Sputnikschock nennt man die politischen und gesellschaftlichen Reaktionen in der Westlichen Welt, insbesondere den USA und Westeuropa, auf den Start des ersten künstlichen ErdsatellitenSputnik 1 am 4. Oktober 1957 (Ortszeit: 2:50 Uhr, 5. Oktober) durch die Sowjetunion. Zur damaligen Hochzeit des Kalten Krieges war die Raumfahrt einer der Bereiche, in welchen sich die Sowjetunion und die USA ein Wettrennen lieferten. Dazu kam, dass mit der Rakete R-7 – dem Trägersystem des Sputnik – die Sowjetunion nunmehr offensichtlich in der Lage war, das Territorium der USA mit nuklear bestückten Interkontinentalraketen zu erreichen.
Nach dem Start von Sputnik 2 mit einem Gewicht von mehr als 500 kg schätzte die völlig überraschte amerikanische CIA das Startgewicht der Sputnik-Rakete aufgrund eigener Berechnungen auf 500 Tonnen und den Startschub auf mehr als 1000 Tonnen und ging von einer dreistufigen Rakete aus. Sie folgerte daraus, dass „der Start der zwei Erdsatelliten eine überwältigende wissenschaftliche Leistung“ bedeute und dass die „UdSSR die Interkontinentalrakete vervollkommnete und damit jedes gewünschte Ziel genau treffen kann“.[1] In Wirklichkeit betrug das Startgewicht der anderthalb-stufigen sowjetischen Rakete 267 Tonnen mit einem Startschub ca. 410 Tonnen. Die Fehleinschätzung der CIA kam dadurch zustande, dass sie die Leistung der zeitgleich entwickelten US-amerikanischen Atlas-Rakete (Startgewicht 82 t, Startschub 135 t, maximal 70 kg Satellit in Erdumlaufbahn)[2] hochrechnete. Teilweise beruhten die günstigeren Parameter der sowjetischen Rakete auf Konzepten des deutschen Raketenkollektivs unter Helmut Gröttrup auf der russischen Insel Gorodomlja, u. a. rigorose Gewichtseinsparungen, der Kontrolle der Restmenge des Treibstoffs und einem auf bis zu 1,4 reduzierten Verhältnis Startschub/Gewicht statt des üblichen Faktors 2.[3] Solche Details erfuhr die CIA bereits im Januar 1954, als sie den aus der UdSSR zurückgekehrten Gröttrup im Rahmen der Operation Dragon Return verhörte, aber nicht ernst nahm.[4]
Unmittelbare Auswirkungen
Eine unmittelbare Folge des Sputnikschocks waren verstärkte Anstrengungen der USA, beim Wettlauf ins All technologische Überlegenheit zu erlangen. Er beschleunigte die westlichen Raketenprogramme (auch jenes der Briten, siehe Blue Streak) und führte zur Gründung der NASA, um das Raumfahrtprogramm zu straffen.
Die enorme Publizitätswirkung kam für die sowjetischen Machthaber selbst überraschend, wurde dann aber zielstrebig propagandistisch eingesetzt; auch wurden weitere Mittel freigegeben, um die Überlegenheit des Kommunismus zu demonstrieren. So gelang nur vier Jahre später Juri Gagarin mit Wostok 1 der erste bemannte Weltraumflug, zehn Monate vor den Amerikanern mit Mercury-Atlas 6.
Der Start hatte sofort weltweit viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen,[5][6] und die Signale wurden überall genau beobachtet.[7] Die Sendefrequenz mit 20 und 40 MHz waren heraus zu bekommen, und viele Funker lauschten den ersten künstlichen Erdtrabanten.[8]
Sputnik verhalf den Rüstungsindustrien beider Seiten zu neuen Rekordgeschäften. Ähnlich der angeblichen sogenannten Bomberlücke der USA gegenüber ihrem Kontrahenten wurde von der CIA eine Raketenlücke attestiert und damit das Wettrüsten unterfüttert.[9] In Fachkreisen kam der erste Satellit dabei nicht einmal unerwartet, da er im Rahmen des Internationalen Geophysikalischen Jahres angekündigt worden war.
Bildungspolitik der USA
Der Sputnikschock löste eine Krise in der Selbstwahrnehmung der US-Amerikaner aus. Demokratie und freie Marktwirtschaft alleine reichten nicht aus für den Erhalt der in den vorangegangenen Jahren teilweise erreichten technologischen Überlegenheit. Die Tatsache, dass nun die kommunistische, planwirtschaftlich organisierte Sowjetunion den USA im Weltraum zuvorgekommen war, schockierte die US-Amerikaner. Forderungen nach einer grundlegenden Reform des Bildungssystems erlangten eine breite Unterstützung in der Bevölkerung. Es galt, die Sowjetunion beim Wettlauf ins All zu schlagen.
