urteil vom Bundesgerichtshof bestätigt, Keßler aber als mittelbarer Täter des Totschlags eingestuft.[18] Im Frühjahr 1998 wurde er aus der JVA Hakenfelde in Berlin aus gesundheitlichen Gründen auf Bewährung entlassen.
Für Frieden und Sozialismus. Band II. Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1989, ISBN 3-327-00891-4.
Die Sache aufgeben, heißt sich selbst aufzugeben, das geht nicht mit mir. Erklärungen im und zum politischen Prozess vor dem Berliner Landgericht. Runge, Hamburg 1993, ISBN 3-929289-03-2.
mit Fritz Streletz: Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben. edition ost, Berlin 2011, ISBN 3-360-01825-7.
Literatur
Matthias Uhl: Heinz Keßler – Honeckers politischer General. In: Hans Ehlert, Armin Wagner (Hrsg.): Genosse General! Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen. Ch. Links, Berlin 2003, ISBN 3-86153-312-X, S. 421–454.
Heinz Keßler Internationales Biographisches Archiv 29/2001 vom 9. Juli 2001 (lm). Ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis KW 19/2011, im Munzinger-Archiv (Artikelanfang frei abrufbar)
↑Matthias Uhl: Heinz Keßler – Honeckers politischer General. In: Hans Ehlert, Armin Wagner (Hrsg.): Genosse General! Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen. Ch. Links, Berlin 2003, ISBN 3-86153-312-X, S. 421–454, hier S. 422 f.; Gottfried Hamacher u. a.: Gegen Hitler. Deutsche in der Résistance, in den Streitkräften der Antihitlerkoalition und der Bewegung »Freies Deutschland«. Kurzbiografien. (= Rosa-Luxemburg-Stiftung. Manuskripte.) Band 53. Dietz, Berlin 2005, ISBN 3-320-02941-X, S. 99 f. (PDF; 894 kB).
↑Hans Ehlert und Armin Wagner: Die Militärelite der DDR in lebensgeschichtlicher Perspektive. In: Hans Ehlert, Armin Wagner (Hrsg.): „Genosse General! Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen“. Ch. Links, Berlin 2003, ISBN 3-86153-312-X, S. 7.
↑Hans-Hermann Hertle, Gerd-Rüdiger Stephan: Die letzten Tage des Zentralkomitees der SED. Einführung und historischer Überblick. In: dies. (Hrsg.): Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees. 4. Auflage. Berlin 1999, S. 57.
↑Heinz Keßler: Die letzten Tage der SED und der Deutschen Demokratischen Republik (Abschrift eines Interviews mit Heinz Keßler). In: Erich Buchholz (u. a.): Unter Feuer. Die Konterrevolution in der DDR. Hannover 2009, S. 101.
↑Matthias Uhl: Heinz Keßler – Honeckers politischer General. In: Hans Ehlert, Armin Wagner (Hrsg.): Genosse General! Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen. Ch. Links, Berlin 2003, ISBN 3-86153-312-X, S. 421–454, hier S. 444.