Das Völkerrecht (Lehnübersetzung zu lateinischius gentium‚Recht der Völker‘) ist eine überstaatliche, aus Prinzipien und Regeln bestehende Rechtsordnung. Es regelt die Beziehungen zwischen den Völkerrechtssubjekten (meist Staaten) auf der Grundlage der Gleichrangigkeit. Die Bezeichnung Internationales Öffentliches Recht wird seit dem 19. Jahrhundert synonym verwendet, was auch auf den starken Einfluss des englischen Fachausdrucks public international law zurückzuführen ist.[1]
Das supranationale Recht gilt als Besonderheit des Völkerrechts, weil es ebenfalls überstaatlich organisiert ist; allerdings weist es durch die Übertragung von Hoheitsgewalt auf zwischenstaatliche Einrichtungen einige Besonderheiten auf, die nicht vollständig mit dem Völkerrecht erklärbar sind.
Der wesentliche Unterschied zwischen dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht besteht im Fehlen eines kompakten Kodex, eines zentralen Gesetzgebungsorgans, einer umfassenden, hierarchisch strukturierten Gerichtsbarkeit und einer allzeit verfügbaren Exekutivgewalt zur gleichförmigen Durchsetzung völkerrechtlicher Grundsätze.[2][3][4] Das klassische Völkerrecht wird den Staaten nicht oktroyiert, sondern stellt eine Koordinationsordnung zwischen ihnen dar. Vor ihm wurden nur die „christlichen“, später die „zivilisierten“ – also die europäischen Staaten – als Völkerrechtssubjekte anerkannt, was den Kolonialismus als legal erscheinen ließ. In der heutigen Völkerrechtsordnung, die sich insbesondere in der UN-Charta widerspiegelt, sind dagegen sämtliche Staaten gleichberechtigte Subjekte. Deshalb gilt grundsätzlich das Prinzip „Ein Staat, eine Stimme.“[5]
Zu unterscheiden ist zwischen dem Friedens- und Kriegsvölkerrecht, wobei das Friedensvölkerrecht auch die Normen umfasst, die den rechtmäßigen Einsatz militärischer Gewalt regeln (ius ad bellum), während als Kriegsvölkerrecht das im Krieg geltende Recht bezeichnet wird (ius in bello). Grundsätzlich kein Teil des Völkerrechts ist das internationale Privatrecht. Dieser Begriff erfasst vielmehr – ungeachtet eines oftmals völkerrechtlichen Hintergrunds – diejenigen staatlichen Normen, die das anzuwendende Recht bestimmen, wenn ein Sachverhalt mehrere staatliche Rechtsordnungen berührt.
Je nach Anzahl der Vertragsstaaten wird zwischen „allgemeinem“, „gemeinem“ und „partikularem“ Völkerrecht unterschieden.
Weiterentwicklung
In den letzten Jahrzehnten gibt es Entwicklungen hin zu einer zentralen Rechtsetzung im Völkerrecht. Vorhanden war diese Tendenz bereits zuvor, sie wird vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufgegriffen, der insbesondere nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 dazu übergegangen ist, noch nicht von allen UN-Mitgliedstaaten akzeptierte Verpflichtungen zur Terrorismusbekämpfung zu allgemein geltendem Recht mit Wirkung für und gegen alle Mitgliedstaaten zu erklären und sich dem sogenannten zwingenden Recht, dem ius cogens, zu nähern (Resolution 1373 und das Counter Terrorism Committee und Resolution 1540). Diese Entwicklung wird teilweise kritisch, teilweise gar skeptisch gesehen, weil es nicht der Konzeption des Sicherheitsrates als Exekutivorgan entspricht, der sich mit der Lösung einzelner Konflikte beschäftigen und nicht als „Weltgesetzgeber“ auftreten soll.
Mittlerweile wird auch der individuelleMensch zunehmend als partielles Völkerrechtssubjekt anerkannt. Gründe hierfür sind Rechte (insbesondere Menschenrechte) und Pflichten (etwa das Piraterieverbot oder das Verbot des Völkermords), welche sich aus dem Völkerrecht unmittelbar für den Einzelnen ergeben und welche er eigenständig (z. B. im Wege der Individualbeschwerde) geltend machen kann, bzw. für die er persönlich verantwortlich gemacht werden kann (z. B. vor dem internationalen Strafgerichtshof).
De-facto-Regime können aus Interessen der Stabilität ebenfalls partielle Völkerrechtssubjektivität aufweisen.[7] Dabei besitzen sie insbesondere Verantwortlichkeit für Völkerrechtsverstöße und profitieren u. a. vom Interventionsverbot sowie vom Gewaltverbot. Voraussetzung dafür ist, dass sie einen nicht nur unerheblichen Teil des Gebiets eines Staates für eine gewisse Dauer kontrollieren. Das Staatsgebiet muss umstritten, aber nicht umkämpft sein.[8]
Ob auch Völker eigenständige Rechtssubjekte im Völkerrecht sind, ist nicht geklärt. Sie tauchen in internationalen Vertragswerken meist in Bezug auf die Gleichberechtigung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf, vgl. jeweils Art. 1 des Sozialpaktes und des Zivilpaktes. Problematisch sind sowohl die Definition des Begriffs Volk als auch der genaue Inhalt des Selbstbestimmungsrechts.[9] Jedenfalls bei Vorliegen schwerwiegender Verletzungen von Menschen- und Minderheitenrechten kann von einem äußeren Recht auf Sezession ausgegangen werden.[10] Diese Schwelle ist weder in Bezug auf Katalonien noch auf die Krim erreicht worden, sodass ihnen völkerrechtlich gesehen kein Recht auf Sezession zusteht.[11]
Darüber hinaus erscheinen im Zuge der Globalisierung immer neue Akteure auf der Weltbühne und erfordern Beachtung vom Völkerrecht. Hierzu zählen insbesondere Nichtregierungsorganisationen, multinationale Unternehmen und Terroristen. Ihre Behandlung ist im Völkerrecht nicht geklärt. Obwohl etwa für terroristische Gruppierungen im humanitären Völkerrecht bestimmte Regeln gelten, werden diese neuen Akteure bisher überwiegend nicht als Völkerrechtssubjekte anerkannt.
