Das Estnische Heer (estnischEesti Maavägi) umfasst den personalmäßig größten Teil der estnischen Streitkräfte (Eesti Kaitsevägi). Aktuell (Stand 2017) verfügen die Landstreitkräfte über zwei Infanteriebrigaden, die auf mehrere Standorte im Norden bzw. Südosten des Landes verteilt sind. Die wichtigste Militärbasis befindet sich in Tapa, wo ein Brigadehauptquartier und zahlreiche andere Einheiten stationiert sind.
Bereits zwischen 1918 und 1940 gab es ein estnisches Heer. Unter massivem Druck und Gewaltandrohung durch die Sowjetunion traten die baltischen Länder 1940 dieser bei. Die estnische Armee (und damit auch das Heer) wurden in der Folgezeit aufgelöst / in die sowjetischen Streitkräfte integriert.
Estland gewann 1991 seine Unabhängigkeit zurück; die Streitkräfte wurden am 3. September 1991 neu gegründet. Die allgemeine Wehrpflicht führte Estland 1992 ein; 1995 beteiligte sich das estnische Heer erstmals mit einer Einheit an der UN-Mission in Kroatien. Diese Jahre des Neuaufbaus waren durch die Wiederherstellung einer funktionsfähigen Infrastruktur, die Beschaffung von (größtenteils gebrauchter) Militärtechnik, eine Annäherung an den Westen und die zunehmende Zusammenarbeit mit den baltischen und skandinavischen Nachbarstaaten geprägt. Mit der Professionalisierung bei Armee und staatlichen Institutionen, begann man dann den Einsatz der vorhandenen Mittel systematischer anzugehen. Dies führte dazu, dass das Heer in den nächsten Jahren gezielt zu einer mechanisierte Truppe aus- und umgebaut wurde. Zudem fand eine generelle Konzentration auf bestimmte Standorte statt.
Mit dem National Defence Development Plan 2013–2022 wurde die Struktur des Heeres noch einmal erheblich verändert. Die Führung der Landstreitkräfte wurde mit der Armeeführung verschmolzen – seitdem untersteht das Heer direkt der Armeeführung. Zudem wurden zwei Brigaden geschaffen, denen die anderen Heereseinheiten direkt untergeordnet wurden.[1]
Im Jahr 2023 wurde ein Divisionskommando aufgestellt. Mit diesem entstand einerseits wieder eine einheitliche Führungsstruktur für das Heer und andererseits können die estnischen Einheiten im Kriegsfall so einfacher in die NATO-Kommandostruktur integriert werden.[2]
Aufgaben
Die Landstreitkräfte, die größte militärische Teilstreitkraft Estlands, sind für den Schutz des Staatsgebietes der Republik Estland von entscheidender Bedeutung. Zudem stellen sie Einheiten mit Operationsmöglichkeiten außerhalb des nationalen Sicherheitsbereiches.
Die Aufgaben des Heeres sind Aufbau und Aufrechterhaltung von schnellen Eingreiftruppen, Allzweck-Kampfgruppen, „Home Nation Support“ und die Unterstützung der territorialen Entwicklung. Wenn nötig, unterstützt das Heer die Zivilorganisationen beim Eintritt von Naturkatastrophen oder im allgemeinen Katastrophenfall.
