Dieser Artikel beschäftigt sich mit der heutigen ethnischen Gruppe. Für den historischen Abriss siehe Geschichte der Russlanddeutschen.
Der Begriff Russlanddeutsche (russischроссийские немцы, wiss. Transliterationrossijskie nemcy, auch umgangssprachlichrussischрусские немцы, wiss. Transliteration russkie nemcy,russischнемцы России, wiss. Transliteration nemcy Rossii, oder auch veraltet russisch советские немцы, wiss. Transliteration sowetskije nemcy) ist ein Sammelbegriff für die deutschen bzw. deutschstämmigen Bewohner Russlands und anderer Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und des ehemaligen Russischen Reichs einschließlich der Deutsch-Balten. Die Russlanddeutschen, aber auch viele gemischt russisch-deutsche Familien sind inzwischen mehrheitlich in den mitteleuropäischen deutschsprachigen Raum, insbesondere in die Bundesrepublik Deutschland eingewandert bzw. übergesiedelt (zum Großteil im Zuge des Aussiedler-Programms).[1]
Sowohl die in Russland verbliebenen Deutschen als auch die aus Russland zugewanderten Deutschen wurden und werden als Russlanddeutsche geführt. Amtlich wird zwischen Aussiedlern (bis 1993 zugewandert) und Spätaussiedlern (seit 1993 zugewandert) unterschieden.
In Kurzbezeichnungen steht bei deutschsprachigen Herkunftsbezeichnungen meistens vorrangig der Staat und nachrangig die Ethnie, so auch bei dem Begriff „Russlanddeutsche“. Dieser Begriff bestätigt den Anspruch, dass die gemeinten Personen in erster Linie Deutsche sind, im Fall von Aussiedlern und Spätaussiedlern „Deutsche aus Russland“ bzw. „aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zugewanderte Deutsche“. Im Gegensatz hierzu gibt die Bezeichnung „Deutschrussen“ zu erkennen, dass die so Bezeichneten in erster Linie als „Russen“ (wenn auch mit einer besonderen Beziehung zu Deutschland) gelten. Diese Bezeichnung wird von vielen Betroffenen als Beleidigung empfunden[2] und ist begrifflich für die in Rede stehende Bevölkerungsgruppe ohnehin unzutreffend.[3]
Gelegentlich zu den Russlanddeutschen gezählt werden die Russlandschweizer, ein Begriff, der mit dem Ende der Zarenzeit und der danach folgenden Integration bzw. Abwanderung der Russlandflüchtlinge in der Schweiz jedoch an Bedeutung verloren hat. Die Präsenz von Schweizern in Russland basierte wesentlich auf dem 1872 vereinbarten Handels- und Niederlassungsvertrag[4] der beiden Staaten. Eine Aufschlüsselung der deutschsprachigen Minderheit in Deutsche, Österreicher oder Schweizer galt im Russischen Zarenreich und in der Sowjetunion amtlich nie als üblich, vielmehr wurden alle anhand der Sprache unterschiedslos als „Deutsche“ eingeordnet.[5][6]
Es handelt sich um eine regional ursprünglich sehr verteilte Gruppe, die nach dem Siedlungsort innerhalb des Russischen Zarenreiches unterteilt werden in Wolgadeutsche, Wolhyniendeutsche, Krimdeutsche, Kaukasiendeutsche, Schwarzmeerdeutsche, Sibiriendeutsche. Einige von ihnen gründeten selbst in Sibirien und im Fernen Osten am Amur Siedlungen. Vielerorts im Reich entstanden deutsche Enklaven als autonome Gemeinden mit Namen wie Mannheim, Josephsthal oder Schönfeld. Deren gemeinschaftliches Leben wahrte vielfach Traditionen aus der alten Heimat. Sie hatten eigene Kirchen und Ratsversammlungen, die für die deutsche Ortsgemeinschaft bindend waren.
