Nach der italienischen Kriegserklärung an Frankreich am 10. Juni 1940 musste Père Marie-Benoît Italien verlassen. Er fand Zuflucht im Kapuzinerkloster in Marseille, einer Stadt, in der Tausende von den Nationalsozialisten Gejagte, darunter viele Juden, zusammenströmten. In seinen Predigten warb Père Marie-Benoît um Mitgefühl für die Flüchtlinge.[7] Das ermutigte viele von ihnen, sich mit der Bitte um Hilfe an ihn zu wenden. Père Marie-Benoît baute mit Pfarrangehörigen und Bekannten ein Netzwerk auf, das Flüchtlinge beherbergte, ihnen „neue Papiere“ (Taufscheine und gefälschte Pässe) verschaffte und sie außer Landes brachte.[8] Dabei arbeitete er eng mit Joseph Bass zusammen, einem 1908 in Grodno geborenen jüdischen Rechtsanwalt, der seit 1934 Flüchtlinge in Paris vertreten und beraten hatte.[9] Ihn lernte Père Marie-Benoît im Sommer 1942 im Konvent der Sœurs de Notre Dame de Sion in Marseille kennen.[10] Père Marie-Benoît suchte auch Guido Lospinoso (1885–1973) auf, den Mussolini im März 1943 als Kommissar für jüdische Angelegenheiten in der italienisch besetzten Zone in Südostfrankreich (mit Sitz in Nizza) eingesetzt hatte. Diese Begegnung trug – zusammen mit der Fürsprache von Angelo Donati – dazu bei, dass Lospinoso sich entschloss, die Juden, die sich in die italienisch besetzte Zone geflüchtet hatten, nicht auszuliefern.[11]
Durch Denunziationen war die Gestapo auf seine Spur gekommen. Doch Père Marie-Benoît war bis dahin allen Fallen entkommen, die die Gestapo ihm gestellt hatte. Gleichwohl entsandte sein Ordensoberer ihn im Juni 1943 sicherheitshalber nach Rom. Am 16. Juli 1943 legte Père Marie-Benoît Papst Pius XII. bei einer Audienz den Plan vor, den Donati zur Rettung der Juden aus der italienisch besetzten Zone in Südostfrankreich ausgearbeitet hatte.[12] Doch der auf den Waffenstillstand von Cassibile vom 3. September 1943 folgende Einmarsch der Wehrmacht in Italien am 8. September 1943 verhinderte die Verwirklichung des Rettungsplanes.[13]
Damals lernte Père Marie-Benoît Settimio Sorani (1899–1982) kennen, den Leiter der Delegazione per l'Assistenza degli Emigranti Ebrei (DELASEM), eines Hilfs- und Rettungswerkes für Juden in Italien.[14] Père Marie-Benoît, Settimio Sorani, der aus Wien geflohene jüdische Rechtsanwalt Stefan Schwamm (* 1910), der polnische Kommunist Aron Kasztersztein und andere brachten Juden in dazu angemieteten Wohnungen, in Pensionen und in Klöstern unter. Als die jüdischen Mithelfer untertauchen mussten, fiel Père Marie-Benoît die Leitung der Aktion zu.[15] Zur Zentrale der Aktion wurde das Kapuzinerkloster in der via Sicilia 159.[16] „Padre Benedetto“, wie er in Rom hieß, ging, wieder unter hohem persönlichen Risiko, von Kloster zu Kloster, um die Hausoberen zu bewegen, Juden zu verstecken und noch mehr Juden zu verstecken. Prälat Angelo Dell’Acqua vom vatikanischen Staatssekretariat notierte am 20. November 1943: „Ich habe Père Benoît Marie <sic!> mehrmals ermahnt (und beim letzten Mal sehr deutlich) in seiner Sorge um die Juden mehr Vorsicht walten zu lassen. … Unglücklicherweise scheint er auf den bescheidenen Rat, den man ihm erteilt, nicht hören zu wollen.“[17] So war es – und so wurden mindestens 2500 Juden gerettet,[18] nach anderen Quellen sogar 4000.[19] Am 4. Juni 1944 wurde Rom von alliierten Truppen befreit. Als die überlebenden Juden vor einer verschlossenen Synagoge zusammenströmten, trat Padre Benedetto hinzu und schloss auf. Denn er war es, der den Schlüssel bewahrt hatte.[20]
Von der Nachkriegszeit zum Konzil
Nach dem Krieg setzte sich Père Marie-Benoît unermüdlich für die Überwindung antijüdischer Vorurteile und Stereotypen unter Katholiken ein. Er war einer der Vertreter der katholischen Kirche bei der Internationalen Konferenz der Christen und Juden vom 30. Juli bis zum 5. August 1947 in Seelisberg (Schweiz). Bei seinem Bemühen um den Beginn eines jüdisch-christlichen Dialog arbeitete er unter anderem mit Edmond Fleg und Jules Isaac zusammen. Seine Vorarbeiten gingen in den das Verhältnis zum Judentum betreffenden vierten Teil der „Erklärung über das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen“ Nostra Aetate ein, die vom Zweiten Vatikanischen Konzil am 28. Oktober 1965 beschlossen wurde. Auf einer Pilgerfahrt ins Heilige Land wurde er von Vertretern des Staates Israel mit hohen Ehren empfangen.