Friedenszeit
Ausbildung und Weiterbildung
Teilnahme an Übungen und Operationen mit der NATO und anderen Partnern
Unterstützung der Zivilorganisationen bei Naturkatastrophen
Krisensituation und Kriegsfall
Erhöhung der Ausbildung von Rekruten
teilweise oder vollständige Mobilisierung der Reservisten
Schaffung der Voraussetzung für die Ankunft der Alliierten
Organisation
Die Landstreitkräfte sind nach dem Prinzip einer Reservearmee strukturiert, was bedeutet, dass der größte Teil der Streitkräfte des Staates Einheiten im Reservestatus sind. Unter den aktiven Einheiten ist lediglich das Scoutspataljon und eine Einheit Spezialkräfte mit wenigen hundert Soldaten jederzeit voll einsatzbereit. Der Rest der Verbände dient der Ausbildung von Reservisten. Deren Ausbildung umfasst einen acht- oder elfmonatigen Wehrdienst, der mit einem jährlichen Manöver der gesamten Streitkräfte im Juli abschließt. Anschließend werden die Soldaten in die Reserve entlassen. Die Reserveeinheiten werden nach dem Territorialprinzip gebildet, das heißt, dass Wehrpflichtige von einem Gebiet in dieselbe Einheit abgerufen und nach dem Dienst als eine Einheit in die Reserve beordert werden. Bei einer Einberufung der Reservisten treten sie in den gleichen Einheiten zusammen, in denen sie ihre Ausbildung absolviert haben.
Die Größe des aktiven Heeres beträgt in Friedenszeiten ungefähr 3.100 Soldaten und wird in den nächsten Jahren auf 3.600 wachsen. Hinzu kommen 1.600 bis 2.900 Rekruten. Im Mobilmachungsfall wächst diese Zahl durch die Einziehung der Reservisten auf etwa 18.000 Soldaten, zukünftig 22.000 an. Insgesamt stehen 60.000 Reservisten zur Verfügung. Die Ausrüstung der Reserveformationen wird im Frieden in zentralen Depots gelagert.[3]
Vor dem Hintergrund des Russischen Überfalls auf die Ukraine wurde in Estland erstmals seit den 1990er Jahren wieder eine Division aufgestellt. Dieser wurden alle Kampf- und verschiedene Kampfunterstützungseinheiten unterstellt.
Estnische Division
Die Diviis mit Hauptquartier in Tallinn gliedert sich wie folgt:[2]
1. Infanteriebrigade – 1. jalaväebrigaad (Hauptquartier in Tapa)
Stabskompanie der 1. Brigade – Staabi- ja sidekompanii (Tapa)
Scout-Bataillon – Scoutspataljon (Tapa)
Kalev-Infanteriebataillon – Kalevi jalaväepataljon (Jõhvi)
Viru-Infanteriebataillon – Viru jalaväepataljon (Jõhvi)
Flugabwehrbataillon – Õhutõrjepataljon (Tapa)
Pionierbataillon – Pioneeripataljon (Tapa)
Versorgungsbataillon der 1. Brigade – Lahinguteeninduspataljon (Tapa)
Zuvor wurden die Landstreitkräfte Estlands bereits im Jahr 2013 neu strukturiert. An die Stelle der bisherigen 1. Brigade und der vier Verteidigungsdistrikte (vgl. unten) traten, entsprechend der langfristigen Verteidigungsplanung für die Jahre 2013–2022, zwei Brigaden.[1] Die zwei Brigaden sind während Friedenszeiten personell nicht vollständig besetzt. Die einzigen permanent einsatzbereiten Einheiten sind die zwei Brigadestäbe, das Scoutspataljon und die Einheit zur Kampfmittelbeseitigung.
Die 2. Infanteriebrigade wurde am 1. August 2014 aktiviert. Bis zum Jahr 2022 sollte sie ihre volle Einsatzstärke erreichen. Parallel dazu wurde die 1. Infanteriebrigade zu einer mechanisierten Brigade mit Ketten-Schützenpanzern und selbstfahrender Artillerie.
In Kriegszeiten sollten (und sollen) die beiden Brigaden mit Reservesoldaten auf volle Stärke gebracht werden. Neben den beiden Brigaden stellen die estnischen Verteidigungskräfte auch eine große Anzahl kleinerer leichter Infanterieeinheiten des estnischen Verteidigungsbundes, die mit lokalen Verteidigungs- bzw. Stay-behind-Operationen beauftragt sind.
