Dieser Artikel bezieht sich auf den Vorgänger der heutigen ukrainischen und belarussischen Sprachen. Zu weiteren Bedeutungen siehe ruthenische Sprache (Begriffsklärung).
Der deutsche Name dieser ostslawischen Sprache ist von der Bezeichnung „Ruthenien“ abgeleitet, die neben „Russland“ und „Reußen“ eine Namensvariante für die Rus war. Die ruthenische Sprache (ruthenisch: руский ѧзыкъ, auch руски езыкъ,[1][2]руська мова, d. h. wörtlich ‚russische (reußische) Sprache‘ im weiteren Sinne, also ‚Sprache der Rus‘, sinngemäß ‚ostslawische Sprache‘, oder проста мова,[3][4][5][6][7] d. h. wörtlich ‚einfache Sprache‘ oder ‚Umgangssprache‘) entstand aus dem Altostslawischen und ist der Vorläufer des heutigen Ukrainischen, Belarussischen und Russinischen. Daher wird sie häufig (vor allem von den jeweiligen ostslawischen Völkern) als „Altbelarussisch“ (belarussischстарабеларуская мова) oder „Altukrainisch“ (ukrainischстароукраїнська мова), in der russischen Forschung vor allem als „Westrussisch“ (russischзападнорусский язык) bezeichnet. Der Linguist Christian Schweigaard Stang verwendete die Bezeichnung „westrussische Kanzleisprache“.[8]
Die historischen Sprecher dieser Sprache nannten sie selbst oft prostaja mowa (wörtlich „einfache Sprache“, in Abgrenzung vom Kirchenslawischen) oder ruskaja mowa, was in lateinischen Texten mit lingua ruthenica wiedergegeben wurde.
Geschichte
Die Geschichte des Ruthenischen beginnt im 14. Jahrhundert, als der westliche Teil des ostslawischen Sprachgebiets an das Großfürstentum Litauen fiel, das ab 1386 in Personalunion mit dem Königreich Polen von den Jagiellonen regiert wurde. Schriftsprache im Großfürstentum Litauen war nicht das Litauische (dessen erste Sprachdenkmäler stammen aus dem 16. Jahrhundert), sondern eine slawische Sprache, die Merkmale aufwies, welche für das heutige Belarussische und Ukrainische charakteristisch sind. Neben Urkunden und Rechtstexten entstanden auch religiöse Schriften, so u. a. in einer stark kirchenslawisch beeinflussten Variante die Bibelübersetzung des Franzischak Skaryna (erschienen in Prag 1517–1519) oder das stärker volkssprachlich geprägte Evangeliar von Peressopnyzja (1556–1561). Vor allem aber war Ruthenisch die Sprache der reichhaltigen konfessionellenPolemik (des literarischen Schlagabtauschs zwischen Orthodoxen, Unierten, Katholiken und Protestanten) in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.
Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts wurde in der Republik Polen-Litauen das Ruthenische als offizielle Hofsprache vom Polnischen verdrängt. Die lokalen Oberschichten verwendeten anfangs die ruthenische Sprache, es kam jedoch zu einer Polonisierung der Sprache und der Kultur in diesen Oberschichten. Die ruthenische Sprache wurde lediglich von der weniger gebildeten ländlichen Bevölkerung erhalten.[9] Das Ruthenische wurde aber noch bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts in einigen Dokumenten benutzt.
In Österreich-Ungarn war es noch bis zu dessen Zerfall üblich, die ostslawischen Untertanen der Monarchie, vornehmlich Ukrainer, als „Ruthenen“ und ihre Sprache als „Ruthenisch“ zu bezeichnen.
Literatur
Daniel Bunčić: Die ruthenische Schriftsprache bei Ivan Uževyč unter besonderer Berücksichtigung der Lexik seines Gesprächsbuchs Rozmova/Besěda. Mit Wörterverzeichnis und Indizes zu seinem ruthenischen und kirchenslavischen Gesamtwerk. München 2006, ISBN 3-87690-932-5.
Andrii Danylenko: „‘Prostaja mova’, ‘Kitab’, and Polissian Standard“. In: Die Welt der Slaven. LI, Nr. 1, 2006, S. 80–115.
Michael Moser: Mittelruthenisch (Mittelweißrussisch und Mittelukrainisch): Ein Überblick. In: Studia Slavica Academiae Scientiarum Hungaricae. 50, Nr. 1–2, 2005, S. 125–142.
Stefan M. Pugh: Testament to Ruthenian. A Linguistic Analysis of the Smotryc’kyj Variant. (= Harvard Series of Ukrainian Studies). Cambridge 1996.
Christian Stang: Die westrussische Kanzleisprache des Grossfürstentums Litauen. (= Skrifter utgitt av Det Norske Videnskaps-Akademi i Oslo, Historisk-filosofisk Klasse 1935,2). Oslo 1935.
↑Н. Б. Мечковская: Социальная лингвистика: Пособие для студентов гуманит. вузов и учащихся лицеев. — 2-е изд., испр. Аспект-Пресс, Moskau 2000, S. 106.
↑Лариса Пуцилева: Между Польским королевством и Российской империей: поиски национальной идентичности в белорусской поэзии // Contributi italiani al 14. congresso internazionale degli Slavisti: Ohrid, 10-16 settembre 2008. Firenze University Press, Firenze 2008, S. 202. fupress.com (Memento des Originals vom 11. Juli 2011 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.fupress.com (PDF; 2,9 MB) (russisch)
↑Christian Schweigaard Stang: Die westrussische Kanzleisprache des Grossfürstentums Litauen. Oslo 1935.
↑Piotr Eberhardt, Jan Owsinski: Ethnic Groups and Population Changes in Twentieth-century Central-Eastern Europe: History, Data, Analysis. M. E. Sharpe, 2003, ISBN 0-7656-0665-8, Google Books, S. 177.