Die estnische Parlamentswahl 1923 fand vom 5. bis 7. Mai statt. Es waren die Wahlen zur zweiten Legislaturperiode des estnischen Parlaments (Riigikogu) nach Verabschiedung der estnischen Verfassung von 1920.
Die Wahlen 1923 fanden als vorgezogene Parlamentswahl statt. In einem Referendum, das vom 17. bis 19. Februar 1923 stattgefunden hatte, hatte das Volk mit einer Mehrheit von 71,9 % ein Gesetz zur Einführung von Religionsunterricht in den Schulen angenommen. Der Riigikogu hatte das Gesetz zuvor abgelehnt. Da das Volk dem Riigikogu damit das Misstrauen ausgesprochen hatte, mussten nach § 32 der Verfassung spätestens 75 Tage nach der erfolgreichen Volksabstimmung neue Parlamentswahlen stattfinden.
Wahlverlauf
Die 100 Abgeordneten wurden nach dem Grundsatz der Verhältniswahl für eine Legislaturperiode von drei Jahren gewählt. Die Parteien stellten für die Wahl Listen für die zehn Wahlkreise auf. Dieselben Kandidaten konnten in mehreren Wahlkreisen kandidieren. Die Sitzzuteilung erfolgte nach dem D’Hondt-Verfahren.
Bei der Parlamentswahl 1923 stellten sich nicht weniger als 26 Parteien und Gruppierungen zur Wahl. Streit gab es um die Zulassung einzelner estnischer Kommunisten auf den Namenslisten. Zahlreiche kommunistische Kandidaten wurden nicht zugelassen, da sie in der Sowjetunion lebten.
Nach den Wahlen wurden 2.367 Stimmen für die Estnische Volkspartei(Eesti Rahvaerakond) annulliert, da sie nicht den Vorgaben des Wahlgesetzes entsprachen.
Wahlergebnis
Die Parlamentswahl brachte das zersplittertste estnische Parlament der Zwischenkriegszeit. Insgesamt vierzehn Parteien und Gruppierungen schafften den Einzug in den Riigikogu. Eine Sperrklausel gab es damals noch nicht. Sie wurde erst für die Wahlen 1926 eingeführt.
Die Wahlen 1923 stärkten das rechte Parteienspektrum. Der Bund der Landwirte(Põllumeeste Kogud) konnte seinen bei der Parlamentswahl 1920 erzielten Wahlerfolg festigen, zwei weitere Mandate hinzugewinnen und stärkste Partei werden.
Die bislang stärkste Fraktion, die Estnische Arbeitspartei(Eesti Tööerakond) unter Otto Strandman, verlor hingegen dramatisch und büßte zehn Sitze ein.
Auch die Linkssozialisten büßten sechs ihrer bislang elf Sitze ein und kamen lediglich auf fünf Mandate. Dies führte 1925 zu einer Vereinigung der Linkssozialisten mit der estnischen Sozialdemokratie zur Estnischen Sozialistischen Arbeiterpartei(Eesti Sotsialistlik Tööliste Partei). Die Verluste waren vor allem dem Stimmenzuwachs der estnischen Kommunisten geschuldet. Diese traten bei der Parlamentswahl 1923 unter dem Namen Gemeinsame Front des arbeitenden Volkes(Töörahva Ühine Väerind) an und konnten ihre Mandatszahl von bislang fünf Sitzen verdoppeln. Die „Gemeinsame Front“ war eine Tarnplattform der im Untergrund agierenden Kommunistischen Partei Estlands.[1]
Auch die Christliche Volkspartei(Kristlik Rahvaerakond) konnte ihr Ergebnis von 1920 halten und etablierte sich als einflussreicher Faktor in der estnischen Parteienlandschaft der 1920er Jahre.
Amtliches Endergebnis
Anzahl der Wahlberechtigten: 688.675 (ohne Armeeangehörige)
In das Wahlregister eingetragene Personen: 702.542 (mit Armeeangehörigen)
Maarahva Partei (Võru-Valga-Põlvamaa) („Landvolkpartei aus Võru-Valga-Põlvamaa“): 0,1 %
Asunikud ja riigirentnikud (Saaremaa) („Siedler und Staatspächter aus Saaremaa“): 0,1 %
Maarahva Partei (Harjumaa) („Landvolkpartei aus Harjumaa“): 0,0 %
Isamaalaste Partei („Partei der Patrioten“): 0,0 %
Maarahva Partei (Tallinn) („Landvolkpartei aus Tallinn“): 0,0 %
Regierungsbildung
Am 30. Mai beendete der Riigikogu seine erste Legislaturperiode.[4] Einen Tag später begann die Legislaturperiode des neuen Parlaments. Am 7. Juni kam das neue Parlament zu seiner ersten Plenarsitzung zusammen. Es wählte Jaan Tõnisson zum Parlamentspräsidenten.