1. Infanteriebrigade (Brigadehauptquartier – staap – in Tapa)[5]
Stabskompanie der 1. Brigade – Staabi- ja sidekompanii (Tapa)
Kalev-Infanteriebataillon – Kalevi jalaväepataljon (Jõhvi)
Scout-Bataillon – Scoutspataljon (Tapa)
Logistikbataillon der 1. Brigade – 1. jalaväebrigaadi tagalapataljon (Tapa)
Viru-Infanteriebataillon – Viru jalaväepataljon (Jõhvi)
Artilleriebataillon – Suurtükiväepataljon (Tapa)
Flugabwehrbataillon – Õhutõrjepataljon (Tapa)
Pionierbataillon – Pioneeripataljon (Tapa)
Panzerabwehrkompanie – tankitõrjekompanii (Jõhvi)
Aufklärungskompanie – luurekompanii (Tapa)
2. Infanteriebrigade (Brigadehauptquartier – staap – in Sirgu, Gemeinde Luunja)[6](voraussichtlich 2022 voll einsatzfähig)
Stabskompanie der 2. Brigade – Staabi- ja sidekompanii (Luunja)
Seit der Wiederherstellung der estnischen Streitkräfte am 3. September 1991 hat sich die Ausrüstung des Heeres stark entwickelt. Waffensysteme, die aus dem Bestand der ehemaligen Sowjetunion übernommen worden waren, sind fast vollständig durch solche westlicher Herkunft ersetzt worden. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen dabei Systeme der Luftverteidigung und Panzerabwehr sowie in jüngster Zeit auch schwere gepanzerte Waffensysteme.[7][8]
In den Jahren 1999/2000 hatte Estland die Möglichkeit, 20 Kampfpanzer vom Typ T-55 aus Polen geschenkt zu bekommen. Estland lehnte jedoch ab, da die Technik des T-55 veraltet war.[9][10]
Infanterie
Die Heeressoldaten sind mit Uniformen im neuen estnischen Digitaltarnmuster (ESTDCU) ausgestattet. Die Ausrüstung eines Soldaten beinhaltet einen PASGT-Helm, Interceptor Body Armor und ein Nachtsichtgerät. Estland kaufte 2024 ca. 10.000 ARGUS FS Mk2 Nachtsichtmonokulare für seine Streitkräfte.[11] Zudem sind die Soldaten entsprechend ihrer Aufgaben mit folgenden Waffen ausgerüstet:
Die Standardwaffe der 1. Infanteriebrigade ist das Galil, die der 2. Infanteriebrigade ist das AK4, die schwedische Version des Schnellfeuergewehrs HK G3. Im Jahr 2022 werden 3 Versionen des MARS-L der Lewis Machine and Tool Company (LMT) die vorhandenen Standardwaffen ablösen.
Es werden in der estnischen Armee im infanteristischen Einsatz zwei Maschinengewehre genutzt: das MG3 (7,62×51) für große Reichweite und das IMI Negev (5,56×45) für kürzere Distanzen. Außerdem verfügt jeder Trupp über ein Negev, wohingegen das MG3 nur ab Gruppenebene Verwendung findet.
Einige der Browning M2 wurden auf den Sisu-XA-180-Transportpanzern mit speziellen Drehtürmen montiert. Im Zuge der Friedensmission in Afghanistan wurden bisher drei der ehemals 60 Fahrzeuge vom Typ XA-180 zerstört.
Sonstige Fahrzeuge
Folgende Landfahrzeuge werden vom estnischen Heer eingesetzt:[25]
Grundsätzlich handelt es sich um Militärtechnik, die 20 bis 35 Jahre alt ist; die baltischen Staaten besitzen weder Ersatzteile noch technisches Know-how, um diese Fahrzeuge zu warten bzw. zu reparieren.
Hinzu kommt, dass ein effektiver Einsatz dieser Technik erst möglich wird, wenn baltische Soldaten daran geschult wurden.
Möglicherweise ist diese Ausrüstung auch primär nicht für die baltischen Streitkräfte gedacht, sondern soll nur vor Ort bereitgehalten werden, um bei Bedarf ein schnelles Eingreifen von US-Streitkräften zu gewährleisten.[49]
Dem Heer ist das Zentrum für Friedenseinsätze (Rahuoperatsioonide Keskus) unterstellt.
