Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen (0 °C, 1000 hPa). Brechungsindex: Na-D-Linie, 20 °C
Glycerin (von griech. γλυκερόςglykerós „süß“,[9] auch Glyzerin oder Glycerol) ist der Trivialname und die gebräuchliche Bezeichnung von Propan-1,2,3-triol. Glycerin ist ein Zuckeralkohol und der einfachste dreiwertige Alkohol, ein Triol. Der Name Glycerol wurde eingeführt, da er die korrekte Endung -ol für einen Alkohol besitzt (die Endung -in steht für Alkine oder Amine).
Damals wurde Glycerin größtenteils aus Ölen und Fetten gewonnen, allerdings reichte die Produktionsmenge in Kriegszeiten nicht aus, sodass erstmals auch Anlagen gebaut wurden, in denen Glycerin aus Zucker fermentativ hergestellt wurde. 1943 wurde in Deutschland eine neue, erdölbasierte Herstellungsmethode für Glycerin gefunden, die in der Folgezeit die fermentative Herstellung ablöste. Um die Jahrtausendwende wurden ca. 25 % des Glycerins erdölbasiert hergestellt.
Da durch politische Maßnahmen seit Anfang der 2000er Jahre die Produktion von Biodiesel mehr und mehr gefördert wurde, stieg auch die Menge des Kuppelprodukts Glycerin aus natürlichen Quellen stark an. Mittlerweile wird Glycerin nahezu ausschließlich aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt. Durch die gestiegene Produktionsmenge ist der Glycerinpreis stark gefallen. Damit wird Glycerin auch für neue Anwendungen interessant, für die es früher zu teuer war.[10][12] 2015 lag die weltweite Jahresproduktion an Glycerin bei ca. 4 Millionen Tonnen.[10]
Inzwischen werden große Mengen Glycerin als Nebenprodukt der Biodieselherstellung erzeugt. Dies geschieht durch eine Umesterung von meist pflanzlichen Ölen mit Methanol. Ein Fettmolekül (Triacylglycerid) wird mit drei Methanolmolekülen zu Glycerin und drei Fettsäuremethylestern (FAME) umgesetzt.
Auch eine biotechnologische Herstellung durch Fermentation ist möglich. Hefen können durch Sulfitzusatz die Gärung von Ethanolbildung auf Glycerinbildung umstellen. Als Substrat wurde oftmals Melasse verwendet, da diese neben einem hohen Anteil an Zucker auch viel Sulfit enthält. Diese Form der Gärung wurde 1918 von Neuberg als 2. Neuberg’sche Gärungsform bezeichnet.[13] Das Verfahren geht auf Carl Neuberg zurück, wurde von Karl Lüdecke und Wilhelm Connstein von den Vereinigten Chemischen Werken in Berlin-Charlottenburg entwickelt und war im Ersten Weltkrieg in Deutschland von großer Bedeutung für die Sprengstoffproduktion.
Glycerin ist in unterschiedlichen Reinheiten im Handel erhältlich. Für industrielle Zwecke wird es als Rohglycerin und für pharmazeutische Zwecke (Pharmaglycerin) in den Qualitäten 99,8-, 99,5- und etwa 86-prozentig angeboten. 86-prozentig (mit 14 % Wasser) ist es wegen des stark erniedrigten Schmelzpunkts (−10 °C) und der niedrigeren Viskosität (ca. 100 mPa·s) technisch einfacher zu handhaben. Die Aufbereitung erfolgt durch mehrstufige Destillation, Desodorierung und Filtration.[14]
Hochreines, synthetisches Glycerin stammt nicht aus tierischen oder pflanzlichen Vorprodukten und wird besonders in qualitätssensiblen Bereichen der Pharmaindustrie sowie der Kosmetik- und Lebensmittelindustrie eingesetzt.[15] Mit den heutigen Herstellungsmethoden zählt Glycerin als vegan/vegetarisch.[16]
In der Physik ist Glycerin vor allem für seine geringe Kristallisationstendenz bekannt.[17][18] Das heißt, beim Abkühlen kristallisiert es in der Regel nicht, sondern bildet eine sogenannte „unterkühlte Flüssigkeit“. Deren Viskosität steigt mit abnehmender Temperatur kontinuierlich an, bis Glycerin unterhalb einer Glasübergangstemperatur von etwa 185 K (−88 °C)[19] in einer nicht-kristallinen amorphen Struktur erstarrt. Vom physikalischen Standpunkt ist Glycerin unterhalb 185 K somit ein Glas. Temperaturabhängige physikalische Messungen an Glycerin und anderen unterkühlten Flüssigkeiten werden daher oft zur Untersuchung des theoretisch bislang nur unvollständig verstandenen Glasübergangs genutzt.[17][19] Dies erfordert bei Glycerin Messungen von Raumtemperatur bis etwa −88 °C (185 K)[19]. Dies ist technisch deutlich einfacher zu bewerkstelligen als Messungen an konventionellen Kalk-Natron-Gläsern, mit Glasübergangstemperaturen von etwa 500–800 °C.