Am 1. Juli 1991 wurde der 1938 aufgelöste deutsche Nationalkreis Halbstadt (Nekrassowo) im Altai wiedergegründet, am 18. Februar 1992 erfolgte die Gründung des deutschen Nationalkreis Asowo (bei Omsk). Bei Saratow und Wolgograd sollten weitere Nationalkreise oder -bezirke (Okrugi) gegründet werden. In der Nähe von Uljanowsk an der Wolga wurde ebenfalls Anfang der 1990er Jahre der deutsche Dorfsowjet (Dorfrat) von Bogdaschkino gegründet. Die Zukunft dieser autonomen Gebilde auf unterster Stufe ist jedoch fraglich, weil die alteingesessene deutschstämmige Bevölkerung auch von dort mehrheitlich bereits ausgewandert ist. Im Jahr 2010 stellten die Russlanddeutschen nur noch in der Region Altai und im Gebiet Nowosibirsk die größte Minderheit.[7]
Die im Jahr 2010 durchgeführte Volkszählung der Russischen Föderation nennt eine Gesamtzahl von 394.138 Deutschen, davon lebten 170.154 auf dem Land und 223.984 in Städten.[8]
In folgenden Regionen leben noch deutschstämmige Minderheiten:
Die im Altai lebenden Deutschen sind zum größten Teil ausgewandert, dennoch gibt es auch hier wieder einen deutschen Nationalkreis.
Prozentual gesehen machen die Deutschen heutzutage rund 0,41 % der gesamten Bevölkerung Russlands aus. In Sibirien leben proportional mehr Deutsche als in anderen Regionen, mehr als 350.000.
Russlanddeutsche Umsiedler in Deutschland
Während des Vorrückens der Roten Armee im Verlauf des Deutsch-Sowjetischen Krieges wurden ab 1943 insbesondere Schwarzmeerdeutsche, die in den nationalsozialistischen Herrschaftsbereich geraten waren, von SS-Dienststellen in den Warthegau umgesiedelt. Sie erhielten die deutsche Staatsbürgerschaft („Administrativumsiedler“), wurden aber nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zum Großteil im Rahmen der Zwangsrepatriierung nach Russland zurückgebracht. Erst im Rahmen der Ostpolitik konnten in den 1970er und 1980er Jahren über 70.000 Russlanddeutsche nach Deutschland umsiedeln.[9]
Mit dem Zerfall der Sowjetunion schnellten die Zahlen in die Höhe, es wird inzwischen von „Rückkehr“ gesprochen. Seit den 80er-Jahren kamen an die 2,3 Millionen Umsiedler aus Russland nach Deutschland.[10] Die nach den Revolutionen im Jahr 1989 angekommenen Aussiedler und Spätaussiedler wurden vergleichsweise gut integriert; die NZZ nannte den Integrationswillen im Jahr 2010 „exemplarisch“.[11] Es bestehen gegensätzliche Auffassungen dazu, wie die soziale und kulturelle Integration Russlanddeutscher verlaufen ist. Die Männer arbeiten überdurchschnittlich oft im produzierenden Gewerbe und im Baugewerbe, Frauen oft in geringfügiger Beschäftigung. Insgesamt (alle Familienmitglieder zusammengenommen) ähnelt die Einkommensstreuung russlanddeutscher Haushalte derjenigen der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund.[12]
Nach der Jahrtausendwende war eine Remigration aus Deutschland speziell nach Russland und Kasachstan erkennbar. Als Gründe spielten das wirtschaftliche Wiedererstarken im Osten als Pullfaktor sowie die defizitäre Integration in Deutschland als Pushfaktor für die individuellen Rückkehrentscheidungen eine Rolle.[13]