Völkerrechtliche Verträge sind Vereinbarungen zweier (bilateral) oder mehrerer (multilateral) Völkerrechtssubjekte auf dem Gebiet des Völkerrechts, die von einem Rechtsbindungswillen getragen sind. Insbesondere das Merkmal des Rechtsbindungswillens macht die Abgrenzung zu bloßen Absichtserklärungen und Beschlüssen schwierig, vgl. auch Soft Law. Auch bei den Gründungsdokumenten internationaler Organisationen, wie der Vereinten Nationen oder der Welthandelsorganisation, handelt es sich um völkerrechtliche Verträge.
Das Völkergewohnheitsrecht setzt sich nach allgemeiner Meinung aus zwei Elementen zusammen: Einer Rechtsüberzeugung (opinio iuris) und der hiervon getragenen staatlichen Übung (consuetudo / state pratice).[12] Die konkreten Anforderungen, welche insbesondere an die Staatenpraxis zu stellen sind, sind umstritten und müssen jeweils im Einzelfall bestimmt werden. Es können jedoch einige Merkmale, wie etwa die Dauer der staatlichen Übung oder die Nähe des Staates zur betreffenden Rechtsmaterie, zu ihrer Bestimmung herangezogen werden (handelt es sich etwa um einen Binnenstaat, kann dieser schwerer das Seevölkergewohnheitsrecht beeinflussen). Auch das Verhalten von Staaten in Bezug auf Übereinkünfte, welche mangels Rechtsbindungswillen noch keine völkerrechtlichen Verträge darstellen, kann zur Entstehung von Völkergewohnheitsrecht beitragen. Ein Staat kann seine Bindung an noch im Entstehen begriffenes Völkergewohnheitsrecht verhindern, indem er diesem ausdrücklich und wiederholt widerspricht (persistent objector). Neuerdings wird darüber diskutiert, ob auch das Verhalten sonstiger Völkerrechtssubjekte als consuetudo unmittelbar an der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht mitwirkt. Gewisse Normen des Gewohnheitsrecht sind zudem zwingend, das heißt von ihnen darf nicht, auch nicht durch Vertrag (vgl. Art. 53 WVK), abgewichen werden (ius cogens). Beispiele für ius cogens-Normen im Völkerrecht sind das Piraterieverbot, das Verbot der Sklaverei und das Verbot des Völkermords.
Die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze bestehen aus Prinzipien, die allen nationalstaatlichen Rechtsordnungen gemein sind und dieselben Grenzen setzen, d. h. Grundsätzen, die jedweder Rechtsordnung immanent sind, zum Beispiel pacta sunt servanda (Verträge müssen eingehalten werden), lex specialis derogat legi generali (das speziellere Gesetz geht den allgemeineren Gesetzen vor) oder lex posterior derogat legi priori (ein späteres Gesetz geht einem vorherigen vor), venire contra factum proprium (Zuwiderhandlung gegen das eigene frühere Verhalten), Prinzipien, die auf dem speziellen Charakter des Völkerrechts beruhen, und Grundsätzen der Rechtslogik.[5]
Der in Art. 38 I IGH-Statut aufgeführte Kanon der klassischen Rechtsquellen des Völkerrechts ist, zumal er auch direkt lediglich den Internationalen Gerichtshof betrifft, nicht abschließend. Insbesondere einseitige Rechtsakte und Sekundärrecht internationaler Organisationen, wie Resolutionen des Sicherheitsrats, werden heute allgemein als rechtsverbindlich akzeptiert. Allerdings ist fraglich, inwieweit es sich dabei tatsächlich um selbstständige Rechtsquellen handelt, denn die Geltung einseitiger (unilateraler) Rechtsakte wird meist gewohnheitsrechtlich begründet und Sekundärrecht leitet sich stets vom Primärrecht der Organisation, und damit von einem völkerrechtlichen Vertrag, ab.
Völkerrechtliche Bestimmungen sind für alle Staaten gültig, unabhängig davon, ob sie zugestimmt haben oder nicht. Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht lässt sich nur in Zusammenschau mit der jeweiligen staatlichen Rechtsordnung beantworten. Monismus (Völkerrecht und nationales Recht bilden eine einheitliche Ordnung) und Dualismus (Völkerrecht und nationales Recht sind völlig getrennte Rechtsordnungen) stellen zwei theoretische Extreme dar, die in der Praxis nirgends in Reinform anzutreffen sind. Das untenstehende Schaubild gibt einen Überblick über die verschiedenen Ansätze.
Die Frage, ob eine völkerrechtliche Norm vom innerstaatlichen Rechtsanwender zu beachten ist, entscheidet sich allein danach, ob das jeweilige innerstaatliche Recht einen Umsetzungsakt verlangt oder nicht. Allgemein lässt sich jedoch sagen, dass die innerstaatliche Anwendung von Völkerrecht eigentlich in allen Rechtsordnungen eine hinreichend bestimmt formulierte Norm voraussetzt, die nicht nur an Staaten adressiert ist. Solche Normen werden als self-executing bezeichnet (nach richtiger Auffassung ist dieser Begriff jedoch dem jeweiligen nationalen Recht, nicht dem Völkerrecht zuzuordnen).