Eine Reformierung des US-amerikanischen Bildungssystems war schon von Präsident Truman im Jahr 1946 durch die Bildung einer Kommission angestoßen worden,[10] 1956 hatte Präsident Eisenhower eine weitere Kommission, das Committee on Education Beyond the High School ins Leben gerufen.[11] Nach dem Start von Sputnik schien jedoch laut Meldungen in US-amerikanischen Zeitschriften besonders im naturwissenschaftlichen Bereich Nachholbedarf zu bestehen, da die Sowjetunion die doppelte bis dreifache Anzahl an Ingenieuren ausbildete. Vizepräsident Nixon kritisierte Eisenhower öffentlich und erklärte Wirtschaftsführern, dass die Notwendigkeit des Schließens der Technologie-Lücke zwischen den USA und der Sowjetunion Steuersenkungen unmöglich machen könnte.[12]
Durch US-Präsident Dwight D. Eisenhower, der in einer Rede der Bildungspolitik einen höheren Stellenwert als der Raketenproduktion gab, wurde das Federal-aid-to-Education-Programm aufgelegt. Dieses Programm hatte ein Gesamtvolumen von 1,6 Milliarden Dollar. Diese flossen über einen Zeitraum von vier Jahren an zusätzlichen Bundesmitteln in das Bildungssystem.
Mit diesen Maßnahmen wurde ein Hauptaugenmerk auf die Förderung der bislang bildungsfernen Schichten gelegt, die eine noch nicht aktivierte Bildungsreserve darstellten. Die Erschließung dieser Reserve wurde in den folgenden Jahren auch durch Maßnahmen der Frühpädagogik (Gründung von Vorschulen) und durch das Einrichten eines Schulbusverkehrs gefördert. Durch ihn konnten auch Kinder aus abgelegenen Gegenden in zentral gelegene Schulen gelangen.
Als weitere Maßnahme wurde der Lehrplan an den Schulen neu gestaltet. Kurse, die sich vor allem mit der Haushaltsführung oder der konkreten Berufsausbildung befassten, wurden zugunsten von Fächern wie Mathematik, Physik und Chemie aus dem Lehrplan gestrichen.
Die Pläne von Eisenhower sahen aber ebenso eine Förderung geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer wie der Politikwissenschaft, der Geschichtswissenschaften und der Sprachwissenschaften vor. Durch diese Förderung sollten „weise Führer“ hervorgebracht werden, die die technologischen Errungenschaften zum Wohle des US-amerikanischen Volkes einsetzen können.
Yanek Mieczkowski: Eisenhower’s Sputnik Moment: The Race for Space and World Prestige. Cornell University Press, Ithaca 2013, ISBN 978-0-8014-5150-8.
Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation. Walter, Olten / Freiburg im Breisgau 1964, 2. Auflage: dtv TB 349, München 1965.
Igor J. Polianski, Matthias Schwartz (Hrsg.): Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter. Campus, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-593-39042-0.
↑Mark Wade: Atlas A. In: Encyclopedia Astronautica. Abgerufen am 1. November 2022 (englisch).
↑Helmut Gröttrup: Aus den Arbeiten des deutschen Raketen-Kollektivs in der Sowjet-Union. In: Deutsche Gesellschaft für Raketentechnik und Raumfahrt (Hrsg.): Raketentechnik und Raumfahrtforschung. Nr.2, April 1958, S.58–62: „Gegen Kriegsende herrschte allgemein die Auffassung, daß eine Startbeschleunigung von 2 g optimal sei. Wir haben über diesen Punkt eingehende Untersuchungen angestellt, bei denen die Zunahme der Triebswerksgewichte und der Gewichte der Bauteile, die zur Schubdurchleitung dienen, berücksichtigt wurden. Hierbei ergab sich, daß eine Startbeschleunigung von erheblich kleinerem Wert optimal sein kann. Eines unserer Projekte wurde für eine Startbeschleunigung von 1,4 g ausgelegt.“
↑Development of guided missiles at Bleicherode and Institut 88. (PDF; 1,1 MB) In: CIA Historical Collections. 22. Januar 1954, abgerufen am 30. September 2022 (englisch, Die Bezeichnungen R-12 und R-14 betreffen interne Projekte (auch als G-2 und G-4 bekannt), nicht die in der Kubakrise aufgestellten Raketen): „It was generally held up to now that the ratio thrust/take-off weights should be approximately two. [Gröttrup] discovered … that values as low as 1.2 for this ratio could give optimum results under certain conditions.“
↑Ed Creagh: Nixon Seemed More Concerned over Sputnik Than President. Hrsg.: Rome News-Tribune. 17. Oktober 1957 (englisch, surveillancevalley.com [PDF; abgerufen am 11. Mai 2020]).