Als Zollingerdach bezeichnet man eine freitragende Dachkonstruktion nach einer Systembauweise, bei der gleichartige, vorgefertigte Einzelelemente rautenförmig zu einem Stabnetztragwerk (Gitterschale) zusammengesetzt werden. Das Bausystem wurde vom Merseburger Stadtbaurat Friedrich Zollinger Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt und ist auch unter dem Begriff Zollbauweise bzw. Zoll-Lamellen-Bauweise bekannt.
Die Zoll-Lamellen-Bauweise wurde, obwohl auch für andere Bauteile vorgesehen, vornehmlich für gebogene Dachwerke verwendet.
Besonders einprägsam sind die vielfach im Siedlungsbau der Zwischenkriegszeit eingesetzten Spitztonnendächer. Gegenüber dem traditionellen Satteldach mit ebenen Dachflächen bieten diese im Wohnhausbau einige Vorteile:
Die gewölbte Außenform des Daches und der Verzicht auf Balken und Stützen ergibt eine bessere Raumnutzung
Die notwendige Menge Holz für den Dachstuhl verringert sich um über 40 Prozent.[1]
Wegen der segmentweisen Aneinanderreihung relativ kurzer Holzstücke mit kleinen Querschnitten wird der Bedarf an langen geraden Bohlen verringert.
Durch die flächige Lastverteilung können große Spannweiten ohne Stütze überbrückt werden.
Die Montage des Daches ist so einfach, dass Bauherren beziehungsweise zukünftige Mieter bei dessen Errichtung mithelfen und somit Kosten sparen können.[2] Allerdings ist der Aufbau zeitaufwändiger.
Die Wohnungsnot der 1920er Jahre in Deutschland zwang Architekten und Stadtplaner, möglichst rasch und kostengünstig Wohnungen zu errichten. Bestehende Bautechniken wurden verbessert, Verfahren rationalisiert und neue Ideen entwickelt. In Merseburg befasste sich Stadtbaurat Friedrich Zollinger damit, Systeme für die fabrikmäßige Massenherstellung von typisierten Konstruktionen zu entwickeln. Er griff das von ihm bereits 1904–1910 erprobte Zollbauverfahren, ein schnelles Mauererrichtungsverfahren mithilfe typisierter Schalungen und Schüttbeton,[3] wieder auf und entwickelte passend hierzu ein leicht zu errichtendes Dach.[4] Gegenüber der herkömmlichen Bauweise wird beachtlich weniger Holz verwendet und die Raumausnutzung ist hoch. Die Montage ist so simpel, dass auch Laien mithelfen können.[5] Jedoch ist das Errichten der kleinteiligen Konstruktion recht zeitaufwändig.[6]
Basierend auf den Konstruktionsmerkmalen des gewölbten Bohlenbinderdachs (Tonnendach) mit parallelen Sparren, die jeweils durch zwei versetzt angeordnete Bretter miteinander verleimt waren, entwickelte Zollinger das Prinzip eines Rauten-Lamellendachs ohne Bohlen und Sparren. Am 14. Oktober 1921 meldete er seine Dachkonstruktion aus Brettlamellen zur Patentierung an. Am 28. Dezember 1923 wurde die Patentschrift ausgegeben. In ihr werden raumabschließende, ebene oder gekrümmte Bauteile festgeschrieben, die sowohl die Ausbildung gerader Dachflächen aus geraden Brettern als auch die Konstruktion der gewölbten Dachhaut aus gekrümmten Brettern ermöglicht.[7]