In Deutschland sind gemäß Art. 25 S. 1 Grundgesetz die allgemeinen Regeln des Völkerrecht unmittelbar verbindlich und stehen über den Gesetzen (→ Völkerrechtsklausel). Über das Verhältnis dieser allgemeinen Regeln zu den Vorschriften des Grundgesetzes trifft Art. 25 GG keine Aussage. Das universelle Völkerrecht umfasst die gemeingültigen Rechtsvorschriften, nicht bloß die Rechtsgrundsätze. Eine Umsetzung in nationales Recht ist nicht erforderlich. Allgemeines Völkerrecht bricht jedes innerstaatliche Recht in Bund und Ländern, nimmt aber nur einen Rang unterhalb des (Bundes-)Verfassungsrechts ein.[13]
Völkervertragsrecht bedarf der Transformation, die in der Regel mit der Ratifikation durch die gesetzgebenden Körperschaften (Vertragsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG) zusammenfällt, wodurch es in innerstaatliches Recht umgesetzt wird. Es steht dann im Rang eines Bundesgesetzes.
Theorien zum Verhältnis zu nationalem Recht, zum innerstaatlichen Vollzug, Anwendbarkeit und innerstaatlicher Rang
Verhältnis von Völkerrecht zu nationalem Recht
Innerstaatlicher Vollzug des Völkerrechts
Vollzugsfähigkeit
Innerstaatlicher Rang
durch völkerrechtlichen Vertrag speziell festgelegt
nicht speziell festgelegt
Monismus
Einheit von Völkerrecht und nationalem Recht
mit Völkerrechtsprimat (primacy of IL)
Vorrang des Völkerrechts
radikaler Monismus (strict monism)
jeder völkerrechtswidrige innerstaatliche Hoheitsakt ist nichtig
gemäßigter Monismus (tempered monism)
jeder völkerrechtswidrige innerstaatliche Hoheitsakt ist zunächst gültig, ist aber durch gerichtliche Kontrolle zu verwerfen
mit Primat des nationalen Rechts
Vorrang des nationalen Rechts
Dualismus
Völkerrecht und nationales Recht sind verschiedene Rechtsordnungen
radikaler Dualismus (strict dualism)
keine Konflikte möglich, da getrennte, sich allenfalls tangierende Kreise
gemäßigter Dualismus (tempered dualism)
teilweise Überschneidungen und damit Konflikte möglich; im Überschneidungsbereich: Kollisionsnormen, ansonsten: innerstaatlicher Hoheitsakt trotzdem gültig, aber Staat haftet nach außen
Adoptionstheorie (adaption)
Völkerrecht ist ohne weiteren Akt innerstaatlich anwendbar
nur self-executing Normen sind anwendbar, vollzugsfähig bzw. transformabel:
die Norm muss hinreichend bestimmt sein und
nach Wortlaut, Zweck und Inhalt den Einzelnen berechtigen oder verpflichten
Vollzugstheorie (execution)
Vollzugsbefehl begründet innerstaatliche Anwendbarkeit, ändert aber nicht den Adressatenkreis oder die Rechtsnatur (Völkerrecht)
Transformationstheorie (transformation)
strenge Transformationstheorie
gemäßigte Transformationstheorie
Transformation bewirkt nur Änderung des Adressatenkreises; Inkrafttreten etc. richtet sich daher nach Völkerrecht
generelle Transformation
spezielle Transformation
Einzelfalltransformation z.B. durch Zustimmungsgesetz zu völkerrechtlichen Verträgen = Vertragsgesetze
Das Völkerstrafrecht ist ein Teilgebiet des Völkerrechts und regelt die unmittelbar aus dem Völkerrecht entstehende strafrechtliche Verantwortung von Einzelpersonen für schwerste Menschenrechtsverletzungen. Im Falle von Völkerrechtsverbrechen (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und dem Verbrechen der Aggression) gelten die obigen Ausführungen zu den Völkerrechtssubjekten wie auch hinsichtlich des Verhältnisses zum nationalen Recht nicht bzw. nur sehr eingeschränkt. Zum einen können Einzelpersonen (und nicht Staaten) völkerstrafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.[14] Zum anderen bedarf es keiner Transformation in nationales Recht. Selbst entgegenstehendes nationales Recht, z. B. Amnestiegesetze, steht einer Strafbarkeit nach Völkerstrafrecht im Grundsatz nicht entgegen.[15]
Entscheidungen internationaler Gerichte stellen keine allgemeinen Rechtsquellen im Völkerrecht dar, weil ihre Wirkung auf die Parteien des konkreten Streits beschränkt bleibt.[16] In der Praxis allerdings haben Urteile und Gutachten des Internationalen Gerichtshofs großen Einfluss auf die Erkennung und Bestimmung völkerrechtlicher Normen. Gerichtsentscheidungen sowie Lehrmeinung renommierter Völkerrechtler werden deshalb auch als Rechtserkenntnisquellen bezeichnet und sind als solche in Art. 38 I lit. d IGH-Statut aufgeführt.
Umstritten ist der Rechtscharakter des sogenannten Soft Law, also des „weichen Rechts“, welches keine allgemeine Rechtsquelle im Völkerrecht darstellt. Hierbei handelt es sich zumeist um Erklärungen und Vereinbarungen, welche nicht unmittelbar als rechtsverbindlich klassifiziert werden können, wie etwa bloße Absichtserklärungen. Obwohl es keine unmittelbare Verbindlichkeit aufweist, hat soft law einen Einfluss auf das Völkerrecht und wirkt an seiner Entstehung mit, sei es durch die Vorbereitung internationaler Konventionen oder die Weiterentwicklung des Völkergewohnheitsrechts.
