Das TübingerStocherkahnrennen ist ein traditionelles Bootsrennen studentischen Ursprungs auf dem Neckar. Als solches handelt es sich um ein lokal bedeutendes und überregional bekanntes touristisches Ereignis. Es findet jährlich – seit einigen Jahren immer am Fronleichnamstag – statt, Teilnehmer sind hauptsächlich lokale studentische Gruppen mit ihren Stocherkähnen. Das Stocherkahnrennen zählt zu den Höhepunkten[1] des universitären Sommersemesters, bei schönem Wetter verfolgen regelmäßig rund 15.000 Zuschauer[2][3] die Veranstaltung.
Das Rennen wurde 1956 von Mitgliedern der Studentenverbindung Tübinger Lichtenstein ins Leben gerufen. Zu diesem Zeitpunkt hat die Verwendung von Stocherkähnen in Tübingen bereits eine lange Tradition. Die erste bildliche Darstellung eines Stocherkahns im Zusammenhang mit Tübingen stammt aus dem 16. Jahrhundert, dargestellt in der CosmographiaSebastian Münsters. Erste Bildbelege über eine Nutzung von Stocherkähnen zu Vergnügungszwecken durch studentische Verbindungen finden sich schließlich im 19. Jahrhundert.[4]
Das Stocherkahnrennen selbst entwickelte sich aus einer Einweihungsfeier für den neu erworbenen Stocherkahn der Studentenverbindung. Die Lichtensteiner traten mit ihrem Kahn „Bluthund“ (heute Kahn #77) gegen sechs weitere Studentenverbindungen an. Das erste Schiedsgericht stellte die AV Virtembergia, da sie mangels Kahn nicht teilnehmen konnte, seither wird das Rennen regelmäßig durch den Verlierer des Vorjahres organisiert. Bereits in den Anfangszeiten des Wettbewerbs nahmen Mannschaften in Verkleidungen am Stocherkahnrennen teil. Seit 1967 wird daher zusätzlich zum Sieg im Wettrennen ein Preis für die originellste Kostümierung vergeben.[5]
Kurz nach dem Start (1977)
Stocherkahnrennen (1984)
Stocherkahnrennen (1984)
Das Teilnehmerfeld der ursprünglich auf Studentenverbindungen begrenzten Veranstaltung wurde im Laufe der Zeit auch für andere Gruppierungen geöffnet. Inzwischen ist die Veranstaltung fester Bestandteil des städtischen Veranstaltungskalenders und eine touristische Attraktion,[6][7][8] die regelmäßig 10.000 Besucher,[5][9] in der Spitze sogar zwischen 15.000 und 20.000 Besucher zählt.[10][11]
Zuschauer am Neckarufer (2006)
Kostümparade vor dem Rennen mit vielen Zuschauern (2012)
Zuschauer (2019)
Vergleichbare Traditionen in Großbritannien
Vergleichbare studentische Stocher-Traditionen existieren unter der Bezeichnung „Punting“ (engl.: to punt = staken, stochern) im britischen Oxford und Cambridge.[12]
Zum Rennen zugelassen sind lediglich unmotorisierte Stocherkähne aus Holz. Eine Mannschaft besteht aus acht Personen inklusive des „Stocherers“, wobei sieben davon versuchen, mit Hilfe der Hände den Kahn weiter zu beschleunigen oder sich der anderen Kähne zu erwehren. Mit Ausnahme der Stocherkahnstange sind Hilfsmittel jedweder Art untersagt. Die Details der Wettkampfbedingungen unterliegen häufigen Änderungen und entsprechen den Vorgaben des Stocherkahngerichts, das sich aus Mitgliedern der ausrichtenden Gruppierung zusammensetzt und jährlich wechselt.
Das Stocherkahnrennen beginnt traditionell mit einer Kostümparade aller Stocherkahnmannschaften auf dem Neckar. Die zuletzt rund 50 teilnehmenden Kähne und ihre Mannschaften präsentieren sich dabei den Zuschauern und der Jury des Stocherkahngerichts in selbst gebastelten Verkleidungen.[13] Aus allen Teilnehmern wird von einer Jury der Sieger des Kostümwettbewerbs gekürt, der einen Sonderpreis erhält.
Das anschließende Wettrennen führt um die Tübinger Neckarinsel herum. Die Länge der Wettkampfstrecke beträgt etwa 2,5 km,[14] der Zieleinlauf des Siegers erfolgt nach rund zwanzig Minuten.[15] Startpunkt ist eine Fußgängerbrücke westlich der Insel, von der aus die Insel nördlich umfahren werden muss. Der Wendepunkt befindet sich unmittelbar östlich der Insel, an einem Pfeiler der angrenzenden Neckarbrücke. Statt eines einfachen Wendemanövers muss der Pfeiler jedoch in Form einer Schleife umfahren werden. Der entscheidende Rennabschnitt ist dadurch der als Nadelöhr bezeichnete Zwischenraum zwischen Neckarinsel und Neckarbrücke, da er von jeder Mannschaft zweimal durchfahren werden muss. Er ist regelmäßig Schauplatz von Rangeleien, wenn sich die Stocherwege der an der Spitze liegenden, ausfahrenden Mannschaften mit denen des ebenfalls zur Wende ansetzenden Hauptfeldes kreuzen und sich die Teilnehmer somit gegenseitig blockieren. Nach Absolvierung des Nadelöhrs wird die Neckarinsel stromaufwärts im Süden umfahren, das Ziel befindet sich hinter einer Eisenbahnbrücke an der Westspitze der Insel.