Chemische Eigenschaften
Glycerin bildet unter Hitzeeinwirkung weißen Dampf. Beim Erhitzen unter Sauerstoffmangel zersetzt es sich zu dem in Wasser gut (267 g/l) löslichen sowie giftigen ungesättigtenAldehydAcrolein, das auch Acrylaldehyd oder Acrolein genannt wird.
Mit festem Kaliumpermanganat reagiert es unter Selbstentzündung vollständig zu Kohlenstoffdioxid und Wasser. Als Nebenprodukte entstehen bei dieser Reaktion auch Braunstein und Kaliumcarbonat.
Als Lebensmittelzusatzstoff findet Glycerin unter der Nummer E 422 Anwendung zur Feuchthaltung, etwa für Datteln oder Kaugummi, aber auch als Süßungsmittel. Glycerin hat etwa 60 % der Süßkraft von Saccharose („Haushaltszucker“).[22]
Kosmetik und Hygiene
Wegen seiner wasserbindenden Eigenschaften ist Glycerin in Kosmetikartikeln als Feuchtigkeitsspender enthalten. Auch in verschiedenen Zahnpasten ist Glycerin enthalten.
Haushalt
Häufig wird Glycerin in das Wasser von Weihnachtsbaumständern gegeben, um den Baum länger frisch zu halten. Das Glycerin sorgt für Frostschutz und führt dazu, dass die Nadeln länger halten. Glycerin findet aufgrund seiner feuchtigkeitsspendenden Wirkung Verwendung in Lederpflegemitteln und Schuhcremes, um Leder glatt und geschmeidig zu halten. Auch bei der Herstellung von Flüssigkeit für Seifenblasen wird in der Regel etwas Glycerin hinzugegeben.
Malerei
Glycerin dient als Feuchthaltemittel in Aquarellfarben, entweder allein oder zusammen mit Honig.
Tabak, Zigaretten und Verdampfer
Glycerin (E 422) wird zusammen mit 1,2-Propandiol als Feuchthaltemittel für Tabakwaren verwendet, nicht zu verwechseln mit der Glycerin-Phosphorsäure und deren Natrium-, Kalium- und Magnesiumverbindungen, deren Reinheitsanforderungen beispielsweise in Deutschland in deren Tabakverordnung klar definiert sind. Im Zigaretten- und Pfeifentabak sollen die Feuchthaltemittel vor allem die Lagerungszeiten der Produkte verlängern und die Austrocknung verhindern. Shisha-Tabak werden von den Herstellern deutlich höhere Mengen an Feuchthaltemitteln zugemischt, um einerseits die Verbrennung des Tabaks zu verhindern und andererseits einen dichteren Dampf zu erzeugen. Weiterhin findet Glycerin ebenso wie 1,2-Propandiol Verwendung als Liquid in elektrischen Zigaretten, in diesem Kontext wird es auch als „VG“ bezeichnet.
Aufgrund der zeitweise deutlich gesunkenen Preise werden neue Anwendungsgebiete für Glycerin gesucht. Neben der Verbrennung sind dabei insbesondere die Nutzung als zusätzliches Nährmedium (Cosubstrat) in Biogasanlagen zur Erzeugung von Biogas sowie die Nutzung als Fermentationssubstrat in der Industriellen Biotechnologie Alternativen.
Weiterhin wird geforscht, Glycerin mit Isobuten zu Glycerin-tert-butylether (GTBE; analog zu MTBE und ETBE) umzusetzen für den Einsatz als Kraftstoffzusatz.[23] Seit 2009 setzt die Volkswagen AG aus alten Frittierfetten gewonnenes Glycerin anstelle von aus Erdöl gewonnenem Ethylenglycol als Kühlmittelzusatz (G13) in ihren Fahrzeugmodellen ein.[24]
Glycerin lässt sich in einem neuen Verfahren unter Einwirkung von Ameisensäure zu einem chemischen Grundbaustein – dem Allylalkohol – umsetzen.[25]
In Form glycerinhaltiger Zäpfchen kommt es als Abführmittel (Laxans) zur Anwendung. Die Wirkung entsteht zum einen durch einen reflektorischen Effekt: Durch den Kontakt des Glycerins mit der Rektalschleimhaut wird der Defäkationsreiz gesteigert (siehe auch: Defäkationsreflex). Zum anderen wirkt ein osmotischer Effekt: Durch den Wassereinstrom in das Darmlumen wird der Stuhl weicher und gleitfähiger.