Geschichte des Völkerrechts
Bereits in der Antike waren Parlamentärsverhandlungen üblich, um Schlacht- und Kriegsfolgen zu mindern. Als erste „völkerrechtliche“ Vereinbarung lässt sich das Kriegsverbot zu Zeiten der Olympischen Spiele verstehen, die als panhellenischer Wettkampf verstanden wurden. Als bisher ältester „völkerrechtlicher“ Vertrag, der im Wortlaut überliefert worden ist, gilt das zur Mitte des dritten Jahrtausends vor Christus geschlossene Freundschafts- und Handelsabkommen zwischen den Königen von Ebla und Assur.[17]
Die Eroberungen Alexanders des Großen schufen eine hellenistische Welt, die durch kunstvolle Diplomatie mittelmeerische Rechtsgrundlagen schufen, die durch das Römische Reich adaptiert und entwickelt wurden und im Codex Iustinianus ihren Höhepunkt fanden.
Der Jesuit Francisco Suárez kann als Mitbegründer des Völkerrechts angesehen werden.[18]
1625 fasste Hugo Grotius in seinem Werk De jure belli ac pacis („Über das Recht des Krieges und des Friedens“) die bis dahin entwickelten Regeln zusammen. Sie wurden weiterentwickelt von Samuel von Pufendorf, Christian Wolff und anderen. Den Stand des Völkerrechts gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat Emer de Vattel zusammengefasst.[19]
Einer der entscheidenden Aspekte des modernen Völkerrechts, das Gewaltverbot, trat durch den Ersten Weltkrieg lange Zeit so zurück,[20] dass es erst nach dem Ende dieses Krieges zum ersten Mal im Briand-Kellogg-Pakt (Kriegsächtungspakt) zwischen den beteiligten Staaten vereinbart wurde. Zuvor beschränkte sich das Völkerrecht, was den Krieg angeht, darauf, zu versuchen, Grausamkeiten einzudämmen und die Zivilbevölkerung zu schützen.
Der deutsche General Erich Ludendorff machte die Einstellung der militärischen Elite zum Völkerrecht am Einsatz von U-Booten fest. Diese im Ersten Weltkrieg eingesetzten neuen Waffen sorgten für so große Verunsicherung, dass die deutsche Marine es als Knebelung verstand, nur noch feindliche Handelsschiffe angreifen, diese aber nicht versenken zu dürfen. Der Angriff musste mit Warnschüssen vor den Bug angekündigt, und am Ende mussten Schiffbrüchige aufgenommen werden.
„Unsere Gegner haben sich in ihrer Sorge vor dem U-Bootkrieg nicht gescheut, ihn ein völkerrechtswidriges und unmenschliches Kriegsmittel zu nennen. […] Neue Kriegsmittel schaffen neue völkerrechliche Normen. […] Es war unser gutes Kriegsrecht, für den U-Bootkrieg die Festsetzungen zu treffen, die wir für angemessen hielten, um unseren kriegerischen Zweck mit den Geboten der Menschlichkeit und der Rücksicht auf die Neutralen zu vereinigen.“[21]
Mit dem Völkerbund (gegründet 1919) und seiner Nachfolgeorganisation, den Vereinten Nationen (seit 1945), wurde erstmals eine gemeinsame internationale Ebene geschaffen, die auf die Sicherung eines für alle Staaten verbindlichen Völkerrechts abzielt.
Als Meilensteine des (positiven) Völkerrechts sind zu nennen:
Diese hergebrachte Periodisierung des Völkerrechts gerät seit der letzten Jahrtausendwende zunehmend in Bewegung, indem neben den Staaten auch nichtstaatliche Akteure an Bedeutung gewinnen und rechtspluralistische Tendenzen eingreifen.[23]
Theorie des Völkerrechts
Die Theorie des Völkerrechts betrifft zum einen die Frage der Normativität von Völkerrecht (mithin die Ebene der Rechtstheorie), zum anderen die Frage einer Gesamtbeschreibung des Völkerrechts, die einmal auf der höchsten dogmatischen Abstraktionsstufe (deskriptiv), ein andermal auf der Ebene der Rechtsphilosophie (normativ) erfolgen kann.
Normativität des Völkerrechts
Die Normativität des Völkerrechts wurde von der Naturrechtslehre aus dem göttlichen Willen abgeleitet. Voluntaristische Theorien führen sie auf den Willen der Völkerrechtssubjekte zurück, die den jeweiligen Rechtsnormen zugestimmt haben. Teilweise wurde dabei auf die Selbstbindung der Staaten (Hegel, Erich Kaufmann), teilweise auf den Konsens unter den Staaten abgestellt (Triepel, Rechtspositivismus). Hans Kelsen führte sie auf eine hypothetische so genannte Grundnorm zurück, die von anderen Autoren als reine Fiktion kritisiert wurde (Kelsen entgegnet in seiner letzten Veröffentlichung: sie ist reine Fiktion, denn die Geltung jeder Rechtsordnung beruhe auf einer praktischen Fiktion, die eben vom Willen der Teilnehmer abhänge,[24] eine Selbstbegründung sei denk-unlogisch). Soziologische Ansätze stellen auf die soziale Natur des Menschen und die natürliche Solidarität unter den Völkern ab (Georges Scelle).