Estland nimmt seit 1995 an internationalen militärischen Operationen teil. Die Beteiligung an internationalen Operationen stellt einen wichtigen Beitrag zur Kooperation mit der NATO und anderen internationalen Organisationen dar. Neben geplanten Operationen beteiligt sich das Estnische Heer an den Rotationen der NATO Response Force und der EU Battlegroup, die unverzügliche Erwiderungen auf entstehende Krisen sicherstellen, einschließlich der raschen Durchführung von kollektiver Selbstverteidigung.
Im Jahr 2004 trat Estland der NATO bei, was eines der führenden Prioritäten seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit war. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind eines der Länder, mit denen Estland eine sehr enge Kooperation in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen führt.
Estland war im Rahmen der Koalition der Willigen von 2004 bis Ende 2008 mit einem Kontingent von bis zu 50 Soldaten im Irak stationiert. Außerdem stellt Estland Friedenstruppen für die internationalen Missionen in Bosnien und dem Kosovo. Zwischen Januar und Juni 2008 waren 50 estnische Soldaten Teil der Nordic Battlegroup.
Modernisierung
Die Ausbauprioritäten der Armee liegen in der Beteiligung an Missionen außerhalb des nationalen Territoriums und in Operationsdurchführungen zum Schutz des Staatsgebietes von Estland – auch in Kooperation mit den Alliierten. Dazu waren und sind verschiedene Maßnahmen zum Ausbau der Infrastruktur und Waffensysteme geplant.[51]
Entsprechend dem Long-Term Defence Development Plan[52] und folgender Entwicklungspläne der estnischen Regierung wurde und wird das estnische Heer einem Modernisierungsprozess unterzogen. Laut ursprünglicher Planung sollte das Heer bis zum Jahr 2018 mit modernen Kampfpanzern, Schützenpanzern (IFV) und Panzerhaubitzen ausgestattet werden, um eine aktive mechanisierte Brigade aufstellen zu können.[19] Außerdem sollten zusätzliche Transportpanzer beschafft werden.
Die Ausgaben des Long-Term Defence Development Plan waren vom BIP abhängig. Da sich das Bruttoinlandsprodukt nicht wie erwartet entwickelte, konnten nicht alle Ausbauprioritäten realisiert werden.
Dem Long-Term Defence Development Plan, der von 2009 bis 2018 reichte, schlossen sich der National Defence Development Plan 2013–2022[1] und der aktuelle National Defence Development Plan 2017–2026.[53] an. Nach dem erfolgten Ausbau der Infrastruktur soll in den nächsten Jahren (im Bereich des Heeres) vor allem die Anzahl der Wehrdienstleistenden erhöht und jeweils ein zusätzliches Infanterie- und Artilleriebataillon aufgestellt werden. Weiterhin sind die Anschaffung selbstfahrender Artillerie und von Panzerabwehrwaffen mit einer Reichweite von 4 bis 8 Kilometern vorgesehen.
2 bis 4 Einheiten (mit je drei Raketenwerfern (8 Raketen pro Raketenwerfer), einem Radarfahrzeug und einer Leitstelle pro Einheit und noch Zusatzfahrzeuge zur Beladung bzw. Instandsetzung) für ca. 400 Millionen EUR.
↑ abDiviis Abgerufen am 11. Februar 2023 (estnisch)
↑Martin Hurt: Lessons identified in Crimea. Does Estonia's national defence modell meet our needs? ICDS Policy Papers, Apr. 2014 online (pdf) (Memento vom 22. Mai 2014 im Internet Archive)
↑Kaitsevägi sai täiendavad maastikuveokid Onlinemeldung auf der Internetseite kaitseinvesteeringud.ee vom 29. Oktober 2024, abgerufen am 8. November 2024 (estnisch)