Gegenstand medizinischer Forschung ist die Verwendung von Glycerin zur Aufrechterhaltung der menschlichen Hirn- und Organfunktionen während einer künstlichen Absenkung der Körpertemperatur. Dies könnte für langwierige, schwierige medizinische Operationen von Bedeutung sein. Biologisches Vorbild ist der kanadische graue LaubfroschHyla versicolor, dessen Körperzellen sich zur Überwinterung mit Glycerin anreichern.[28]
Glycerin wird auch im Rahmen des Klockhoff-Testes (Glycerol-Belastungstest) zur Diagnose eines Morbus Menière verwendet.
Plattformchemikalie in der Chemieindustrie
Glycerin ist eine Plattformchemikalie, da es in großem Umfang biobasiert gewonnen wird, und sich chemisch als Synthesebaustein für zahlreiche verschiedene Endprodukte eignet.[10][12]
Biologische Bedeutung
Die meisten tierischen und pflanzlichen Fette und Öle sind Triglyceride. Sie bestehen aus dem dreiwertigen Alkohol Glycerin, der über die Hydroxygruppen (–OH) dreifach mit Fettsäuren verestert ist. Sie sind Energiespeicher im Fettgewebe oder in Samen von Ölpflanzen, wie Raps, Soja, Sonnenblume, Kokospalmen oder Ölpalmen. Ähnlich aufgebaut sind Phosphoglyceride. Statt der dritten Fettsäure ist eine Phosphatgruppe verestert und an diese ein Rest gekoppelt, wie Cholin im Lecithin. Somit erhält das Molekül einen polaren und einen apolaren Bereich, was die Bildung einer Membran (Zellmembran) ermöglicht.
Nahezu alle natürlich vorkommenden Glycerinderivate weisen die sn-Konfiguration auf, welche die räumliche Anordnung der Substituenten am mittleren Kohlenstoffatom des Glycerins festlegt.[29]
Einige Insekten enthalten Glycerin als natürliches Gefrierschutzmittel im Blut, um tiefe Temperaturen überleben zu können. Hornissen überleben so bis zu −17 °C und arktische Laufkäfer bis zu −85 °C.[3]
Gesundheitsrisiken
In Lebensmitteln
Als Zusatzstoff in Lebensmitteln gilt Glycerin als unbedenklich. Größere Mengen Glycerol, etwa verwendet als Zuckerersatz in Slushies, können bei Kindern unter vier Jahren zu Gesundheitsbeschwerden (Schwindel, Erbrechen, Kopfschmerzen, Bewusstlosigkeit) führen.[30]
Erwachsene können Glycerol ohne Probleme verdauen. Bei Kindern führt es zu Entzug von Wasser aus dem Gewebe(Dehydration), sowie einer extremen Senkung des Blutzuckers bis zum hypoglykämischen Koma.[31]
Er wurde von der Food and Drug Administration (Lebensmittelüberwachungsbehörde der USA) ohne Höchstmengenbeschränkung (Erlaubte Tagesdosis) als unbedenklich eingestuft.[32] In der EU ist es als Zusatzstoff E422 ebenfalls ohne Höchstmengenbeschränkung zugelassen, 2017 wurde dies in einer Studie nochmals bestätigt.[33]
Aufgrund von zwei Ereignissen in Nordengland in den Jahren 2021 und 2022 mit glycerinhaltigen Slushies, die auf Grund von hohem Konsum zu Krankenhauseinweisungen der Kleinkinder geführt haben, wurden die Sicherheitsrichtlinien (Empfehlungen) in England 2023 für Lebensmittel geändert.[34][35]
Glycerin wird neben anderen Feuchthaltemitteln Wasserpfeifentabaken in erheblichen Mengen zugesetzt. Eine Untersuchung des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) quantifizierte den Feuchthaltemittelgehalt im Wasserpfeifenrauch und konnte erhebliche Mengen der Feuchthaltemittel Glycerin und 1,2-Propandiol nachweisen. In der Bewertung der Ergebnisse wurde auf mögliche Gesundheitsgefahren hingewiesen, bei denen sich das BfR auf Studien im Zusammenhang mit der Toxikologie von sogenannten tabakspezifischer Nitrosaminen (TSNA) und Polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) bezieht, welche ebenso bei der Benutzung von Wasserpfeifen entstehen und teils sowohl im Blut als auch im Urin von Rauchern von Wasserpfeifen nachgewiesen wurden.[36]
↑V. S. Sotnikov, D. V. Utkin, L. Z. Obodan, V. V. Smirnov: [Preparation of glycerin solutions for intravenous administration. III. The pharmacodynamic properties of a glycerin solution]. In: Farmatsevtychnyi Zhurnal. Nr.6, 1977, S.56–61, PMID 598477 (ukrainisch).