Der Rechtscharakter des Völkerrechts wurde und wird von zahlreichen Autoren bestritten. Kelsen, bekennender Anhänger der Völkerrechtsidee,[25] erkannte dem seinerzeitigen Völkerrecht vor allem wegen weitgehend fehlender Durchsetzungsmechanismen nur den Charakter von in Entstehung befindlichem Recht zu. H.L.A. Hart bestritt zwar nicht den Rechtscharakter des Völkerrechts, hielt es allerdings nur für eine Ansammlung primärer Regeln, denen es zumindest zu seiner Zeit noch an einer allgemein akzeptierten, sekundären rule of recognition fehle. Heute bestreiten vornehmlich einige US-amerikanische Autoren die Normativität des Völkerrechts und sprechen ihm die Eigenschaft ab, auf das Verhalten von Staaten einwirken zu können. Während die New Haven School noch eine begrenzte Normativität des Völkerrechts anerkennt, sehen dies manche Vertreter einer ökonomischen Analyse des Rechts wie Jack Goldsmith und Eric A. Posner anders. Nach ihnen ist das Völkerrecht rein epiphänomenal: Staaten interessierten sich vor allem für ihre Sicherheit und die Mehrung ihrer Macht. Aufgrund dieser Interessen verhielten sich Staaten in gewissen Situationen gleichförmig. Werde dieses gleichförmige Staatenverhalten nun mit dem Prädikat „Gewohnheitsrecht“ versehen, so habe dies dennoch keinen Einfluss auf das Staateninteresse. Denn sobald sich etwa die Umstände derart änderten, dass ein Staat bei abweichendem Verhalten seine Interessen besser befriedigen könne, ändere dieser Staat sein Verhalten entsprechend. An eine mögliche Beschädigung seines Rufs verschwende der Staat dabei keinen Gedanken. Andere Vertreter der ökonomischen Analyse (Joel Trachtman, Andrew Guzman) gelangen mit ihren Modellen zu dem Ergebnis, dass das Völkerrecht in gewissen Situationen durchaus Einfluss auf das Staatenverhalten haben könne, da ein potenzieller Rechtsbrecher Reputationsverluste in seine Kalkulation miteinbeziehe. Das Völkerrecht besitzt nach ihnen also eine – wenn auch begrenzte – Normativität. Teile der Critical legal studies halten Recht für ein Instrument zur Verbrämung hegemonialer Machtpolitik und bringen seiner Normativität deswegen Skepsis entgegen.
In Kontinentaleuropa wird dagegen oftmals auf der Basis eines, auf den Staatenkonsens gestützten, Rechtspositivismus gearbeitet, ohne die Frage der Normativität des Völkerrechts weiter zu problematisieren.
Theoretische Gesamtbeschreibung des Völkerrechts
Die aktuelle Diskussion um eine theoretische Gesamtbeschreibung der Völkerrechtsordnung wird in Europa von zwei Begriffen beherrscht, dem der internationalen Gemeinschaft (oder Völkergemeinschaft)[26] und dem der Konstitutionalisierung. Die Diskussion findet auf verschiedenen Ebenen statt und betrifft einerseits deskriptive (retrospektive/dogmatische), andererseits normative (prospektive/philosophische) Aussagen über das Völkerrecht, was gelegentlich zu Missverständnissen führt.
Die Diskussion um die „internationale Gemeinschaft“ gewann durch die Verwendung dieses Begriffs in den Artikeln zur Staatenverantwortlichkeit der UN-Völkerrechtskommission von 2001 an Aktualität (Art. 33 (1) u. a.). Die Existenz einer „internationalen Gemeinschaft“ wird meist an gewissen aus der Rechtsordnung ableitbaren Gemeinschaftswerten festgemacht (Menschenrechte, Umweltschutz). Dogmatisch hat die Existenz von solchen Gemeinschaftswerten Konsequenzen u. a. für die Begründung von Normenhierarchien (z. B. ius cogens) oder für das Entstehen von Pflichten für Staaten gegen deren Willen. Dies wäre nach dem klassischen, auf zwischenstaatliche Koordination oder Kooperation ausgerichteten Völkerrecht undenkbar.
Parallel dazu wird von einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts gesprochen. Diese Diskussion stützt sich – bei allen Unterschieden im Detail – auf zwei Beobachtungen: Einerseits stellten staatliche Verfassungsdokumente aufgrund des stetig sich verdichtenden Netzes internationaler Rechtsbeziehungen, in das Staaten eingebunden sind, heute nur noch eine unvollständige Rechtsgrundlage für das Regieren in einem Staat dar. Die Verfassung eines Staats könne daher nur unter Einbeziehung der Völkerrechtsordnung begriffen werden. Andererseits erlaubten es verschiedene Entwicklungen im Völkerrecht, dort Elemente einer Verfassung auszumachen (z. B. Normenhierarchie, Frage des Verfassungscharakters der UN-Charta). Dogmatische Auswirkungen hat die Konstitutionalisierungsdebatte etwa auf die Frage, wieweit die domaine reservé eines Staats reicht, oder ob Normenkollisionen nach Wertungspräferenzen gelöst werden dürfen. Hierin zeigt sich eine gewisse Überschneidung der Diskussionen um „internationale Gemeinschaft“ und „Konstitutionalisierung“.
Neben diesen beiden vor allem in Kontinentaleuropa geführten Diskussionen darf nicht über eine verbreitete und massive Skepsis unter Staatenvertretern und Völkerrechtlern hinweggesehen werden. Viele von ihnen sehen in den Staaten nach wie vor die zentralen Völkerrechtssubjekte. Sie verweisen dabei nicht nur auf die institutionelle Schwäche der „internationalen Gemeinschaft“, sondern auch auf die Gefahr der Willkür, die die Einführung von wertenden Elementen ins Völkerrecht birgt.
