Ein Urbar oder latinisiertUrbarium ist ein Verzeichnis über Besitzrechte einer Grundherrschaft und (als Abgabenregister bzw. Steuerliste) zu erbringende Leistungen ihrer Grunduntertanen (Grundholden). Es ist eine bedeutende Wirtschafts- und Rechtsquelle des mittelalterlichen und frühneuzeitlichenLehnswesens. Auch für Gültbücher und Lagerbücher sowie Zinsregister wird der Ausdruck verwendet. Je nach Region und Schriftträger sind für diese Verzeichnisse im deutschsprachigen Raum auch die Bezeichnungen Salbuch, Saalbuch, Berain, Zinsverzeichnis, Heberegister, Erdbuch, Güterbuch und (Zins-)Rödel oder Rodel geläufig.
Der Begriff Urbar wird vom althochdeutschen „ur-beran“ bzw. dem mittelhochdeutschen „erbern“ für „hervorbringen“, „ertragbringendes Grundstück“ oder „einen Ertrag bringen“ abgeleitet.[2] Er lässt sich erst ab dem 13. Jahrhundert nachweisen[3] und bezeichnet zu ökonomischen, administrativen oder rechtlichen Zwecken angelegte Aufzeichnungen von Liegenschaften, Abgaben und Diensten einer Grundherrschaft (z. B. eines Klosters) oder einer Villikation. Urbariale Schriftträger sind, bei mitunter komplexen genealogischen Bezügen zwischen Konzept- und Ausführungs- bzw. Reinschrift, entweder zu Rödeln (lat. rotulus) zusammengenähte Pergamentstreifen oder, aus diesen übertragen, lagengebundene Codices.[4]
Um ein Urbar zu erstellen, suchten im Frühmittelalter Beauftragte des jeweiligen Grundherrn die ihnen bekannten Orte auf, in denen Ansprüche bestanden. Sie vereidigten Männer guten Rufs und befragten sie nach den lokalen Gewohnheiten und den Verpflichtungen der ortsansässigen Familia. Die mündlich und in der Volkssprache gegebenen Auskünfte wurden zunächst fast ausschließlich in lateinische Sprache übertragen und schriftlich dokumentiert. Meist wurde Hube für Hube (niederdeutsch Hufe) mit den sie bewohnenden Leuten und deren Pflichten aufgeführt. Die Genauigkeit der Aufnahmen differierte dabei so stark, dass anzunehmen ist, dass viele Pflichten über lokale Gewohnheiten geregelt waren und deshalb nicht eigens aufgeführt werden mussten.
Urbare konnten vor Gericht Anwendung finden, wie eine Urkunde Pippins I. von Aquitanien von 828 belegt. In einer Abschrift eines Urbars aus dem frühen 13. Jahrhundert findet sich eine „Gebrauchsanweisung“, wie diese „Büchlein“ im Streitfall eingesetzt wurden: Sie stammt von Cesarius von Milendonk, der im Jahr 1222 das 893 entstandene Urbar von Prüm, einem Kloster in der Eifel, abschrieb. Er wandte sich direkt an den zukünftigen Benutzer seiner Abschrift und gab Anweisungen zur Anwendung des „Buches“ bei Gericht. Auf den Höfen trafen sich dazu die Vertreter des Grundherrn, also des Abts von Prüm, mit Schöffen und Angehörigen der Familia. Dabei wird deutlich, wie das mündliche Verfahren zu dieser Zeit noch von weit größerer Bedeutung ist, und wie sehr die Schrift als „Drohgebärde“[5] eingesetzt werden konnte:
„Hüten soll sich, wer immer auch auf den Höfen mit den Schöffen und der Familia Gericht hält, ihnen sogleich das, was in diesem Buch zu finden ist, vorweg anzugeben. Vielmehr sollte man die Rechte der Kirche von ihnen sorgfältig erfragen, weil nichts (d. h. kein einzelner Rechtsanspruch) in jeder Hinsicht zufriedenstellend beschrieben ist, andere stark vernachlässigt sind, die nicht in diesem Buch geschrieben stehen. Z. B. sind hier zu Birresborn (in der Nähe von Prüm) die Fronfuhren und der Fasszins nicht erwähnt, beide werden jedoch geleistet. Man erfrage von ihnen sorgfältig die Rechte der Kirche und höre darüber; und sollten sie über irgend etwas schweigen, das in diesem Buch ausgedrückt ist, dann halte man ihnen dies geflissentlich vor, und so werden sie sich umso mehr fürchten.“
Sicherlich hat Cesarius die einschüchternde Wirkung des Buches überschätzt,[6] seine Stellungnahme deutet aber an, wie mit dem Urbar verfahren wurde. Seine Anweisung zeigt zudem, dass der ehemalige Abt die Vollständigkeit des Urbars nicht sehr hoch einschätzte.