↑Margarida Bastos, Sven-Ove Nilsson, Maria D.M.C Ribeiro da Silva, Manuel A.V Ribeiro da Silva, Ingemar Wadsö: Thermodynamic properties of glycerol enthalpies of combustion and vaporization and the heat capacity at 298.15 K. Enthalpies of solution in water at 288.15, 298.15, and 308.15 K. In: The Journal of Chemical Thermodynamics. Band20, Nr.11, 1988, S.1353–1359, doi:10.1016/0021-9614(88)90173-5.
↑ abArno Behr & Thomas Seidensticker: Einführung in die Chemie nachwachsender Rohstoffe – Vorkommen, Konversion, Verwendung. Springer Spektrum, 2018, ISBN 978-3-662-55254-4, 5. Das Koppelprodukt der Oleochemie – Glycerin, S.85–105.
↑Hans G. Schlegel: Allgemeine Mikrobiologie, Herausgeber: Georg Fuchs, Georg Thieme Verlag, Stuttgart; 8. völlig überarbeitete u. erweiterte Auflage erschienen im September 2006, ISBN 3-13-444608-1.
↑ abAndreas Schönhals, Friedrich Kremer, Achim Hofmann, Erhard W. Fischer, Eckard Schlosser: Anomalies in the scaling of the dielectric α-relaxation. In: Physical Review Letters. Band70, Nr.22, 31. Mai 1993, S.3459–3462, doi:10.1103/PhysRevLett.70.3459.
↑Alejandro Sanz, Kristine Niss: Liquid dynamics in partially crystalline glycerol. In: The Journal of Chemical Physics. Band146, Nr.4, 28. Januar 2017, S.044502, doi:10.1063/1.4974831.
↑Chemsafe Datenbank für sicherheitstechnische Kenngrößen im Explosionsschutz, PTB Braunschweig/BAM Berlin, abgerufen am 20. März 2019.
↑ abE. Brandes, W. Möller: Sicherheitstechnische Kenngrößen. Band 1: Brennbare Flüssigkeiten und Gase. Wirtschaftsverlag NW – Verlag für neue Wissenschaft, Bremerhaven 2003.
↑Jack R. Layne, Adrienne L. Jones: Freeze tolerance in the gray treefrog: Cryoprotectant mobilization and organ dehydration. In: Journal of Experimental Zoology. Band290, Nr.1, 15. Juni 2001, S.1–5, doi:10.1002/jez.1030.
↑EFSA Panel on Food Additives and Nutrient Sources added to Food (ANS), Alicja Mortensen, Fernando Aguilar, Riccardo Crebelli, Alessandro Di Domenico, Birgit Dusemund, Maria Jose Frutos, Pierre Galtier, David Gott, Ursula Gundert‐Remy, Jean‐Charles Leblanc, Oliver Lindtner, Peter Moldeus, Pasquale Mosesso, Dominique Parent‐Massin, Agneta Oskarsson, Ivan Stankovic, Ine Waalkens‐Berendsen, Rudolf Antonius Woutersen, Matthew Wright, Maged Younes, Polly Boon, Dimitrios Chrysafidis, Rainer Gürtler, Paul Tobback, Ana Maria Rincon, Alexandra Tard, Claude Lambré: Re‐evaluation of glycerol (E 422) as a food additive. In: EFSA Journal. Band15, Nr.3, 2017, doi:10.2903/j.efsa.2017.4720, PMID 32625431, PMC 7009851 (freier Volltext).
Dieser Artikel behandelt ein Gesundheitsthema. Er dient weder der Selbstdiagnose noch wird dadurch eine Diagnose durch einen Arzt ersetzt. Bitte hierzu den Hinweis zu Gesundheitsthemen beachten!