Eine weitere Debatte beschäftigt sich mit der Frage, ob das Völkerrecht nicht auf eine zunehmende Fragmentierung zusteuert. Diese Debatte geht von zwei Beobachtungen aus: Erstens kommt es zwischen verschiedenen völkerrechtlichen Regimen immer häufiger zu Normenkollisionen (z. B. zwischen Welthandelsrecht und Umweltvölkerrecht oder zwischen Investitionsschutzrecht und den Menschenrechten). Zweitens kommt es zwischen den immer zahlreicher werdenden internationalen Gerichtshöfen und Schiedshöfen zu Überschneidungen in der Zuständigkeit, was zu Kompetenzkonflikten (z. B. zwischen dem Internationalen Seegerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof im MOX Plant Case) oder unterschiedlichen Entscheidungen in derselben Frage (z. B. zwischen Internationalem Gerichtshof und Jugoslawientribunal in der Frage der Zurechnung des Handelns von nichtstaatlichen Akteuren – Nicaragua-Fall vs. Tadić-Entscheidung) führt. Die Fragmentierungsdiskussion kann in gewisser Weise als Kritik an der im Rahmen der Konstitutionalisierungsdebatte von manchen Autoren vertretenen These von der Einheit der Völkerrechtsordnung verstanden werden. Im Jahr 2006 verabschiedete die Völkerrechtskommission einen Bericht über den Umgang mit Normenkollisionen.
Völkerrechtliche Verantwortung
Die völkerrechtliche Verantwortung bezeichnet die Pflichten von Völkerrechtssubjekten, die aus der Verletzung von Völkerrecht entstehen. Verletzte Staaten haben Anspruch auf Beendigung und Nichtwiederholung von Völkerrechtsverletzungen sowie Entschädigungsansprüche (vgl. Art. 30, 31 und 34 ff. ASR).
Die Völkerrechtskommission (englischILC) hat die „Artikelentwürfe über die Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidriges Handeln“ (ASR) herausgegeben. Diese kodifizieren zum Teil geltendes Gewohnheitsrecht, sollen aber auch das Recht weiterentwickeln. In diesem Zusammenhang wird daher von soft law gesprochen. Weiterhin entwirft die Völkerrechtskommission Artikel über die Verantwortlichkeit von Internationalen Organisationen.[27]
Internationale Streitbeilegung
Das Gebot der friedlichen Streitbeilegung ist Völkergewohnheitsrecht.[28] Gewöhnlich zählen Menschenrechtsschutzverfahren nicht zur internationalen Streitbeilegung. Klauseln zur Streitbeilegung sind Bestandteil der meisten Sachverträge über konkrete Materien.
Die wichtigsten Methoden der internationalen Streitbeilegung finden sich in Art. 33 UN-Charta. Es gilt das Prinzip der freien Wahl der Streitbeilegungsmethode. Zwei Methoden sind zu unterscheiden. Zum einen gibt es die diplomatisch-politische Beilegung von Streitigkeiten (Beispiele: Verhandlung, Vermittlung, Vergleich). Bei dieser Methode ergeht keine rechtsverbindliche Entscheidung. Der zweite Grundtyp der Streitbeilegung ist die rechtlich-gerichtsförmige Streitbeilegung. Hierbei werden Rechtsnormen angewendet und es kommt zu einer rechtsverbindlichen Entscheidung.
Diplomatisch-politische Mittel der Streitbeilegung
Verhandlungen sind das üblichste Mittel der Streitbeilegung. Viele Sachverträge sehen Verhandlungen als Mittel der Streitbeilegung vor (Art. 4 WTO-DSU; Art. 283 UNCLOS). Meistens sind Verhandlungen als Vorstufe vor einer rechtlich-gerichtsförmigen Streitbeilegung vorgesehen (Art. 14 Abs. 1 Montreal-Konvention; Art. 118 NAFTA-Abkommen).
Daneben gibt es die Untersuchung. Manchmal werden Ad-hoc-Untersuchungskommissionen eingesetzt (Untersuchungskommission zu den Vorkommnissen in Darfur, Sudan 2004/05; die UNO setzte eine fact-finding mission zum Gazakrieg von 2008/09 ein).
Die dritte diplomatisch-politische Streitbeilegungsmethode ist die Vermittlung. Vermittlung bedeutet die Einschaltung eines unbeteiligten Dritten, der helfen soll, eine Kompromisslösung zu finden.
Heute heftig umstrittene und für die zukünftige Entwicklung des Völkerrechts entscheidende Gebiete sind: das ius cogens, die humanitäre Intervention als Ausnahme vom Gewaltverbot und die präventive Selbstverteidigung. Welche Normen zum ius cogens gehören, ist im Einzelnen umstritten, jedoch zählen in jedem Fall der Kern des Gewaltverbots und elementare Menschenrechte zum unabdingbaren Bestand des Völkerrechts mit absoluter Wirkung (Wirkung erga omnes). Weitere von der Völkerrechtskommission (ILC) als denkbar genannte Beispiele umfassen Handlungen wie Sklavenhandel, Piraterie und Völkermord, die Verletzung der Gleichheit der Staaten sowie des Selbstbestimmungsrechts der Völker.
Humanitäre Interventionen
Bei der humanitären Intervention sind nicht nur die meisten Stellungnahmen sehr politisch gefärbt, vor allem herrscht oft Begriffsverwirrung. Zunächst wird zwischen Interventionen zur Rettung eigener Staatsangehöriger und der zur Rettung anderer Menschen unterschieden. Die Intervention zur Rettung eigener Staatsangehöriger auf fremdem Gebiet wird zum Teil als völlig unzulässig angesehen und von anderen Autoren mit der Völkerrechtsverletzung (Schutzpflichten) des Staates, in dem die Ausländer festgehalten werden, oder aber mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass die Intervention gar nicht auf eine fremde Staatsgewalt, sondern auf eine kriminelle Gruppierung abziele. Bei den humanitären Interventionen zur Rettung anderer Menschen muss wiederum zwischen den vom Weltsicherheitsrat autorisierten und den nicht von ihm autorisierten unterschieden werden.
