Boris Blachers Kindheit und Jugend waren geprägt von häufigen Ortswechseln seiner Eltern; sein Vater stammte aus Reval (Tallinn) und hatte als Direktor einer russisch-deutschen Bank Führungspositionen in China, Sibirien und der Mandschurei.
Blacher verbrachte die Schulzeit in Chefoo, Hankau, Irkutsk und Harbin. Entsprechend vielsprachig – deutsch, estnisch, russisch, englisch, chinesisch, italienisch – und multikulturell wuchs er auf.[1] In seinem großbürgerlichen Elternhaus kam er früh mit Musik in Berührung[2] und erhielt Klavier- und Geigenunterricht. Als Schüler zeigte er Interesse am Musiktheater und lernte den Opernbetrieb auch von innen kennen, zunächst als freiwilliger Beleuchter an den jeweiligen Provinzbühnen, später als Arrangeur, indem er Klavierauszüge – beispielsweise von Puccinis Tosca – zu kompletten Orchesterpartituren umschrieb.[3]
Im Jahr 1922 kam er über Shanghai und Paris nach Berlin. Die kulturelle Vielfalt der Stadt faszinierte ihn so sehr, dass er zeitlebens dort wohnen blieb. Zunächst schrieb er sich an der Technischen Hochschule in Architektur und Mathematik ein, wechselte jedoch bereits 1924 zur Musikhochschule. Dort belegte er die Fächer Komposition (bei Friedrich Ernst Koch)[4] und Musikwissenschaft (bei Arnold Schering, Friedrich Blume und Erich Moritz von Hornbostel). Gleichzeitig entstanden erste Kompositionen: 1925 Musik zu einem Bismarck-Film, 1927 Drei Stücke für Flöte, zwei Klarinetten und Schlagzeug, 1929 die dadaistische Kammeroper Habemeajaja (estnisch für Barbier). In der Folgezeit lebte er von privater Lehrtätigkeit, schrieb Unterhaltungsmusik und Arrangements und arbeitete als Stummfilmbegleiter am Klavier.
Boris Blacher starb, knapp zwei Wochen nach seinem 72. Geburtstag, am 30. Januar 1975 in Berlin. Er wurde auf dem Waldfriedhof Zehlendorf beigesetzt (Grablage: 026-09). Blachers Grab schmückt ein Bronzebildwerk von Bernhard Heiliger.[5]
Werk
1937 erreichte er den Durchbruch mit seiner von den Berliner Philharmonikern unter Carl Schuricht uraufgeführten Komposition Concertante Musik für Orchester.[6] Ebenfalls 1937 schrieb er sein Divertimento: Intrada – Marsch op. 7 für Blasorchester und kommentierte: „In meinem Divertimento, das ich im Auftrage des Reichsluftfahrtministeriums geschrieben habe, schwebte mir ein Stil vor, der die disziplinierte Strenge des allgemein Militärischen mit dem technischen Charakter der Luftwaffe verbindet.“[7]
Nach einem von Karl Böhm (1894–1981) vermittelten Lehrauftrag am DresdenerKonservatorium, der ihm 1939 wieder entzogen wurde, weil die Gestapo seine jüdische Großmutter (Feliciana Boerling) entdeckte, und er daraufhin seinen Lehrstuhl verlor, (Gestapo Dokumente; 'Aufstieg und Rückzug': p79, in Boris Blacher 1903–75, Akademie der Künste, ibid.) auch weil er sich für die damals unerwünschte Musik von Schönberg, Hindemith und Milhaud einsetzte, durfte Blacher nicht mehr öffentlich unterrichten (ibid.).[8] Unter den (wenigen) modernen Komponisten, die während des Nationalsozialismus gespielt wurden, gehört Blacher zu den meist aufgeführten.
Nach Diktatur und Krieg hatte er mit mehreren Kompositionen Erfolg, u. a. mit den Variationen über ein Thema von Paganini, die ihn auch bei einem breiteren Publikum schlagartig berühmt machen. Ab 1945 leitete er eine Kompositionsklasse an dem von Josef Rufer gegründeten Internationalen Institut für Musik in Berlin-Zehlendorf. 1948 erhielt er einen Lehrstuhl für Komposition an der Berliner Hochschule für Musik (heute eine Fakultät der UdK Berlin). 1953 wurde er, als Nachfolger Werner Egks, zu deren Präsident ernannt.[9] Beide Positionen hatte er bis 1970 inne. Daneben bekleidete Blacher eine Fülle von kulturpolitischen Ämtern und war von 1968 bis 1971 Präsident der Berliner Akademie der Künste (deren Gründungsmitglied und Vizepräsident er seit 1956 bereits war).[10] Ab 1966 war er zudem Korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie der Künste in Berlin (Ost).