Ab 1953 unterrichtete Père Marie-Benoît am Päpstlichen Äthiopischen Kolleg in Rom, danach war er kurzzeitig mit Aufgaben in der Leitung der OrdensprovinzFoggia betraut. 1956 kehrte er in sein Heimatland zurück. Nach einer Station in Tours wurde er zum Guardian des großen Kapuzinerklosters in Paris bestellt.
Père Marie-Benoît starb im Alter von 94 Jahre im Kreis seiner Familie in Angers.[21]
Susan Zuccotti: Père Marie-Benoît and Jewish rescue: how a French priest together with Jewish friends saved thousands during the Holocaust. Indiana University Press, Bloomington 2013, ISBN 978-0-253-00853-4.
Paul R. Bartrop: Resisting the Holocaust. Upstanders, partisans, and survivors. ABC-CLIO, Santa Barbara 2016, ISBN 978-1-61069-878-8, S. 204–206: Père Marie-Benoît (1895–1990).
↑Susan Zuccotti: Père Marie-Benoît and Jewish rescue: how a French priest together with Jewish friends saved thousands during the Holocaust. Indiana University Press, Bloomington 2013, S. 21.
↑Susan Zuccotti: Père Marie-Benoît and Jewish rescue: how a French priest together with Jewish friends saved thousands during the Holocaust. Indiana University Press, Bloomington 2013, S. 23.
↑Susan Zuccotti: Père Marie-Benoît and Joseph Bass: The Rescue of Jews in Marseille and Nice, 1940–1943. In: French Politics, Culture & Society, Jg. 30 (2012), Nr. 2, S. 53–65, hier S. 55.
↑Susan Zuccotti: Père Marie-Benoît and Joseph Bass: The Rescue of Jews in Marseille and Nice, 1940–1943. In: French Politics, Culture & Society, Jg. 30 (2012), Nr. 2, S. 53–65, hier S. 56.
↑Brian Fleming: Heroes in the shadows. Humanitarian action and courage in the Second World War. Amberley Publishing, Gloucestershire 2019, ISBN 978-1-4456-8732-2, S. 250.
↑Susan Zuccotti: Père Marie-Benoît and Joseph Bass: The Rescue of Jews in Marseille and Nice, 1940–1943. In: French Politics, Culture & Society, Jg. 30 (2012), Nr. 2, S. 53–65, hier S. 57 und 59.
↑Arno Lustiger: Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit. Wallstein-Verlag, Göttingen 2011, ISBN 978-3-8353-0990-6, S. 200.
↑Susan Zuccotti: Père Marie-Benoît and Joseph Bass: The Rescue of Jews in Marseille and Nice, 1940–1943. In: French Politics, Culture & Society, Jg. 30 (2012), Nr. 2, S. 53–65, hier S. 60.
↑Frauke Wildvang: Der Feind von nebenan. Judenverfolgung im faschistischen Italien 1936–1944. SH-Verlag, Köln 2008, ISBN 978-3-89498-191-4, S. 268.
↑Settimio Sorani: L’assistenza ai profughi ebrei in Italia (1933–1941). Contributo alla storia della Delasem. Carucci, Rom 1983, ISBN 88-85027-99-7, S. 150–151.
↑Susan Zuccotti: Père Marie-Benoît and Joseph Bass: The Rescue of Jews in Marseille and Nice, 1940–1943. In: French Politics, Culture & Society, Jg. 30 (2012), Nr. 2, S. 53–65, hier S. 61–62.