Die Charta der UNO gibt dem Sicherheitsrat die Möglichkeit, gegen ein als „Bedrohung des Weltfriedens“ qualifiziertes Verhalten eines Staates zuletzt auch militärische Sanktionen zu verhängen. Hierzu sind gewohnheitsrechtlich keine direkt dem Sicherheitsrat unterstellten Truppen erforderlich, vielmehr werden Staaten zur Gewaltanwendung ermächtigt. Es ist umstritten, ab wann innerstaatliche Vorgänge den Weltfrieden gefährden, jedoch sieht der Sicherheitsrat diesen regelmäßig als bedroht an, wenn Völkermord oder sogenannte „ethnische Säuberungen“ Fluchtbewegungen auslösen, die auf die Nachbarstaaten übergreifen. Selbst wenn sich der innerstaatlich vorangetriebene Völkermord nicht auf die Nachbarstaaten auswirkt (z. B. keine Flüchtlingsströme), kann eine Bedrohung des Weltfriedens gegeben sein. Denn nach mittlerweile herrschender Auffassung wirkt das Verbot des Völkermordes erga omnes, begründet also eine Verpflichtung gegenüber allen Staaten der internationalen Gemeinschaft. Zudem zählt das Verbot des Völkermordes zum ius cogens und ist somit eine zwingende völkerrechtliche Norm. Völkermord betrifft damit immer die gesamte Staatengemeinschaft. Gleiches gilt wohl auch für gravierende und systematische Verstöße gegen elementare Menschenrechte.
Insbesondere durch das Vetorecht der ständigen Mitglieder oder politisch prekäre Konstellationen ist der Sicherheitsrat jedoch oftmals beschlussunfähig. Hier tut sich die eigentliche Fragestellung auf: Dürfen die Staaten bei Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrats als ultima ratio auch unilateral bzw. multilateral Gewalt anwenden? Eine Ansicht verneint dies kategorisch mit Hinweis auf das Gewaltverbot und die Missbrauchsgefahr. Die Gegenmeinung rechtfertigt auch eine humanitäre Intervention eines oder mehrerer Staaten ohne die Autorisierung durch den Sicherheitsrat im Falle eines sich gerade ereignenden Genozids, zum einen mit der naturrechtlichen Begründung, dass keine Rechtsordnung dazu verurteilen dürfe, einem Völkermord zuzusehen; zum anderen mit einer teleologischen Einschränkung des Gewaltverbots der UN-Charta; oder auch einfach mit neuem, die Charta überlagerndem Gewohnheitsrecht und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das diesen partiell den Charakter von Völkerrechtssubjekten verleiht, womit diese damit andere um Hilfe bitten können.
Präventive Selbstverteidigung
Während die UN-Charta ein Recht auf präventive Selbstverteidigung nicht vorsieht, ist nach Völkergewohnheitsrecht eine präventive, genauer: antizipatorische bzw. neutral: vorbeugende Selbstverteidigung in gewissen Situationen (Caroline-Kriterien) möglich. Dies ist nach überwiegender Meinung jedoch nur dann der Fall, wenn ein Angriff nachweislich unmittelbar bevorsteht und ein weiteres Abwarten die Effektivität der Verteidigung untergraben würde.[29]
Nach herrschender Meinung besteht derzeit kein Recht auf eine einer vermuteten Bedrohung (um Jahre) vorgreifende Verteidigung, wie sie etwa in der National Security Strategy vom September 2002 der USA unter Berufung auf den Begriff der präemptiven Selbstverteidigung angenommen wird. Damit sich die normative Kraft des Faktischen in einem solchen Fall durchsetzen kann, müsste die dergestalt neu postulierte Regel vom überwiegenden Teil der Staatengemeinschaft durch formalen Beschluss oder durch langdauernde stillschweigende Zustimmung (acquiescence) akzeptiert werden.
Das Selbstverteidigungsrecht im Völkerrecht
In der völkerrechtlichen Literatur wird teilweise die Meinung vertreten, dass eine im Einklang mit der UN-Charta stehende individuelle oder kollektive Selbstverteidigung nur gegen einen Staat gerichtet sein könne, dem eine Angriffshandlung bzw. ein bewaffneter Angriff zugerechnet werden kann. Die Zurechnung von Handlungen privater Rechtssubjekte, zu denen Terroristen nach der hier vertretenen Auffassung gehören (sofern man sie nicht als eigenständige Völkerrechtssubjekte betrachtet), könne nur erfolgen, wenn der betreffende Staat diese Personen auf seine Initiative hin entsendet oder in einem solchen Maße aktiv unterstützt (z. B. durch Ausbildung, Waffenlieferung) hat, dass von einer effektiven Kontrolle gesprochen werden kann. Ferner sollten auch „organisatorische Verknüpfungen“ zwischen Staatsregierung und den von ihrem Gebiet aus operierenden Terroristen ausreichen, wenn diese einen solchen Grad erreicht hätten, dass letztere „faktisch als Teil der staatlichen Strukturen“ anzusehen wären.[30]
Strittig ist, ob die Gewährung sogenannter safe havens, also Rückzugsmöglichkeiten für Terroristen innerhalb eines Staatsgebietes, ausreichend sein könnte, um das Selbstverteidigungsrecht gegen den gesamten betreffenden Staat anzuwenden. Allerdings ist auch im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten, das insbesondere die Eignung, Erforderlichkeit und das Übermaßverbot im Hinblick auf den Einsatz militärischer Zwangsmaßnahmen zu berücksichtigen hat.