Als sich die Beziehung zu Russland nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 und den folgenden Sanktionen massiv verschlechtert hatte sowie zusätzlich seit Beginn der Flüchtlingskrise in Deutschland 2015/2016 fühlten sich viele Russlanddeutsche ungerecht behandelt und zu wenig willkommen.[14] In den von Russlanddeutschen auch konsumierten russischen Staatsmedien wurde Stimmung gegen Kanzlerin Merkel gemacht und der Neo-Faschismus als ein Hauptcharakteristikum im heutigen Deutschland dargestellt.[15] Erstmals seit 2004 sollte es vor den Wahlen 2017 wieder einen Wahl-O-Maten der Bundeszentrale für politische Bildung auf Russisch geben.[16] Russlanddeutsche Familien hatten nicht nur aus Furcht vor Diskriminierung in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg kein Deutsch mehr gesprochen, sondern hätten nach der Beobachtung der russlanddeutschen Journalistin Ella Schindler auch nie gelernt, sich eine freie Meinung zu bilden.[14] Einige zögen sich zurück „ins allseits Bekannte einer sowjetischen Vergangenheit“ und vertrauten einfachen Erklärungsmustern des russischen Fernsehens.[17]
Bekannte Russlanddeutsche
Politik
Jakob Höppner (1748–1826), Mitverantwortlicher für die Ostsiedlung der Mennoniten
Reinhard Aulich: Keine Spur von Romantik. Das generationenübergreifende Schicksal der Rußlanddeutschen. Zu einer Studie von Hugo Eckert. In: Suevica. Beiträge zur schwäbischen Literatur- und Geistesgeschichte. Bd. 9. 2001/2002 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik. Nr. 423). Heinz, Stuttgart 2004, ISBN 3-88099-428-5, S. 467–473.
Detlef Brandes, Victor Dönninghaus (Hrsg.): Bibliographie zur Geschichte und Kultur der Rußlanddeutschen. Band 2: Von 1917 bis 1998 (= Schriften des Bundesinstituts für Ostdeutsche Kultur und Geschichte. Band 13). Oldenbourg, München 1999, ISBN 3-486-56134-0.
György Dalos: Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart. Übers. von Elsbeth Zylla. C. H. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-67017-6.
Larissa Dyck, Heinrich Mehl (Hrsg.): Mein Herz blieb in Rußland. Rußlanddeutsche erzählen aus ihrem Leben. Zeitgut, Berlin 2008, ISBN 978-3-86614-145-2.
Alfred Eisfeld u. a. (Hrsg.): Die Russlanddeutschen (= Stiftung Ostdeutscher Kulturrat: Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche. Bd. 2). 2., erw. und aktualisierte Auflage. Langen Müller, München 1999, ISBN 3-7844-2382-5.
Alfred Eisfeld: Vom Stolperstein zur Brücke – Die Deutschen in Russland. In: Christoph Bergner, Matthias Weber (Hrsg.): Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland – Bilanz und Perspektiven (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Band 38). R. Oldenbourg, München 2009, ISBN 978-3-486-59017-3, S. 79–89 (PDF 8,2 MB. Ehemals im Original (nicht mehr online verfügbar); abgerufen am 7. November 2017.@1@2Vorlage:Toter Link/www.bkge.de (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven); eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
Christian Eyselein: Rußlanddeutsche Aussiedler verstehen. Praktisch-theologische Zugänge. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2006, ISBN 3-374-02379-7.
Walter Graßmann: Deutsch, deutscher geht’s nicht. Aussiedler und Spätaussiedler aus Russland. In: Einwanderung. Migration nach Deutschland (= Praxis Geschichte. 2015,4, Juli), OCLC913575779, S. 38–41.
Walter Graßmann: Lutheraner. In: Lothar Weiß: Russlanddeutsche Migration und evangelische Kirchen. In: Bensheimer Hefte. Nr. 115 (2013), ISSN0522-9014, S. 74–94.
Birgit Griese: Zwei Generationen erzählen. Narrative Identität in autobiographischen Erzählungen Russlanddeutscher. Campus, Frankfurt am Main/New York 2006, ISBN 3-593-38211-3 (Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 2005 u. d. T.: Konstruktion personaler und kollektiver Identität russlanddeutscher MigrantInnen).