Während sich im frühen und hohen Mittelalter die urbarialen Aufzeichnungen meist noch in kursorischen Besitzlisten bzw. summarischen Abgabenverzeichnissen erschöpften, traten im späten Mittelalter an deren Stelle umfassende Besitzbeschreibungen eines konkreten, auf Eigengutbewirtschaftung und Erblehensvergaben basierten Wirtschaftssystems (Herrschaft, Amt, Gericht, Liegenschaft, Anrainer, Lehensnehmer, Zinsabgaben (Naturalien oder Geld), Mortuarium). Zudem wurden in Urbare auch vermehrt Weistumspassagen, der lehnsrechtlich zu leistende Treueschwur der Grundholden, die regelmäßigen Termine der Dinggerichte und deren Beschlüsse aufgenommen, so dass es zu inhaltlichen Überschneidungen verschiedener Textsorten kam. Freiburg etwa verdankt die Überlieferung der ältesten Fassung seines Stadtrechts einer Abschrift im Urbar („Güterbuch“) des außerstädtischen Zisterzienser-Klosters Tennenbach. Überhaupt waren Urbare seit dem 13. Jahrhundert ein bedeutendes Instrument zur Organisierung der sich konstituierenden Landesherrschaft und wurden im deutschen Sprachgebiet nach 1300 zunehmend in der Landessprache verfasst bzw. in diese übersetzt.[7]
Die verstärkte Berücksichtigung urbarialer Quellentexte im Rahmen kritischer, kommentierter Volltexteditionen in der jüngeren Vergangenheit ließ Urbare bei insgesamt guter Überlieferungssituation zu einem wichtigen mediaevistischen Überlieferungsträger sowohl für die Bereiche der Landes- und Wirtschaftsgeschichte als auch der Sozial- und Sprachgeschichte des Mittelalters werden.
Hanns Bachmann (Hrsg.): Das Rattenberger Salbuch von 1416. Innsbruck 1970 (= Österreichische Urbare, hrsg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. I. Abteilung, 4. Band, I. Teil).
Wolfgang Kleiber: Urbare als sprachgeschichtliche Quelle. Möglichkeiten und Methoden der Auswertung. In: Vorarbeiten und Studien zur Vertiefung der Südwestdeutschen Sprachgeschichte, hrsg. v. Friedrich Maurer, Stuttgart, Kohlhammer, 1965 (zugleich erschienen in der Schriftenreihe Forschungen zur Oberrheinischen Landesgeschichte, Band XVII, Freiburg, Eberhard Albert Verlag 1965), S. 151–243.
Wolfgang Kleiber: Das Aufkommen der deutschen Sprache in domanialen Rechtsquellen (Urbaren) Südwestdeutschlands zwischen 1250 und 1450. In: Alemannisches Jahrbuch 1973/75 (Alemannica, landeskundliche Beiträge, Festschrift für Bruno Boesch), Bühl, Konkordia, 1976, S. 202–220.
Ludolf Kuchenbuch: Bäuerliche Gesellschaft und Klosterherrschaft im 9. Jahrhundert. Studien zur Sozialstruktur der Familia der Abtei Prüm. Wiesbaden 1978.
Gregor Richter: Lagerbücher- oder Urbarlehre. Hilfswissenschaftliche Grundzüge nach württembergischen Quellen. Stuttgart 1979 (Veröffentlichungen der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 36).
Roger Sablonier: Verschriftlichung und Herrschaftspraxis. Urbariales Schriftgut im spätmittelalterlichen Gebrauch. In: Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur, München 2002, S. 91–120.
Alfons Schäfer: Die ältesten Zinsrödel im Badischen Generallandesarchiv (Karlsruhe). Rödel als Vorläufer und Vorstufen der Urbare. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 112 (1964), S. 297–372.
Christhard Schrenk: Methoden der Auswertung frühneuzeitlicher Urbare am Beispiel des Orsinger Urbars von 1758. In: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, 102. Jg., 1984, S. 153–162.(Digitalisat)
Markus Wolter: Das neu aufgefundene, bislang älteste Urbar des Chorfrauenstifts zu Säckingen. Kommentierte Edition. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Band 155, Stuttgart, Kohlhammer 2007, S. 121–213; Textedition und Register überholt durch den korrigierten Wiederabdruck in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Band 156, Stuttgart, Kohlhammer 2008, S. 591–665; vgl. Eintrag mit Abbildungen im Marburger Repertorium. Überarbeitete Fassung auch als FreiDok-Publikation der Universität Freiburg im Breisgau, 2011.
↑Alfons Schäfer: Die ältesten Zinsrödel im Badischen Generallandesarchiv (Karlsruhe). Rödel als Vorläufer und Vorstufen der Urbare. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins (ZGO). 112 (1964), S. 297–372.
↑Ludolf Kuchenbuch: Bäuerliche Gesellschaft und Klosterherrschaft im 9. Jahrhundert. 1978.
↑Zu diesem Schluss kommt Ludolf Kuchenbuch in Die Achtung vor dem alten Buch und die Furcht vor dem neuen. Cesarius von Milendonk erstellt 1222 eine Abschrift des Prümer Urbars von 893. In: Historische Anthropologie. 3, 1995, S. 175–202.
↑Wolfgang Kleiber: Urbare als sprachgeschichtliche Quelle. Möglichkeiten und Methoden der Auswertung. In: Friedrich Maurer (Hrsg.): Vorarbeiten und Studien zur Vertiefung der Südwestdeutschen Sprachgeschichte. Stuttgart, Kohlhammer 1965 (zugleich erschienen in der Schriftenreihe Forschungen zur Oberrheinischen Landesgeschichte. Band XVII, Freiburg, Eberhard Albert Verlag, 1965), S. 151–243.
↑Josef Hartmann: Die archivalischen Quellen. Eine Einführung in ihre Benutzung. Hrsg.: Friedrich Beck, Eckart Henning. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1994, ISBN 3-7400-0882-2, 3. Amtsbücher. Arten und Formen der Amtsbücher in der städtischen und staatlichen Verwaltung. Verzeichnisse über Besitz und Abgaben (Urbare, Erbbücher, Erbregister), S.93–95, hier S. 94.