Problematik der Durchsetzung des Völkerrechts
Da das Völkerrecht alle zwischenstaatlichen Abkommen umfasst, wird heute oft von zwingendem Völkerrecht gesprochen, was grundlegende Menschenrechtsnormen völkerrechtlich verbindlich macht. Zwingendes Völkerrecht ist jedoch nicht genau definiert. Meist werden die EMRK-Richtlinien, die UN-Pakte und ähnliche als Menschenrechte bekannte Verträge als zwingendes Völkerrecht verstanden.
Die meisten Mitglieder der UNO haben solche Menschenrechtskonventionen unterzeichnet. Die Problematik besteht jedoch in der Durchsetzung des Völkerrechts. Eine Durchsetzung ist kaum möglich: Als historisches Beispiel war Belgien während des Zweiten Weltkriegs völkerrechtlich als neutraler Staat anerkannt und respektiert, dennoch konnte diese Neutralität bei der Verletzung durch den deutschen Angriff im Mai 1940 von niemandem gewährleistet werden. Ebenso können die Folterungen in Guantánamo betrachtet werden.
Völkerrechtliche Normen können somit nur in bestimmtem Umfang durchgesetzt werden.
Problematik der demokratischen Legitimation im Völkerrecht
Völkerrecht wird durch Delegationen eines Landes in Kommissionen und gemeinsamer Arbeit erstellt. Die Delegationen der verschiedenen Staaten bestehen aus der Exekutive eines Staates, also Mitgliedern der Regierung. Diese erlassen Gesetze, welche sie später durchsetzen sollen. In demokratischen Ländern gilt jedoch das Prinzip der Gewaltenteilung, dabei werden Exekutive, Legislative und Judikative voneinander getrennt. Somit wäre eigentlich das Erlassen von Gesetzen Sache der Legislative.
Bei der UNO sind alle Regierungen von Mitgliedstaaten bei der Beratung und Ausarbeitung von völkerrechtlichen Verträgen involviert, somit auch alle undemokratischen Elemente der Staatengemeinschaft. Die aus solchen Verträgen resultierenden Bestimmungen gelten aber wiederum für alle. Oft geschieht dies auch, ohne dass sie von einem Staatsvolk abgesegnet wurden. Problematisch wurde diese Entwicklung erst in den letzten Jahren, als es zu einem radikalen Verständniswechsel vom Völkerrecht hin zum internationalen Recht gekommen ist. Die daraus resultierenden Gesetze greifen ins Privatleben des Souveräns im Allgemeinen und des einzelnen Bürgers im Besonderen ein, ohne dass dieser die Legitimation dazu erteilt hat.
Menschheit als Völkerrechtssubjekt
Das Völkerrecht begründet Rechte und Pflichten grundsätzlich nur für Völkerrechtssubjekte. Völkerrechtssubjekt sind grundsätzlich nur Staaten oder von Staaten geschaffene völkerrechtliche Körperschaften, z. B. die EU, WTO usw. Die Menschheit als solche, also die Gesamtheit aller auf der Erde lebenden Menschen, hat in klassischer völkerrechtlicher Sicht keine Völkerrechtssubjektivität und folglich weder Rechte noch Pflichten. Es gibt zwar die Vereinten Nationen, aber diese sind im Rechtssinne nur ein Verein von Staaten, nicht eine Vertretung der Menschheit als solcher. Die Menschheit als solche existiert für das Völkerrecht gar nicht. Das führt, etwa im Bereich des Umweltrechts, zu Schwierigkeiten. Beispiel: Staaten, welche die Klimakonvention nicht unterschreiben, handeln grundsätzlich nicht rechtswidrig, wenn sie klimaschädliche Gase emittieren; Staaten, welche die UN-Seerechtskonvention nicht unterschreiben, können ihren Müll beliebig in internationale Gewässer versenken – denn das Klima und auch die Hohe See gehören niemandem. Neuerdings vertritt der Rechtswissenschaftler Menno Aden[31] aber die Auffassung, dass die Menschheit Völkerrechtssubjekt sei, also als solche völkerrechtliche Rechte und gegebenenfalls auch Pflichten habe: Das Klima, die Hohe See usw. gehören nicht niemandem, sondern der Menschheit als solcher. Es ist also nach dieser Theorie auch ohne ausdrücklichen völkerrechtlichen Vertrag rechtswidrig, Gemeinschaftsgüter der Menschheit zu beschädigen oder exklusiv für sich in Anspruch zu nehmen. Zu diesen Gemeinschaftsgütern der Menschheit gehören auch übernationale Kulturgüter wie beispielsweise die Pyramiden, Anspruch auf historische Wahrheit und Informationsansprüche (beispielsweise, was sagen die Akten des Staates X über einen bestimmten historischen Vorgang usw.).
Hieraus ergibt sich nach Aden:[32] Die Menschheit hat als solche auch einen Anspruch gegen jeden Staat, dass dieser seine Rechtsordnung so einrichtet, dass jeder einzelne Mensch gleich welcher Herkunft Rechtsschutz genießt, und zwar im Rahmen gewisser unveräußerlicher Mindestgrundsätze: unparteiische Richter, Gewährung rechtlichen Gehörs, Zügigkeit des Verfahrens usw. Wenn ein Staat wegen Revolution, Krieg oder diktatorischer Regierung das völkerrechtlich bestimmte Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit nicht gewährleisten kann oder will, so darf[33] ein anderer Staat nach dem Grundsatz der größten Nähe (Internationale Notzuständigkeit; Proximitätsgrundsatz) an seiner Stelle tätig werden.
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