Claessens hält „Statusinkongruenz“ für eines der Schlüsselwörter der Soziologie. Die Statusinkongruenz seiner eigenen Herkunftsfamilie disponierte ihn nach seinen Angaben zum Soziologen: Sein Vater entstammte einer rheinländischen Familie, die sich in Ostpreußen ein 3000-Morgen-Gut gekauft hatte; seine Mutter kam aus einer Patrizierfamilie, den Fehlings. Er selbst wuchs indes in einer stigmatisierten Umgebung auf, in der BerlinerScharnhorststraße.[3]
Werk und Wirkung
Claessens' Beobachter- und Entdeckertemperament bestimmte seine Publikationen. Bedeutung erlangten diese vor allem in ihrer Kombination anthropologischer, biosoziologischer und soziologischer Ansätze zur Erforschung der Onto- und Phylogenese des Menschen. Obwohl von Norbert Elias’ Prozessanalysen beeindruckt (den er als einer der Ersten in Deutschland zitierte), war er ein durchaus selbständiger und innovativer Forscher, Autor und Herausgeber. Bereits in seiner Habilitationsschrift Familie und Wertsystem legte er (in Auseinandersetzung mit Scheler, Plessner und Gehlen) eine einflussreiche Theorie zur Entwicklung des Menschen vom Neugeborenen zum Kleinkind vor: Demnach hat – z. B. – der Mensch (gegenüber dem Tier) seine Instinkte nicht einfach eingebüßt, wie Gehlen postuliert, sondern aufzufindende „Instinktbauprinzipien“ beibehalten und (anthropologisch ermittelbar) differenziert entwickelt. Claessens' Studie Das Konkrete und das Abstrakte hatte entsprechend die Menschwerdung diesseits des Tier-Mensch-Übergangsfeldes zum Thema. Aus einer Flut von Nach-68er-Polemiken ragte seine Studie Kapitalismus als Kultur heraus. Sein klarer und unverblümter Stil und trockener Humor kamen seinen Lesern, zumal denen seiner Einführungsschriften und seiner Spezialstudien (etwa zur Rationalität, zum Fahren im Verkehrsfluss, zur Familie, zur Elite oder zur politischen Gewalt) zugute. In der akademischen Lehre prägten sein Sinn für Gerechtigkeit und seine hochschulpädagogische Gabe viele. Eine Anzahl davon wurden angesehene Wissenschaftler, ohne dass er eine Schule begründet hätte. Seine insgesamt starke, wenngleich stille Wirkung auf viele Forschungen (auch der Nachbardisziplinen) haben bis zur Aussage geführt, unter den nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufgetretenen deutschen Soziologen sei er der bedeutendste gewesen.[4]
Als Einstieg in Dieter Claessens' kulturanthropologisch begründeten handlungs- und systemsoziologischen Ansatz eignen sich seine Aufsätze im Sammelband Angst, Furcht und gesellschaftlicher Druck … (1966). Nicht nur, weil hier ein breit gefächertes intellektuelles Interessenprofil und thematisches Forschungsfeld sichtbar wird, sondern auch, weil sowohl im Leitaufsatz (1966, S. 88–101) zur Produktion von Konformverhalten in heutigen „pluralistischen“ Gesellschaften der westlichen Welt als auch im Beitrag zum Fahren im Verkehrsfluß und besonders im Autoreferat zur Habilitation (1962) – Die Familie in der modernen Gesellschaft (1966, S. 130–149) – deutlich wird, dass die Gesellschaft als Kulturzusammenhang und Handlungssystem von ihren Mitgliedern Verhaltensanforderungen, die oft subjektiv als Verhaltenszumutungen empfunden werden, zum Systemerhalt erwarten und verlangen muss.
Schriftenauswahl
Status als entwicklungssoziologischer Begriff (= Daten. 4, ZDB-ID 507956-1). Ruhfus, Dortmund 1965, (Unveränderte Neuauflage. Kovač, Hamburg 1995, ISBN 3-86064-244-8; seine Dissertation).
Familie und Wertsystem. Eine Studie zur „zweiten sozio-kulturellen Geburt“ des Menschen (= Soziologische Abhandlungen. 4). Duncker & Humblot, Berlin 1962, (4., durchgesehene Auflage. als: Familie und Wertsystem. Eine Studie zur „zweiten sozio-kulturellen Geburt“ des Menschen und der Belastbarkeit der „Kernfamilie“. ebenda 1979, ISBN 3-428-02699-3.
mit Arno Klönne, Armin Tschoepe: Sozialkunde der Bundesrepublik Deutschland. Diederichs, Düsseldorf u. a. 1965, (zahlreiche Auflagen).
Angst, Furcht und gesellschaftlicher Druck und andere Aufsätze. Ruhfus, Dortmund 1966.
Rolle und Macht (= Grundfragen der Soziologie. 6, ZDB-ID 966211-X). Juventa, München 1968, (3., überarbeitete Auflage. ebenda 1974, ISBN 3-7799-0137-4).
Nova Natura. Anthropologische Grundlagen des modernen Denkens. Diederichs, Düsseldorf u. a. 1970.
mit Karin Claessens: Kapitalismus als Kultur. Entstehung und Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. Diederichs, Düsseldorf 1973, ISBN 3-424-00479-0.
mit Karin Claessens, Biruta Schaller: Jugendlexikon Gesellschaft. Einfache Antworten auf schwierigen Fragen (= Rororo. 6195). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1976, ISBN 3-499-16195-8.
Gruppe und Gruppenverbände. Systematische Einführung in die Folgen der Vergesellschaftung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1977, ISBN 3-534-07337-1.
mit Wanda von Baeyer-Katte: Gruppenprozesse (= Analysen zum Terrorismus. 3). Westdeutscher Verlag, Opladen 1982, ISBN 3-531-11582-0.
Kapitalismus und demokratische Kultur (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 1041). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-28641-2.
Freude an soziologischem Denken. Die Entdeckung zweier Wirklichkeiten. Aufsätze 1957–1987 (= Soziologische Schriften. 58). Duncker & Humblot, Berlin 1993, ISBN 3-428-07672-9.
Sozialgeschichte für soziologisch Interessierte (= Teubner-Studienskripten. 137, Soziologie.). Teubner, Stuttgart 1995, ISBN 3-519-00137-3.
mit Daniel Tyradellis: Konkrete Soziologie. Eine verständliche Einführung in soziologisches Denken. Westdeutscher Verlag, Opladen 1997, ISBN 3-531-13001-3.
Über Dieter Claessens
Biruta Schaller, Hermann Pfütze, Reinhart Wolff (Hrsg.): Schau unter jeden Stein. Merkwürdiges aus Kultur und Gesellschaft. Dieter Claessens zum 60. Geburtstag. Stroemfeld u. a., Basel u. a. 1981, ISBN 3-87877-153-3.
↑Angaben zur Biographie beruhen auf Dieter Claessens: Von der Statusinkongruenz zur Soziologie. In: Christian Fleck (Hrsg.): Wege zur Soziologie nach 1945. Autobiographische Notizen. Leske + Budrich, Opladen 1996, ISBN 3-8100-1660-8, S. 39–59.
↑Dieter Claessens: Von der Statusinkongruenz zur Soziologie. In: Christian Fleck: (Hrsg.): Wege zur Soziologie nach 1945. Autobiographische Notizen. Leske + Budrich, Opladen 1996, S. 39–59, hier S. 42 ff.
↑So die Rede von Lars Clausen 1995, Soziologiekongress Halle.