Boris Blacher hinterließ ein vielgestaltiges, abwechslungsreiches Werk, das – mit Ausnahme liturgischer Musik – fast alle musikalischen Genres und Stilgattungen umfasst.[11] So schrieb er unter anderem 14 Opern, 9 Ballettmusiken (in enger Zusammenarbeit mit Tatjana Gsovsky),[12] Solokonzerte für Klavier (3), Violine, Viola, Violoncello, Trompete und Klarinette, sowie Kantaten, Chorwerke, Sinfonien, Kammermusik und Lieder.
Besetzungszettel der 1966 uraufgeführten Oper Zwischenfälle bei einer Notlandung
Wirkung
Boris Blacher gehörte in den Jahren von 1945 bis 1975 zu den meistbeachteten und am häufigsten aufgeführten zeitgenössischen Komponisten in Deutschland. Insbesondere als Kompositionslehrer muss er als eine der wichtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der Musik des 20. Jahrhunderts angesehen werden.
Bei seinen eigenen, oft ironisch distanzierten Werken benutzte er unter anderem ein von ihm entwickeltes System sogenannter „variabler Metren“, um musikalische Form und rhythmische Symmetrie mit zahlreichen, arithmetisch aufgebauten Taktwechseln zu durchbrechen.[13] Obwohl überwiegend atonal komponierend, klingt seine Musik in hohem Maße verständlich. Sie ist gekennzeichnet durch tänzerische Leichtigkeit, klare Strukturen, geistreich-elegante Instrumentierung und pointierten Witz. Durch eine nahezu asketisch verschlankte Schreibweise ist sie frei von jedem falschen Pathos.
Auf Beschluss des Berliner Senats ist die letzte Ruhestätte von Boris Blacher auf dem Waldfriedhof Zehlendorf seit 1978 als Ehrengrab des Landes Berlin gewidmet. Die Widmung wurde zuletzt im August 2021 um die übliche Frist von zwanzig Jahren verlängert.[16]
Christopher Grafschmidt: Boris Blachers Variable Metrik und ihre Ableitungen. In: Quellen und Studien zur Musikgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart. Bd. 33. Hrsg. von Michael von Albrecht. Frankfurt a. M. 1996. ISBN 978-3-631-49597-1
Hanns Heinz Stuckenschmidt: Boris Blacher. Berlin 1985, ISBN 3-7931-1391-4
Michael Watzka: „Grundlagenforschung oder mehr als nur Experiment? Boris Blachers 'Ornamente für Klavier' als Gründungsurkunde der Variablen Metrik.“ In: Musik & Ästhetik 18/71. Hg. von Ludwig Holtmeier, Richard Klein und Steffen Mahnkopf. Stuttgart/Klett-Cotta 2014, S. 65–81.
Abschrift einer Fernsehaufzeichnung Musik im Technischen Zeitalter – Boris Blacher zu Gast bei Hanns Heinz Stuckenschmidt, 19. November 1962 in der Kongresshalle (heute UdK), live übertragen vom SFB-Fernsehen [1]
↑Stephan Mösch: Der gebrauchte Text. Studien zu den Libretti Boris Blachers. Stuttgart, Weimar 2002, S. 347
↑Fred K. Prieberg: Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945. CD-ROM-Lexikon, Kiel 2009, 2. Auflage, S. 515f.
↑Heribert Henrich u. a.: Boris Blacher 1903–1975. Dokumente zu Leben und Werk. Berlin 1993, S. 79
↑Heribert Henrich u. a.: Boris Blacher 1903–1975. Dokumente zu Leben und Werk. Berlin 1993, S. 89
↑Stephan Mösch: Der gebrauchte Text. Studien zu den Libretti Boris Blachers. Stuttgart, Weimar 2002, S. 352
↑vgl. Harald Kunz in: Hanns Heinz Stuckenschmidt: Boris Blacher. Berlin 1985, S. 58 ff.
↑vgl. Christiane Theobald, Boris Blacher und Tatjana Gsovsky in: Heribert Henrich u. a.: Boris Blacher 1903–1975. Dokumente zu Leben und Werk. Berlin 1993, S. 38 f.
↑vgl. Christopher Grafschmidt, Variable Metrik in: Heribert Henrich u. a.: Boris Blacher 1903–1975. Dokumente zu Leben und Werk. Berlin 1993, S. 42 ff.
↑Stephan Mösch: Der gebrauchte Text. Studien zu den Libretti Boris Blachers. Stuttgart, Weimar 2002, S. 352
↑Hanns Heinz Stuckenschmidt: Boris Blacher. Berlin 1985, S. 43