Die gewölbte Lamellenkonstruktion bot neben der Holzeinsparung weitere Vorteile: Aufgrund hoher Biegefestigkeiten konnten problemlos Öffnungen für Fenster oder Gauben aus dem Dachtragwerk ausgeschnitten werden. Durch die typisierten Abmessungen der Lamellen konnten sie gebäudeunabhängig maschinell im Sägewerk in großen Stückzahlen vorgefertigt werden.[2] Die ersten Dächer wurden wahrscheinlich 1922 in Merseburg gebaut.[5] Das Zollinger-Lamellendach wurde nicht nur beim Wohnungsneubau verwendet, sondern aufgrund seiner besonderen Eigenschaften auch beim Bau öffentlicher Gebäude, Scheunen, Flugzeug- und Eisenbahnhallen, Stadien, Markthallen und Kirchen. Von 1921 bis 1926 erfolgte der Vertrieb durch die Deutsche Zollbau-Licenz-Gesellschaft m.b.H., die danach durch die Europäische Zollbau-Syndikat A.G. ersetzt wurde. Während die Deutsche Zollbau-Licenz-Gesellschaft das Schüttbetonverfahren zusammen mit dem Lamellendach als System Zollbau vermarktete, vertrieb die Europäische Zollbau-Syndikat A.G. nur noch das Zollingerdach.[2]
Konstruktion
Beim Zollbau-Lamellendach werden gleichartige Brett- oder Bohlenstücke derart im Winkel zueinander angeordnet, dass in der Mitte einer nach rechts geneigt verlaufenden Lamelle die Enden zweier nach links geneigten Lamellen auftreffen und umgekehrt. Die Lamellenenden sind mit Schlossschraube und krallenbewehrter Unterlegscheibe durch ein Langloch in der Mitte der dritten Lamelle miteinander verbunden. Die Grundelemente aus jeweils drei nur außenseitig gerundeten Lamellbrettern werden gegeneinander eingedreht verbunden, so dass ein netzartiges Flächengebilde entsteht, das den optischen Eindruck von vielen nebeneinander und übereinander angeordneten Rauten vermittelt. Die vorgefertigten Lamellen, die an beiden Enden abgeschrägt sind, haben alle dieselben Maße 3 × 20 cm² bei 2,0 bis 2,5 m Länge. Durch diese Bauweise können auch besonders große Spannweiten ohne zusätzliche Abstützungen erreicht werden.[8][9]
Zur Zeit der Patentanmeldung ließ sich die Statik des Zollbau-Lamellendachs nicht exakt berechnen. Das Staatliche Materialprüfungsamt Berlin-Lichterfelde führte daher im Sommer 1922 und im Frühjahr 1923 an unterschiedlichen Zollingerdächern praktische Belastungsproben durch, ebenso die Materialprüfungsämter der Technischen Hochschulen in Dresden und Hannover. Da die Ergebnisse den theoretischen Näherungsrechnungen entsprachen, die Robert Otzen von der TH Hannover im Zuge der statischen Prüfung erstellt hatte, fiel diese letztlich positiv aus. Auch wenn sich aus heutiger Sicht Otzens nachträgliche Berechnungen als unzureichend erweisen, zeigt die große Zahl erhaltener Dächer, dass die Zollinger-Konstruktion ausreichende Tragereserven aufwies.[10]
Die in der Patentschrift ebenfalls erwähnte ebene Variante unterschied sich von der gewölbten lediglich in der Verwendung gerader, anstatt geschweifter Lamellen. Für das gewölbte Zollbau-Lamellendach wurden anfangs beidseitig gekrümmt zugeschnittene Bretter verwendet. Der Grad der Längsseiten-Wölbung bestimmte die Wölbung des Daches. Nach kurzer Zeit beschränkte man sich darauf, lediglich die nach oben zeigende Brettseite gekrümmt zuzuschneiden; die untere Seite blieb gerade. Dadurch konnten die in Mengen vorgefertigten Lamellen wahlweise für beide Dachformen verarbeitet werden.[11]
Das Zollingerdach lässt sich nur durch Näherung nachweisen. Das Verfahren dafür wurde von Robert Otzen entwickelt. Das Dach wird einmal als Dreigelenkbogen und einmal als eingespannter Bogen gerechnet. Die jeweils ungünstigsten Schnittkräfte werden für die Bemessung zugrunde gelegt. Das Dach wird als ein Streifen von Auflager zu Auflager gerechnet, die Schnittkräfte des Bogens werden in die Lamellenrichtung interpoliert. So lassen sich für die einzelnen Lamellen die jeweiligen Druck- und Biegemomente rechnen. Da zwei Lamellenenden jeweils außermittig verbunden werden, treten zusätzliche Momente in Querrichtung auf.[12]