Der Abschluss des Wettbewerbs mit Pokalvergabe und Lebertrantrinken fand früher auf dem sogenannten Bügeleisen, nahe dem Ziel am Westende der Neckarinsel, statt und heute auf einem Floß. Traditionell erhalten die Sieger des Rennens den Wanderpokal zusammen mit einem von der Stadt Tübingen gestifteten Fass Bier und verpflichten sich zur Ausrichtung der abendlichen Siegesfeier.[5][7] Die Mitglieder des Verliererteams müssen vor den Augen der Zuschauer pro Kopf jeweils einen halben Liter Lebertran austrinken und fungieren üblicherweise im Folgejahr als Veranstalter für das Rennen, was zugleich mit einer einjährigen Auszeit als Teilnehmer verbunden ist. Lebertran gibt es auch für wegen Regelwerksverstößen disqualifizierte Kähne. Ein Spanferkel als Sonderpreis geht an die Mannschaft mit der besten Kostümierung.
Regelmäßig kommt es zu Auseinandersetzungen um die Art und Weise der konkreten Austragung. Da das Reglement im Wortlaut häufig geändert wird, tauchen diesbezüglich immer wieder Unstimmigkeiten auf. So wurden 2003 die Regeln vor dem Rennen derart verschärft, dass nur studentische Gruppierungen zum Rennen zugelassen wurden. Daraufhin wurde dieses Rennen von vielen Stocherkahnfahrern boykottiert und ein weiteres, offenes Rennen im Anschluss ausgetragen. Diese scharfe Trennung wurde im Folgejahr jedoch aufgehoben.[16]
Die Verlierermannschaft ist üblicherweise der Ausrichter des nächsten Jahres.
b
Wird erst seit 1967 vergeben.
c
Wegen einer Regelwerksverschärfung fanden 2003 zwei Rennen statt. Rennen 1 wurde ausschließlich von studentischen Gruppen ausgetragen, Rennen 2 stand allen interessierten Gruppen offen.
d
Wegen „absichtlichen Verlierens“ und unsportlichen Verhaltens wurde die Mannschaft der AV Cheruskia Tübingen disqualifiziert. Die für diesen Regelverstoß zugedachte Strafe (Lebertran zu trinken) wurde demonstrativ verweigert.[67]
e
2020 und 2021 wurde das Stocherkahnrennen aufgrund der COVID-19-Pandemie nicht ausgetragen.
Lutz Rathenow: Kapitalismus mit Tübinger Antlitz. In: Jahrhundert der Blicke. Neue Gedichte. Landpresse Verlag, 1997, ISBN 978-3-930137-56-5.
Franz Moser: Tübinger Stocherkahnrennen (Würfelspiel). Verlag Schwäbisches Tagblatt, Tübingen 2001, ISBN 978-3-87407-374-5.
Literatur
Stefan Hug, Jörg Mielke: Die Stange bleibt am Mann. Der Stocherkahn und das Stocherkahnrennen in Tübingen. Universitas Verlag, Tübingen 2000, ISBN 3-924898-30-8.
↑Wolfgang Sannwald: Geschichtszüge. zwischen Schönbuch, Gäu und Alb: Der Landkreis Tübingen. Hrsg.: Landkreis Tübingen. 4. aktualisierte Auflage. Gomaringer Verlag, 2006, ISBN 978-3-926969-25-5, S.189.
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„Studentische Traditionen wie das weit verbreitete Maiensingen der Studenten (und oft auch der studentischen Korporationen), Semesterabschlusstraditionen wie das Stocherkahnrennen in Tübingen oder die Ruderregatta in Oxford und Cambridge, verschiedene Graduierungszeremonien werden gepflegt und als touristische Attraktionen ausgenutzt, auch wenn Universität und Stadt zugleich ihr modernes Image verteidigen müssen.“
Cora Dietl: Universitätsstädte. Stätten des Geistes und des Streits. In: Ulrich Müller, Werner Wunderlich (Hrsg.): Burgen, Länder, Orte (= Mittelalter-Mythen. Band5). UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2008, ISBN 978-3-89669-636-6, S.877.
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R. T. Rivington: Punting: Its History and Techniques. R. T. Rivington Punting Books, Oxford 1983, ISBN 978-0-9508045-2-1. Darin auch die folgende Passage zum Tübinger Stocherkahnrennen: „There are about 50 Stocherkähne at Tübingen, most of them owned by student clubs of the University, the Studentenverbindungen. There is a traditional annual race for these boats in June, the Stocherkahnrennen-Rennen [sic!]. It is a light-hearted event, the winning club has to give a party at it's club-house and the losers have to drink a glass of fish oil.“ (zitiert nach Hug/Mielke 2000)