Rudolf Grulich: Die rußlanddeutschen Katholiken. In: Die Römisch-katholische Kirche in der Sowjetunion (= Beiträge zur Religions- und Glaubensfreiheit. Nr. 2). 2. Auflage. Kirche in Not/Ostpriesterhilfe, München 1990 (online).
Hans Hecker: Die Deutschen im Russischen Reich, in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten (= Historische Landeskunde, Deutsche Geschichte im Osten. Band 2). 2. Auflage. Wissenschaft und Politik, Köln 1998, ISBN 3-8046-8805-5.
Merle Hilbk: Die Chaussee der Enthusiasten. Eine Reise durch das russische Deutschland. Aufbau, Berlin 2008, ISBN 978-3-351-02667-7.
Sabine Ipsen-Peitzmeier, Markus Kaiser (Hrsg.): Zuhause fremd – Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland (= bibliotheka eurasia. Band 3). Transcript, Bielefeld 2006, ISBN 3-89942-308-9 (PDF; 1,9 MB).
Tanja Krombach (Red.): Russlanddeutsche heute. Identität und Integration. Dokumentation des Potsdamer Forums vom 27. Februar 2003 im Alten Rathaus Potsdam (= Potsdamer Forum). Deutsches Kulturforum östliches Europa e. V., Potsdam 2003, ISBN 3-936168-09-1.
Jannis Panagiotidis: Postsowjetische Migration in Deutschland. Eine Einführung. Mit einem Vorwort von Sergey Lagodinsky, Beltz 2020, ISBN 978-3-7799-3913-9.
Ferdinand Stoll: Kasachstandeutsche. Migrationsstrategien Kasachstandeutscher im Übergang von ethnischer zu transnationaler Migration – aus der Sicht von Kasachstan. 2. Auflage. F. Stoll, Kisslegg 2007, ISBN 978-3-00-023812-3 (Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 2003).
Gerd Stricker (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas – Rußland. Siedler, Berlin 1997, ISBN 3-88680-468-2.
Dorothee Wierling (Hrsg.): Heimat finden. Lebenswege von Deutschen, die aus Russland kommen. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2004, ISBN 3-89684-043-6.
Gerhard Wolter: Die Zone der totalen Ruhe. Die Rußlanddeutschen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren. Berichte von Augenzeugen. Übers. aus dem Russischen von Verena Flick. Weber, Augsburg 2003, ISBN 3-9808647-0-7.
↑Sabine Ipsen-Peitzmeier, Markus Kaiser (Hrsg.): Zuhause fremd – Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland. Transcript, Bielefeld 2006, ISBN 3-89942-308-9.
↑Nelli Betke: »Wir haben den Vorteil, dass wir alles mischen können« Zugehörigkeitsfindung russlanddeutscher (Spät-)Aussiedler und ihr Wunsch nach Anerkennung. Dissertation. Philosophische Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, 2022, S.305.
↑Bernd G. Längin: Die Russlanddeutschen unter Doppeladler und Sowjetstern: Städte, Landschaften und Menschen auf alten Fotos. Weltbild Verlag, Augsburg 1991, ISBN 3-89350-107-X, S.49.
↑Joachim Born, Sylvia Dickgießer: Deutschsprachige Minderheiten: Ein Überblick über den Stand der Forschung für 27 Länder. Hrsg.: Institut für deutsche Sprache im Auftrag des Auswärtigen Amtes. Mannheim 1989, ISBN 3-922641-39-3, S.185.
↑Vera Mattock: Rückwanderung von (Spät-)Aussiedlern nach Russland – Annäherung an ein schwer fassbares Phänomen. In: Zuhause? Fremd? – Migrations- und Beheimatungsstrategien zwischen Deutschland und Eurasien. Hrsg.: Markus Kaiser, Michael Schönhuth, Bielefeld, 2015, transcript Verlag, 2015, https://doi.org/10.1515/transcript.9783839429266.171, S. 176.