Lutherhaus in Kötzschenbroda: Eingangsseite mit Orgelempore
Lutherhaus in Kötzschenbroda: Seitlicher Wandanschluss
Lutherhaus in Kötzschenbroda: Deckenkonstruktion
Risiken
Die Konstruktion eines Zollingerdachs barg auch Risiken. Mangelhafte Pflege stellte einen Unsicherheitsfaktor dar, da die Schraubverbindungen regelmäßig zu kontrollieren und gegebenenfalls nachzuziehen waren. Durch minderwertiges Holz, Fehlbelastungen und Folgeschäden am Holz aus undichter Dachhaut konnten Verformungen auftreten.[13]
Die Gefahr, dass zu flach konstruierte Dächer im Laufe der Zeit durchhingen, bestand ebenfalls. Auch monierten Brandsachverständige, dass die nur wenige Zentimeter dicken Lamellen einem Brand nicht lange standhalten könnten.[2]
Weiterentwicklung
In der Patentschrift zum Zollingerdach ist bereits die Möglichkeit erwähnt, statt Holz auch Beton oder Eisen als Werkstoff zu nutzen. Tatsächlich entwickelte die Firma Junkers in Dessau 1928 eine Konstruktion aus dünnen Stahllamellen für Bauten mit großen Spannweiten zukunftsweisend. Es entbrannte ein erbitterter, nie entschiedener Rechtsstreit darüber, wer die Lamellentechnik aus Metall vertreiben durfte. Die Europäische Zollbau-Syndikat AG und die Firma Junkers einigten sich außergerichtlich dahingehend, die Metallkonstruktion unter dem Namen Junkers-Zollbau-Lamellendach gemeinsam zu vermarkten.[2]
Wissenschaftler der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK Leipzig) wurden 2016 für ihre Forschungsarbeiten zur Modernisierung der Zollingerkonstruktion für herausragende Leistungen in der Denkmalpflege in Europa ausgezeichnet. Die Forschungsgruppe FLEX unter Leitung von Alexander Stahr befasst sich mit der Frage, wie die historische Zollinger-Konstruktionsweise mit heutigen Erkenntnissen und Herstellungsverfahren verbessert und den aktuellen Anforderungen angepasst werden kann und kam zu dem Ergebnis, dass viele Nachteile der historischen Konstruktion durch digitale Planungswerkzeuge und maschinelle Fertigung behoben werden können.[6][14]
Verbreitung
Die ersten, heute noch erhaltenen Zollinger-Lamellendächer wurden bereits ein Jahr vor der Patenterteilung in Merseburg errichtet und in den Jahren 1923–1926 zur Standardkonstruktion für verschiedene Bauaufgaben. Mithilfe der Deutschen Zollbau-Licenz-Gesellschaft und nachfolgend der Europäischen Zollbau-Syndikat AG wurde das Zollingerdach in alle Welt verbreitet. Auf regionaler Ebene bildeten sich dabei verschiedene bauausführende und lizenzvermittelnde Firmen.[2]
1926 warb die Europäische Zollbau-Syndikat AG auf einem Faltblatt mit bereits 850.000 errichteten Quadratmetern.[15]
↑Klaus Winter, Wolfgang Rug: Bautechnik 69, 1992, Heft 4, S. 193
↑ abcdefFlorian Zimmermann: Verbreitung und Vertrieb, in: Das Dach der Zukunft, 1997, S. 44–53
↑Lockerer, in Schalungen geschütteter und danach nicht oder nur wenig verdichteter Beton.
↑Karl Barth: Aus dem Siedlungswesen, Merseburg, 1922, S. 64
↑ abAmelie Seck: Was ist ein Zollingerdach? In: Deutsche Stiftung Denkmalschutz (Hrsg.): Monumente. Magazin für Denkmalkultur in Deutschland. Nr.4. Monumente Publikationen, 2019, ISSN0941-7125, S.17.
↑Julius Natterer, Thomas Herzog, Michael Volz: Holzbau Atlas Zwei, Hg. Institut für internationale Architektur-Dokumentation, München, durchgesehener Nachdruck 1994, S. 232.